Willi Dickhut
Unterschied zwischen »Rezession« und Wirtschaftskrise
Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1975
7.6.75
Liebe Genossen!
Bei der 2. Lektion der Schwerpunktschulung über den Revolutionären Weg 13/14 ist in unserer Schulungsgruppe kritisiert worden, daß im Revolutionären Weg 14 nicht genau beschrieben wird, welches die Unterscheidungsmerkmale einer wirklichen Wirtschaftskrise im Unterschied zu einer normalen Depression (Konjunkturflaute, »Rezession«) sind. Wir haben deshalb zur Klärung dieser Frage die Broschüre: »Die gegenwärtige Wirtschaftslage und die proletarische Taktik« herangezogen, wo die Tendenzen der zwei Wirtschaftsphasen »Hochkonjunktur« und »Krise« gegenübergestellt werden. Allerdings haben wir hier auch keine exakte Abgrenzung einer Wirtschaftskrise von einer normalen Depression oder »Rezession« gefunden, zumal Ihr dazu ausführt: »Diese Tendenzen muß man dialektisch sehen, weil nicht in allen Wirtschaftszweigen und Betrieben diese Tendenzen gleichermaßen auftraten und Übergänge zwischen ihnen vorhanden sind. Aber sie geben die allgemeine Richtung an.« Wo spricht man aber bei dieser »allgemeinen Richtung« noch von Konjunkturflaute, wo schon von einer Wirtschaftskrise?
Zunächst halten wir die im Revolutionären Weg 13/14 getroffene Unterscheidung zwischen einer wirklichen Wirtschaftskrise und periodischen Konjunkturzyklen für richtig. Der KBW lehnt diese Unterscheidung in seiner Kritik am Revolutionären Weg 13/14 ja ab und wirft dem KABD einen »sehr exklusiven Krisenbegriff« vor. Allerdings ist hier der KBW selbst »exklusiv«, indem er sich vor den marxistisch-leninistischen Klassikern verschließt, die unseres Erachtens diese Unterscheidung zwischen normaler Depression und wirklicher Krise der Wirtschaft auch getroffen haben, so zum Beispiel Karl Marx im »18. Brumaire«, wo er für das Jahr 1851 in Frankreich von »einer Art von kleiner Handelskrisis« spricht und dann eindeutig ausführt: »Von diesen besonderen Umständen abgesehn, war die scheinbare Krise des Jahres 1851 nichts anders als der Halt, den Überproduktion und Überspekulation jedesmal in der Beschreibung des industriellen Kreislaufs macht, bevor sie alle ihre Kraftmittel zusammenrafft, um fieberhaft den letzten Kreisabschnitt zu durchjagen und bei ihrem Ausgangspunkt, der allgemeinen Handelskrise, wieder anzulangen.« (Hervorhebung im Text; zitiert nach Marx/Engels Ausgewählte Werke Bd. l, S. 296) Auch Stalin macht unseres Erachtens eine Unterscheidung, wenn er im Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag 1934 im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise zu diesem Zeitpunkt das Argument von einem »Übergang … von dem Tiefpunkt der industriellen Krise zu einer Depression« erwägt und von einer »gewöhnlichen Depression« spricht. Daraus geht hervor, daß die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung nie geradlinig verläuft, sondern sich in Konjunkturzyklen, die auch in der Phase der relativen ökonomischen Stabilisierung vorhanden sind, mit Hochkonjunktur, Flaute, schwankender Stagnation bewegt, die allerdings durch die Maßnahmen des Monopolkapitals zwangsläufig zu einer wirklichen Wirtschaftskrise führen werden.
