Stefan Engel und Achim Czylwick
An einen Genossen wegen der Entwicklung der ZKK
Stefan Engel und Achim Czylwick
An einen Genossen zur Entwicklung der ZKK
Lieber Genosse,
ich bin nun dazu gekommen, mich mit deinem umfangreichen Material zur Entwicklung der Kontrollkommissionen in der UdSSR vor und nach Lenins Tod zu befassen. Das ist wirklich eine sehr wichtige und auch interessante Zusammenstellung von Dokumenten, die einen tieferen Einblick in den Kampf um die Linie bzw. den Kampf zweier Linien um die Entwicklung und den Aufbau der unabhängigen Kontrolle geben.
Die vielen englischen Textstellen machten mir besondere Mühen, mehr als sie rudimentär zu vergegenwärtigen, ist mir auf Grund meiner geringen Sprachkenntnisse nicht gelungen. Ich muss noch schauen, wie sie übersetzt werden, weil es für deren abschließende Bewertung auf eine exakte Übersetzung ankommt.
Dass Du aus dem Material u.a. den Schluss ziehst, der Abbau und das Abrücken von den von Lenin entwickelten Prinzipien wäre schon durch Lenin selbst eingeleitet worden, ist für mich nicht ansatzweise zu erkennen. Hier gilt weiter, was ich Dir dazu schon geschrieben habe.
Was das Material sehr gut zeigt, ist zum einen den Kampf um die Linie des Aufbaus der ZKK durch Lenin und den Übergang zum latenten Linienkampf um die Stellung zur unabhängigen Kontrolle des ZK nach seinem Tod. Ob es um die Stellung zur ZKK auch einen offen geführten Kampf im ZK und zwischen ZKK und ZK gab, ist aus dem Material nicht zu erkennen.
Nach wie vor ist es ein Problem für die Untersuchung der Rolle der ZKK, dass das Material, was wir zur Verfügung haben, über die Arbeit der ZKK spricht, uns aber kein Dokument der Arbeit der ZKK selbst aus dieser Zeit vorliegt.
Für Lenin war der Sozialismus eine Übergangsgesellschaft, in der der Klassenkampf weiterzuführen ist, dass zum Aufbau des Sozialismus die historischen Gesetze zur Lösung der politischen und ökonomischen Fragen zu entdecken und anzuwenden sind.1
Zu den Gedanken, die sich Lenin dazu machte, u.a. in „Staat und Revolution“, gehörten die Gedanken zum Aufbau eines Systems der Kontrolle in Partei und Staat. In der Schrift „Staat und Revolution“ entwickelt er die grundlegende dialektische Methode der Einbeziehung der Massen in die Rechnungsführung und Kontrolle, um über diese Verantwortung ein sozialistisches Bewusstsein zu fördern und zu erreichen. Das war für ihn ein Prozess über Generationen und konnte nur mittels der führenden Rolle der Partei verwirklicht werden. Dies wiederum steht und fällt damit, mit dem kleinbürgerlichen Bürokratismus in den eignen Reihen fertigzuwerden. Dieses Geschwür der alten Gesellschaft, das sich im Sozialismus neu formierte und neue Träger fand, stand für Lenin im antagonistischen Widerspruch zum sozialistischen Aufbau und der Verwirklichung der führenden Rolle der Partei.
Das Prinzip der unabhängigen Kontrolle, das Lenin in dem Zusammenhang entwickelte, dass diese nur durch ein Organ gewährleistet werden kann, das von jeder Form der Leitungs- oder Verwaltungsarbeit entbunden ist, das mit der Autorität des Parteitages agiert und eine Arbeits- und Organisationsform entwickelt, um „Kritiken zu fördern und Fehler zu korrigieren“,2 war ein genialer Gedanke. Es war für Lenin ein Kernstück des zu entwickelnden Systems der Kontrolle mit „sozialistischem Charakter“. Dass diese Erziehungsarbeit der Herausbildung des sozialistischen Bewusstseins dienen muss, hatte er in seiner Schrift zur „Großen Initiative“ herausgearbeitet.
Die Ausrichtung auf die Entwicklung der unabhängigen Kontrolle war die in dem Zusammenhang angewandte dialektische Methode zur Objektivität der Betrachtung in der Behandlung der Widersprüche in der Partei. Die ZKK sollte weder schlichten noch sich auf eine Seite schlagen, sondern unabhängig und „ohne Ansehen der Person“, bei „strengster Korrektheit in allen Angelegenheiten“ agieren, was natürlich die Anwendung und Handhabung der revolutionären Linie einschloss. Dazu muss jede Verstrickung mit Leitungs- und Verwaltungsaufgaben ausgeschlossen werden, was angesichts des Mangels an geeigneten Kadern sehr schwer war und zu bestimmten Kompromissen führte. Darauf komme ich noch zu sprechen.
Ausgehend von diesen prinzipiellen Überlegungen von Lenin geht aus dem von Dir zusammengestellten Material ein Kampf um den Aufbau eines entsprechenden Systems der Kontrolle mit sozialistischem Charakter hervor, der sich in drei Phasen gliedern lässt:
Die Phase des Kampfs um die Entwicklung und um die Arbeitsweise der unabhängigen Kontrolle durch Lenin, bis zum Vorschlag der Zusammenlegung von ZKK und Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI). Die Schrift von Lenin „Lieber weniger, aber besser“ stellt hier eine Art Vermächtnis und Ausrichtung für diesen Kampf dar.
Dann die Phase des latenten Linienkampfs um die Aufgabenstellung der ZKK und der ABI, in der sich eine schleichende Auflösung grundlegender Prinzipien Lenins zur unabhängigen Kontrolle durchsetzte.
Schließlich die Auflösung der unabhängigen ZKK und der ABI und der Übergang zu einer einseitigen Kontrolle von oben.
Zur ersten Phase des Kampfes um die Entwicklung des Systems der Kontrolle durch Lenin:
In dieser ging es um den Aufbau und die Entwicklung einer Kontrolle mit „sozialistischem Charakter“ darum, welche Aufgaben, Mittel und Methoden dafür zu bestimmen sind. Wie Lenin sich das vorstellte, geht u.a. aus der Resolution des X. Parteitags der KPR(B) vom März 1921 „Über die Kontrollkommissionen“ hervor, die Du ja auch zitierst. Aus dem Material geht hervor, dass sich die hier bestimmte Kontrolle auf die richtige Behandlung der Widersprüche bezieht, dass in der Bearbeitung von Beschwerden eine wesentliche Erkenntnisgrundlage für den sozialistischen Aufbau liegt und vor allem deshalb diese von einem unabhängigen Organ untersucht werden müssen, dass die Arbeit der Leitungen zu kontrollieren ist, um sicher zu stellen, dass sie am sozialistischen Ziel arbeiten.
Es sind noch viele andere Elemente zu erkennen, die zur Bestimmung einer Kontrolle mit „sozialistischem Charakter der Kontrolle“ dienen. Dabei steht die Unabhängigkeit dieser Kontrolle von den Parteileitungen und staatlichen Institution im Mittelpunkt. So durften ZK-Mitglieder, die in die Bearbeitung von Beschwerden von der ZKK einbezogen oder zeitweilig kooptiert wurden, nicht mitstimmen, wenn es um ihre unmittelbaren Angelegenheiten oder ehemaligen Verantwortungsbereiche ging.
Dass im Aufbau der Kontrolle mit sozialistischem Charakter und der richtigen Arbeitsweise der ZKK auch experimentiert wurde, hat nichts mit „Versuch und Irrtum“ zu tun oder gar einer Abkehr von den Prinzipien Lenins, wie Du das interpretierst. Dieses Experimentieren bei Festhalten an den Grundlinien zeigt sich in der modifizierten Ausrichtung auf die ABI. Sie sollte zunächst nur eine vorübergehende Einrichtung sein, weil die Kontrolle zu einer Massenbewegung werden sollte. Das konnte angesichts der Umstände nicht verwirklicht werden, so der Vorschlag, die Autorität und Effektivität der ABI mit der Zusammenlegung von ZKK und ABI zu erhöhen. Wir müssen diese Dinge immer im Kontext der grundlegenden Überlegungen Lenins bewerten und nicht aus sich heraus.