Die Beschreibung der Wirtschaftskrise von 1929 kann das Bild einer wirklichen Wirtschaftskrise im Unterschied zu einer normalen Depression auch nicht befriedigend aufzeigen, da – wie Ihr selbst schreibt – »nicht mit einer Wirtschaftskrise im Ausmaß von 1929–32 gerechnet werden kann« und auch Stalin auf dem XVII. Parteitag sagte, daß sich diese Krise »von allen analogen Krisen unter anderem dadurch unterscheidet, daß sie die andauernde und langwierigste Krise« ist. Eine kommende Wirtschaftskrise, auf die sich die Arbeiterklasse vorbereiten muß, ist also wohl denkbar, ohne in Vorboten und Verlauf die Krise von 1929 zu imitieren. Wir können also nicht einfach sagen, eine wirkliche Wirtschaftskrise ist dann da, wenn die Situation wie 1929 aussieht. Aber was macht die wirkliche Krise aus?
Hier haben wir in unserer Schulungssitzung herausarbeiten können, daß eine Wirtschaftskrise eine Überproduktionskrise ist, die von der massenhaften Zerstörung der Produktivkräfte begleitet wird (Engels in: »Von der Utopie zur Wissenschaft«, das Zitat, das auch auf S. 26 im Revolutionären Weg 14 steht; »Kommunistisches Manifest«) und zyklisch auftritt. Das unterscheidet sie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus, wie Ihr im Revolutionären Weg 14 ausführt und die Rote Fahne 12/75 noch einmal darlegt. Außerdem grenzt sich eine tatsächliche Wirtschaftskrise durch ihren die ganze kapitalistische Wirtschaft umfassenden Charakter von Strukturkrisen in einzelnen Branchen deutlich ab. Im Imperialismus heißt dabei »die ganze Volkswirtschaft umfassender Charakter« in erster Linie, den Blick auf die quantitativ und qualitativ die Ökonomie und Politik beherrschenden Monopole zu lenken – ihre Entwicklung ist unseres Erachtens auch entscheidend dafür, ob wir von einer Krise tatsächlich sprechen können oder nicht, wie gegenwärtig, wo die Monopole keineswegs mit ihrer »Profitmacherei ins Stocken« geraten sind. Lenin hat ausdrücklich darauf hingewiesen: »Die Grundfragen können nur vom Standpunkt des Imperialismus betrachtet werden. Es gibt keine bedeutende Frage der Innen- und Außenpolitik, die anders als vom Standpunkt dieser Tendenz entschieden werden könnte.« (VIII. Parteitag der KPR(B), Lenin Werke Bd. 29, S. 154) Das ist auch dem KBW ins Stammbuch zu schreiben, der ja immer vom Kapitalismus im allgemeinen spricht und seine Krisentheorie gerade mit dem Zusammenbruch von Kleinbetrieben zu beweisen sucht.
Wir wissen also, daß ein Unterschied zwischen normaler Depression und einer Wirtschaftskrise existiert, wir wissen über die allgemeine Richtung der Wirtschaftskrise, wissen, daß sie zyklisch, die ganze kapitalistische Wirtschaft betreffend und eine Überproduktionskrise ist, wir kennen eine besonders tiefe Krise 1929 und danach, und wir wissen, daß die drei Maßnahmen des Monopolkapitals mit Gesetzmäßigkeit zu einer Krise führen werden. Aber wir wissen noch nicht genau, wann und mit welcher genauen Ausformung eine wirtschaftliche Situation wirklich als Krise zu bezeichnen ist. Sicher wird die Sache in verschiedenen historischen Situationen anders liegen, aber bezüglich bestimmter Schwellen volkswirtschaftlicher Indizes, bezüglich der Tiefe der Zerrüttung der kapitalistischen Wirtschaft und der Zerstörung der Produktivkräfte (Arbeitslosigkeit, Konkurse, Produktionsrückgang in starkem Maße, Rückgang der Investitionen, Zerrüttung des Kreditwesens, Krieg) und der Waren und bezüglich der Konsequenzen für Kapital und seine Politik und die Arbeiterklasse und ihre Politik müssen unserer Meinung nach noch weitergehende Ausführungen gemacht werden, um eine Krise genau zu kennen. Denn diese Frage ist nicht eine akademische, sondern ihre genaue Behandlung ist notwendig zur Vorbereitung der Arbeiterklasse und ihrer Vorhut auf die Kämpfe in dieser Krise, was in der Roten Fahne 12 in dem Vorabdruck der KBW-Broschüre ja auch hervorgehoben wird.
Zwei kleinere Kritiken zum Revolutionären Weg 14 sind in unserer Schulungsgruppe zusätzlich geäußert worden: Zum einen kritisieren die Genossen die Aussage über das »Konsumdenken« auf Seite 20, da hier nicht klar herausgehoben wird, daß die Wirkung der Werbung bezüglich der Herstellung eines »Konsum-denkens« bei der Arbeiterklasse nur relativ ist und an die Grenzen ihrer Klassenlage trifft. Zum anderen wird auf Seite 47/48 die Darstellung des Entgegentretens der Gewerkschaft gegen die Krisenpropaganda kritisiert, da wir meinen, daß die Gewerkschaftsführung ganz andere Gedanken hat, wenn sie den Krisenteufel entlarvt. Wir meinen, daß die Gewerkschaftsführung die Absicht hat, die SPD/FDP-Politik gegenüber der Arbeiterklasse so positiv als möglich herauszuputzen und dabei auch gegen Kritik der Opposition der CDU/CSU am »wirtschaftspolitischen Versagen der Regierung« auftritt. Deshalb ist bei der Gewerkschaftsführung die Ablehnung der Krisenpropaganda unserer Meinung nach unmittelbar verbunden mit der Werbung unter der Arbeiterklasse für die Sozialdemokratie und die SPD/FDP-Regierung im besonderen. Wir meinen, daß dies gesagt werden sollte.
Wir hoffen, daß wir Euch vielleicht ein bißchen weiterhelfen konnten, den einen oder anderen Punkt klarer herauszustellen und vor allem in den weiteren Publikationen des KABD zur gegenwärtigen Wirtschaftslage aufzugreifen.
Rot Front!
M.
19.6.75
Lieber Genosse M
Dein Brief vom 7. 6. befaßt sich mit Fragen, die sich aus der Schulung des Revolutionären Wegs 13 und 14 ergaben. Durch die Broschüre »Die ›fortschreitende Krise‹ des KBW« werden Euch einige Argumente mehr gegeben. Ich will versuchen, den Unterschied zwischen »Rezession« und Wirtschaftskrise möglichst kurz und präzise zu formulieren:
Eine Rezession entsteht dann, wenn das Wirtschaftswachstum zurückgeht und sich unmittelbar dem Nullpunkt nähert beziehungsweise ihn erreicht. Das Bruttosozialprodukt erlebt keine Steigerung (oder nur eine unbedeutende). Die im Revolutionären Weg 14, Seite 20 zur Kennzeichnung der Rezession von 1966/67 angegebenen Zahlen, die noch einen Zuwachs des Bruttosozialprodukts nachweisen, ergeben bei Umrechnung auf Preise von 1962 ein Nullwachstum.
Kapitalistische Wirtschaftskrisen sind Überproduktionskrisen, die einen Produktionsrückgang auf einen bereits vor Jahren erreichten Stand zur Folge haben. Zum Beispiel sank die industrielle Gesamtproduktion in Deutschland während der Krisen:
1873 um 6,1 %
1890 um 3,4 %
1907 um 6,5 %
1929–1932 um 40,6 %
Wir haben oben aufgezeigt, daß die drei Maßnahmen des Monopolkapitals – Konzentration des Kapitals, Rationalisierung und Kapitalexport – unweigerlich zur Überproduktionskrise führen müssen und, da die Maßnahmen des Monopolkapitals in allen monopolkapitalistischen Ländern durchgeführt werden, die Wirtschaftskrise weltweiten Charakter haben wird.