Die damalige Herausforderung, eine solche sozialistische Kontrolle nach der Oktoberrevolution zu entwickeln, war enorm. Zum Einen war es überhaupt eine neue Aufgabenstellung in der Geschichte der Menschheit, die bisher noch nicht zur Lösung stand. Zum Zweiten musste das in einer sehr komplizierten historischen Situation angepackt und gemeistert werden. Nach der Oktoberrevolution ging es um komplizierte Übergänge, so von einer vornehmlich militärischen Organisationsform der Partei zu einer demokratischen, oder dass die Übergänge zum sozialpolitischen Aufbau nur mit Hilfe der neuen ökonomischen Politik zu meistern waren und in weiten Teilen des Landes immer noch der Bürgerkrieg tobte, einschließlich der Sanktionen der imperialistischen Länder.
In einer solchen Situation an den Aufbau eines Systems der sozialistischen Kontrolle zu denken, in dessen Mittelpunkt die unabhängige Kontrolle der verantwortlichen Leitungen rückte, offenbart nicht nur den strategischen Weitblick von Lenin, sondern dass in diesem System eines sozialistischen Charakters der Kontrolle, die unabhängige Kontrolle der verantwortlichen Leitungen eine Schlüsselfrage ist und werden wird. Es ging in dieser komplizierte Lage darum, richtige Wege zu finden, um „Kritik zu entfalten und Fehler zu korrigieren“.
So wenig man ein Gebäude ohne die Gesetze der Statik errichten kann, wenn es tragfähig sein soll, so wenig kann es eine Entwicklung eines Systems der Kontrolle geben, ohne Beachtung dessen prinzipieller Seiten. Wie sollten denn z.B. die „ständige Kontrolle über die Arbeit der leitenden Organe der Partei seitens der öffentlichen Meinung der Partei“ vonstatten gehen, ohne dass dies durch die unabhängige Kontrolle gefördert und geschützt wird? Du hast auch in der Geschichte der MLPD dafür ein schlagendes Beispiel, als die ZKK mit ihren Aufrufen zur revolutionären Wachsamkeit gegen das Liquidatorentum 1976 in der Zentralen Leitung des KABD die ganze Partei, ihre „öffentliche Meinung“ als Hauptkraft mobilisiert wurde.
Dass die von Dir zitierten bürgerlichen Historiker das Wesen des Kampfes um den sozialistischen Charakter der Kontrolle und die Bedeutung der Unabhängigkeit der ZKK nicht begreifen oder erkennen, liegt doch auf der Hand. Darum können sie auch nicht ernsthaft zur Beurteilung von Lenins Strategie der unabhängigen Kontrolle ins Feld geführt werden. Sie können von ihrem bürgerlichen Herangehen nur sehen, dass die ZKK sich bei Streitigkeiten für eine Seite entscheiden musste und damit in die Auseinandersetzungen hineingezogen wurde. Die ZKK hat sich überhaupt nicht „für eine Seite“ zu entscheiden. Sie überprüft die Standpunkte von den Grundsätzen der Linie der Partei und nimmt eine eigenständige Bewertung vor. Daher die Aufforderung von Lenin, ohne „Ansehen der Person“ zu agieren. Dieses prinzipielle Herangehen ist in zugespitzten Auseinandersetzungen die einzige Möglichkeit, die Unabhängigkeit zu wahren und durchzusetzen.
Alle von Dir angeführten Zitate von sogenannten Historikern sind darin identisch, dass sie das Wesen der Sache, die Entwicklung und Herausbildung eines Systems der Kontrolle mit sozialistischem Charakter nicht nur nicht begreifen, sondern nicht mal annähernd das Wesen oder die damit zu leistende historische Anforderung erkennen.
In dem Zusammenhang verstehe ich nicht, was dich dazu bewog, völlig unkommentiert und ohne jeden Zweifel die Darstellung von Isaak Deutscher über die ZKK aus seiner Stalin-Biografie wiederzugeben. Diese Darstellung diskreditiert die Gedanken und Prinzipien von Lenin. Er reißt einzelne Aufgaben der ZKK aus dem Zusammenhang, um zu folgern, dass es Lenin darum ging, „Abweichen vom puritanischen Lebensstil“ zu bestrafen und die „Säuberungsaktionen“ erfunden habe, um „Zauderer, Zweifler und Dissidenten“ loszuwerden. So denkt ein Kleinbürger und Antikommunist, in dessen Weltbild die Kontrolle der Konkurrenz dient, der Unterdrückung und Machtausübung.
In der bürgerlichen Ideologie ist die Kontrolle Teil des Systems der Unterdrückung und Überwachung, was der Autor mutwillig nun dem Sozialismus und Lenin unterschieben will, um ihn als Terrorherrschaft zu diskreditieren. Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe gewesen das aufzudecken. Stattdessen schreibst Du:
„Die Dokumente, die ich einsehen konnte, lassen keine schon vor 1920/21 existierenden ,Prinzipien Lenins‘ erkennen, bestätigen eher, dass er während der letzten Jahre seines Lebens aufgrund veränderter Bedingungen mehrfach neue Lösungen vorschlug. Das entspricht durchaus Forderungen, die Marx und Engels im ,Kommunistischen Manifest‘ herausstellten: ,Die Kommunisten … stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.‘ (MEW 4, S. 474)“
Das ist eine völlig willkürliche Interpretation. Der Satz, den Du hier von Marx und Engels zitierst, richtet sich gegen die utopischen Sozialisten mit ihren erdachten Gesellschaftsentwürfen, ist aber keinesfalls ein Appell, ohne prinzipielle Klarheit an neue Aufgaben zu gehen. Ich habe schon oben mit einem Hinweis auf Marx darauf hingewiesen, dass es bei Prinzipien für den sozialistischen Aufbau um das Definieren von historischen Gesetzen geht, die für diese Übergangsgesellschaft gelten. In diesem Fall um die Entwicklung eines Systems der Kontrolle und Selbstkontrolle zur Sicherung der Arbeit auf der proletarischen Grundlage.
Jedenfalls endet diese erste Phase der Herausbildung der unabhängigen Kontrolle mit sozialistischem Charakter, der dazu passenden Entwicklung und Erprobung ihrer Arbeitsweisen und Methoden nach dem Tod von Lenin.
Der Vorschlag der Zusammenlegung von ZKK und ABI und wie er ihn begründet, ist zugleich auch eine Zusammenfassung – oder wenn man so will Vermächtnis, in dem die wesentlichen Prinzipien zur Organisierung der unabhängigen Kontrolle dargelegt sind. Das Material, das Du dazu zusammengestellt hast, zeigt deutlich auf, dass es Lenin um die Stärkung der unabhängigen Kontrolle ging, indem er beide Organe vereinte. Dazu habe ich Dir aber schon geschrieben.
Du schreibst dann über diese Phase:
„Eine regelmäßige Kontrolle der Art, wie Lenin sie sich zeitweise vorgestellt hatte, kam wohl nicht zustande. Was Lenin entwarf (und was im RW 24, 168–171, geschildert ist, als handelte es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sowjetunion), konnte so nicht verwirklicht werden (vgl. RW 3, 178/179). Es ist schwer zu verstehen, weshalb sich die MLPD so stark auf Lenins Notizen und Vorschläge stützte und über Beschlüsse der Parteitage hinwegsah, an die sich auch der Vorsitzende von Partei und Regierung der Sowjetrepublik zu halten hatte.“
Dass wir uns auch „auf Lenins Notizen und Vorschläge“ stützen, ist eigentlich überhaupt nicht schwer zu verstehen. Die bürokratische Entartung und der Verrat am Sozialismus, der Verzicht auf die ideologisch-politische Arbeit und die Mobilisierung der Massen, die ganze revisionistische Entartung, mit der die KPdSU letztlich nicht fertig wurde, verlangte auf die von Lenin entwickelten Prinzipien der unabhängigen Kontrolle zurückzugehen, diese gründlich zu studieren, um das Wesen der unabhängigen Kontrolle und ihrer Funktion herauszuarbeiten und zu erkennen, was dessen Aufhebung für verheerende Folgen haben kann. Wir haben seither an dieser Frage ständig geforscht und mit der Aufarbeitung der Krise der ZKK 2005 einen weiteren qualitativen Sprung zum System der Selbstkontrolle der Partei gemacht. Das alles hat seinen Ausgangspunkt bei den Gedanken von Lenin.