Ihr stellt die Frage, wann und in welcher Ausformung eine wirtschaftliche Situation als Krise bezeichnet werden könne. Daß der Ausbruch der Krise nicht mit Tag und Stunde angegeben werden kann, ist klar. Wir hätten in der BRD bereits die Krise, wenn nicht der gesteigerte Export den Rückgang auf dem Binnenmarkt aufgefangen hätte. Der gegenwärtige Zustand der schwankenden Stagnation wird durch zwei entgegenwirkende Erscheinungen gekennzeichnet: Die am Jahresende eingesetzten krisenbremsenden Maßnahmen der Regierung mit aufsteigender Schwankung und Exportrückgang mit absinkender Schwankung. Die Regierungsmaßnahmen wurden zu spät eingesetzt, was auf eine falsche Einschätzung der wirtschaftlichen Situation zurückzuführen war. Man hatte die Ursache der rasch wachsenden Arbeitslosenzahl auf eine Konjunkturschwankung (Krisenpropaganda) zurückgeführt und nicht wie wir als Folge der drei Maßnahmen des Monopolkapitals erkannt. So hatte die Regierung, wie es in früheren Jahren auch üblich war, mit einer unmittelbaren Auswirkung der Konjunkturspritzen gerechnet. Da aber die Ursache diesmal eine andere war, mußte auch die Auswirkung eine andere sein, das heißt, die konjunkturfördernden Maßnahmen wirken mit Verzögerung und kommen zum Teil zu spät.
Inzwischen wirken die von uns aufgezeigten Maßnahmen des Monopolkapitals auf dem Weltmarkt, engen ihn ein und erzeugen einen Exportrückgang, der wiederum einen verschärften Konkurrenzkampf nach sich zieht. Die Wirtschaftskrise wird dann ausbrechen, wenn
a) die Regierungsmaßnahmen nicht die erhoffte Wirkung haben, um den Binnenmarkt wesentlich aufnahmefähiger zu machen,
b) der Rückgang des Exports nicht aufgehalten werden kann,
c) verstärkte Konjunkturspritzen die Mittel rascher erschöpfen lassen bei gleichzeitigem Rückgang der Staatseinnahmen und erhöhten Staatsausgaben,
d) große Teile der Spareinlagen (sie waren als Folge der Krisenpropaganda sprunghaft angewachsen) nicht in die Wirtschaft zurückfließen,
e) wachsende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit die Konsumkraft der Massen weiter einengt.
Wir können also damit rechnen: Die schwankende Stagnation geht zu Ende und mündet in eine Krise. Das bedeutet das Ende der relativen Stabilisierung des Kapitalismus. Gleichzeitig verschärfen sich die Widersprüche des Kapitalismus: die Widersprüche der beiden Supermächte untereinander, die Widersprüche der Supermächte zu anderen imperialistischen Staaten, die Widersprüche zwischen dem Imperialismus und Sozialismus, die Widersprüche zwischen imperialistischen Staaten und Ländern der Dritten Welt.
Durch diese Verschärfung wächst die Kriegsgefahr, weil die Imperialisten im Krieg einen Ausweg aus der Krise suchen.
Neben diesen Widersprüchen wachsen auch die Klassengegensätze, weil die Monopolkapitalisten die Lasten der Krise auf die breiten Massen abwälzen wollen, indem sie die vor Jahren errungene Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen rigoros abbauen. Darauf müssen wir die Arbeiterklasse vorbereiten, damit sie um die Erhaltung der Arbeitsplätze kollektiv den Kampf aufnimmt, jede Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen abwehrt und die 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich erzwingt. Das wird ein schwerer Kampf werden. Dabei ist es notwendig, den werktätigen Massen klarzumachen, daß es nur einen Ausweg gibt: den Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und den Aufbau des Sozialismus.
Rot Front!
Redaktion des Revolutionären Wegs
Willi