Zur Phase des schleichenden Abbaus der unabhängigen Kontrolle gegenüber den führenden Gremien und Leitungen, besonders dem ZK:
Das zusammengestellte Material zeigt deutlich auf, wie das organisiert wurde, bzw. erreicht werden konnte.
Vorweg möchte ich sagen, dass ich an einer Intrige gegen die Veröffentlichung des Artikels von Lenin „Lieber weniger, aber besser“ aus dem ZK und der ZKK heraus meine Zweifel habe. Es klingt doch sehr abenteuerlich, nur für Lenin eine Zeitung mit dem Artikel zu drucken, um ihn zu täuschen, in der regulären Ausgabe diesen aber nicht zu veröffentlichen. Ich bin nicht dafür, dass wir so was übernehmen oder gar verbreiten, zumal der Artikel tatsächlich erschienen ist.
Eine berechtigte Frage ist, warum Stalin in seinem hervorragenden Artikel „Über die Grundlagen des Leninismus“, der ja nach dem Tod von Lenin erschien, mit keinem einzigen Wort auf die ZKK, auf die Ausrichtung und Gedanken zur Entwicklung eines Systems der Kontrolle mit sozialistischem Charakter einging. Dass er die Gedanken von Lenin zur Entwicklung eines Systems der sozialistischen Kontrolle, als Einheit von unabhängiger Kontrolle von oben mit der Kontrolle von unten durch die Einbeziehung der Massen, nicht als Teil des Leninismus betrachtete, war ein prinzipieller Fehler. Die Ausrichtung zum Kampf gegen die Bürokratie und gegen die Gefahr der Restauration des Kapitalismus gehört zum Leninismus. Das hat die Tragik des XX. Parteitags der KPdSU 1956 auf grausame Weise bestätigt. Das vom Leninismus zu lösen, hatte nicht nur für die UdSSR Auswirkungen, sondern sicher auch für die revolutionäre Weltbewegung.
Auch in der 1938 herausgegebenen „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) – Kurzer Lehrgang“ wird mit keinem Wort auf die von Lenin angestrebte Bedeutung der ZKK eingegangen und damit die Verdrängung dieser Seite seines Vermächtnisses fortgesetzt.
In den von Dir dokumentierten Beschlüssen über die Aufgaben der ZKK und die ABI durch die Parteitage zwischen 1923 und 1934 zeigt sich, wie das Vermächtnis Lenins zur Aufgabenstellung und dem Charakter des Systems der unabhängigen Kontrolle verdrängt wurde. Es gibt offenbar auch keinen theoretischen Artikel, der sich mit der Weiterentwicklung dessen befasst, was Lenin hier ausgerichtet hat.
Die statutengemäße Bestimmung der unabhängigen Kontrolle blieb erhalten, wie die Wahl der ZKK durch den Parteitag und ihr Rechenschaftsbericht ihm gegenüber. Allerdings wurden die Aufgaben der ZKK durch die Resolutionen der Parteitage auf die Kontrolle der Aneignung und Umsetzung der Beschlüsse fokussiert, ohne die Kontrolle der Anleitung und Befähigung durch die Leitungen für die Aneignung und Umsetzung der Beschlüsse einzubeziehen. Das trennte eine dialektische Einheit und blendete somit die Kontrolle über die Arbeit der Leitungen und ihrer Mitglieder aus.
Für diese Tendenz, die Kontrolle der Leitungen auszublenden und die ZKK über diese Beschlüsse mit anderen Aufgaben zu belasten, ist die 1923 beschlossene Aufgabenstellung der ZKK und der ABI charakteristisch: Die ZKK und die ABI sollten die „Reorganisierung des Staatsapparates auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Arbeits- und Verwaltungsorganisation“ vorantreiben.
Diese Reorganisation war eine wesentliche Aufgabe im sozialistischen Aufbau und natürlich mussten die ZKK und die ABI sich damit befassen. Das aber nur in Bezug auf die dazu von den Leitungen geleistete Arbeit, oder eben nicht geleistete Arbeit. Für die Kontrollorgane ging es im Sinne der Ausrichtung von Lenin, „Kritik zu entfalten und Fehler zu korrigieren“ darum, wie dieser Prozess der Umgestaltung von den Leitungen, besonders dem ZK geführt wurde. Es ging sicher auch darum, Beurteilungen über das Verhalten einzelner führender Kader zu erstellen, ob und wie diese Reorganisation als Kampf zur Überwindung der Bürokratie geführt wurde, und darauf entsprechend einzuwirken, bzw. die Kritiken der Massen an den Zuständen zu schützen.
Die Intention des Beschlusses war aber eine ganz andere, wenn es ebenfalls 1923 heißt, dass die hier zu leistende Arbeit der Kontrollorgane auf Säuberungsaktionen auszurichten ist und dazu mit den Massen zusammenzuarbeiten ist. So heißt es in der Resolution „Über den Parteiaufbau“, woraus du zitierst, u.a.: „Grundlegende Vorbedingung für den Erfolg der Kontrollkommissionen und der Arbeiter- und Bauerninspektion bei der Verbesserung und Säuberung des Staatsapparates ist ihre Unterstützung durch die ganze Partei und ihre Organisationen, die Einbeziehung der werktätigen Massen selbst in diese Arbeit.“
Natürlich war die Überprüfung der Aufnahmepolitik durch die Leitungen eine wichtige Seite im Kampf um die Einheit und Festigkeit der Partei. Die Kontrolle darüber musste sich darauf beziehen, von was die Aufnahmepolitik der Leitungen bestimmt war, daran dann eine Erziehung zur revolutionären Wachsamkeit durchzuführen. Die Ausrichtung auf Säuberung war tatsächlich notwendig, weil viele kleinbürgerliche, nichtsozialistische Elemente in die Partei eingedrungen waren und nun mit dem Parteibuch in der Tasche bürgerliche Inhalte und Methoden verbreiten konnten. Die Veröffentlichungen der Namen von Ausgeschlossen in den Parteizeitungen diente der Publizität gegenüber den Massen, aber auch zur Abschreckung gegenüber kleinbürgerlichen Elementen. Die durchaus notwendige Publizität über ausgeschlossene Funktionäre musste ideologisch-politisch begründet werden. So waren die Ausschlüsse der ZKK des KABD gegen die Liquidatoren in den Leitungen immer begründet und diente diese Publizität der revolutionären Wachsamkeit der ganzen Partei. Wie die Dokumente zeigen, gehörte es zur Ausgabenstellung der ZKK, mit dem Geheimdienst GPU bei den Säuberungen zusammenzuarbeiten. Der Beschluss des XII. Parteitags sagt, dass die ZKK und die ABI bei der Säuberung der Partei „ihrer Arbeit auf diesem Gebiet mit der entsprechenden Tätigkeit [der] GPU und des NKJ [Volkskommissariat für Justiz] (koordinieren soll), durch Einberufung periodischer Beratungen und durch andere Mittel, Durchführung von Maßnahmen, durch welche diejenigen Leiter von Staatsorganen und Betrieben zur Verantwortung gezogen und auch abgesetzt werden, die nicht für die Verbesserung und Säuberung ihrer Apparate Sorge tragen.“
Geheimdienste sind auch im Sozialismus eine Notwendigkeit und Teil der Diktatur des Proletariats. Sie sind Instrumente in einem von der Bourgeoisie verdeckt geführten Krieg gegen den Sozialismus und haben die Aufgabe, diesen Krieg aufzudecken, so dass er offen vor den Augen der Massen und zu ihrer Erziehung und Wachsamkeit geführt werden kann. Diese Instrumente einer besonderen Kriegsführung haben nur diesen Zweck, sie müssen dabei dem System der Kontrolle untergeordnet werden, denn ihr verdeckt arbeitender bürokratischer Apparat braucht selbst eine besondere Kontrolle. Deshalb muss gerade die ZKK vollen Zugriff für eine unabhängige Kontrolle auf diese Dienste haben. Die Ausrichtung auf die Zusammenarbeit der ZKK mit dem Geheimdienst behandelt dagegen die GPU als gleichwertiges Organ, das durch die ZKK nicht kontrolliert werden müsse, sondern im Gegenteil die ZKK letztlich zu einem Anhängsel des GPU machte. Das musste über kurz oder lang den ganzen Charakter der sozialistischen Kontrolle verändern.
Die Ausrichtung auf die Kooperation mit den Geheimdiensten macht den Kampf gegen die Bürokratie und bürokratische Methoden zu einer Art Polizeiaufgabe. Der größte Schutz für den sozialistischen Aufbau ist aber die Initiative der Massen unter Führung der Partei, ist die Entwicklung und Förderung des sozialistischen Bewusstseins. Das ist dann auch die Atmosphäre, in der Feinde des Sozialismus aufgedeckt und zur Rechenschaft gezogen werden. Keine Arbeit von Geheimdiensten kann das ersetzen, auch wenn sie dem dienlich sein können. Hier aber wurden die Prioritäten verändert, wurde die Mobilisierung der Massen, die Entfaltung ihrer Initiative im Kampf gegen Bürokraten zum Anhängsel der GPU, die selbst stark vom kleinbürgerlichen Bürokratismus erfasst war.
Die von Dir dokumentierten Resolutionen über die Aufgabe der ZKK haben die Höherentwicklung und Festigung der unabhängigen Kontrolle der Leitungen und des ZK unterlaufen. Der Fehler war nicht, dass der Parteitag der ZKK Aufgaben stellte, sondern dass er der ZKK solche Aufgaben stellte, die von der Kontrolle der verantwortlichen Leitungen in Zusammenarbeit mit den Massen wegführten.
Die Qualifizierung vom schleichenden Abbau der Unabhängigkeit der ZKK hatte Willi Dickhut entwickelt und damit begründet, dass der ZKK allmählich ihre Unabhängigkeit genommen wurde. Das von Dir zusammengestellte Material zeigt nur auf, über welchen Weg und mit welchen Methoden das erfolgte. Die schleichende Aufhebung der unabhängigen Kontrolle der Leitungen und besonders des ZK, die zunächst als Form erhalten blieb, wurde über die Veränderung im Inhalt der Aufträge erreicht. Es war ein Prozess der Umgestaltung der Form über den Inhalt der Aufgabenstellung.
Dass es in der Kontrollkommission gegen diese schleichende Auflösung eine Auseinandersetzung, einen Linienkampf gegeben haben muss, ergibt sich indirekt aus dem, was Du von Fjodor Gladkov über sein Verständnis von ZKK-Arbeit zitierst:
„Die Kontrollkommission und die Arbeiter- und Bauerninspektion sind ja dem Wesen nach gar keine Straforgane, sie sind keine Guillotinen: sie sind vor allem Erziehungsorgane. Bei uns hat man sich daran gewöhnt, mit Zittern und Zagen an sie zu denken, und gewöhnlich droht einer dem andern: ,Wart mal, die Kontrollkommission wird dich schon in die Zange nehmen.‘ Das ist nicht richtig. Man muß das ganze System der Kontrolle so organisieren, daß jeder Parteiarbeiter, jeder Funktionär in schweren Augenblicken ohne Hemmung, mit Freude, an die Kontrollkommission wie an seinen besten Freund denkt, dem man alles anvertrauen kann. Bei uns aber macht man oft Winkelzüge, verwischt die Spuren, versteckt sich und begeht Gemeinheiten wie ein Verbrecher! Die kommunistischen Gefühle sind wenig entwickelt, das ist eben das Schlimme. Die Kontrollkommission ist aber gerade dazu berufen, diese Gefühle zu kräftigen und großzuziehen.“
Die dritte Phase, die Aufhebung der unabhängigen Kontrolle und die Aufhebung von Prinzipien zur Sicherung des sozialistischen Charakters der Kontrolle:
Die Auflösung der ZKK 1934 bedeutete den eigentlichen Wendepunkt weg von der unabhängigen Kontrolle. Du stellst richtig fest, dass es schon 1932 auf der 18. Konferenz der KPdSU eine ideologisch-politische Begründung für die Aufhebung der unabhängigen Kontrolle gegeben hat. Hier wurde die Einschätzung getroffen, dass auf dem Land der Kapitalismus endgültig beseitigt sei, weil alle kapitalistischen Elemente liquidiert worden wären und die Situation entstanden sei, in der „die Umwandlung der ganzen werktätigen Bevölkerung des Landes in bewußte und aktive Erbauer der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft“ endgültig eingeleitet worden wäre.
Damit kamen alle Feinde von außen, bzw. wurde angenommen, dass die Partei nur von außen infiltriert wird. Du zitierst dann viel englisches Material zum Thema Säuberungen. Ohne doppelte und dreifache Überprüfung können wir sowas nicht übernehmen. Wir müssen uns an die offiziellen Dokumente halten und können nicht mit kleinbürgerlich-trotzkistischen oder bürgerlichen Deutungen und Interpretationen arbeiten.
Der 17. Parteitag 1934 schaffte die ZKK und die ABI ab. Das wurde mit der Einschätzung begründet, dass die weitere Entwicklung der Volkswirtschaft mit dem neuen Fünfjahresplan diese Kontrollorgane überflüssig machen würde. Wörtlich heißt es: „Die Lösung dieser Aufgaben, die die Verdrängung der letzten Überreste kapitalistischer Elemente aus all ihren alten Positionen mit sich bringt und ihren endgültigen Untergang herbeiführt, führt notwendigerweise zu einer Verschärfung des Klassenkampfes“ (KPdSU-Resolutionen 9, 98). Es ginge angesichts der Lage jetzt nur noch darum, die Durchführung der Beschlüsse zu garantieren: „Um die Kontrolle der Durchführung der Beschlüsse der Partei und der Regierung zu verbessern, schuf der XVII. Parteitag an Stelle der Zentralen Kontrollkommission − Arbeiter- und Bauerninspektion, die in der Zeit seit dem XII. Parteitag ihre Aufgaben bereits erfüllt hatte, die Kommission für Parteikontrolle beim Zentralkomitee der KPdSU(B) und die Kommission für Sowjetkontrolle beim Rat der Volkskommissare der Sowjetunion.“
Ziel dieser Änderung war es ausdrücklich, eine „systematische Kontrolle über die Tätigkeit der örtlichen Organisationen” zu erreichen. Und für diese Aufgabe “fällt die Notwendigkeit weg, die Kommission für Parteikontrolle unmittelbar auf dem Parteitag zu wählen. Die Kommission für Parteikontrolle muß vom Plenum des Zentralkomitees der KPdSU(B) gewählt werden und unter der Leitung und nach den Direktiven des ZK der KPdSU(B) arbeiten.“
Das vom XVII. Parteitag der KPdSU(B) beschlossene neue Statut legte dazu fest, nach welchen Kriterien die weitere „Reinigung“ im Sinne der „Verdrängung der letzten Überreste kapitalistischer Elemente“ in der Partei vollzogen werden sollte. Das war eine durch Formel und Vorgaben ausgerichtete bürokratische Kontrolle. Dass Nikolai Jeschow als Volkskommissar des Innern, und damit der Verantwortliche für den Staatssicherheitsdienst, zugleich Vorsitzender der KPK blieb, passt in dieses Bild. Die ZKK wurde zum Anhängsel der Staatssicherheit.
1937 musste das ZK der KPdSU feststellen, dass es „keine individuelle Behandlung der Parteimitglieder und -funktionäre“ gab und sie „zu Tausenden und Zehntausenden“ aus der Partei ausgeschlossen wurden. 1938 muss weiter festgestellt werden, dass das ZK nicht in der Lage war, eine einheitliche Führung der Partei durchzusetzen: „Die Gebietskomitees, Regionskomitees, die Zentralkomitees der nationalen Kommunistischen Parteien und ihre Leiter versäumen es nicht nur, die parteifeindliche und dem Bolschewismus fremde Praxis beim Ausschluß von Kommunisten aus der Partei zu korrigieren, sondern tragen häufig selbst durch ihre falsche Leitung zu diesem formalen und herzlos bürokratischen Verhältnis zu den Parteimitgliedern bei und schaffen damit einen günstigen Nährboden für Karrieristen und getarnte Parteifeinde.“
Das führte aber bei weitem nicht zu einer Überprüfung der Beschlüsse gegen das System einer unabhängigen Kontrolle.
Lieber Genosse,
um die Ausrichtung Lenins zur Entwicklung eines Systems der unabhängigen Kontrolle mit sozialistischem Charakter durch „Entfaltung der Kritik und die Korrektur von Fehlern“ als sozialistische Entwicklung und Erziehung zu fördern und die kleinbürgerliche Bürokratie zu bekämpfen, gab es einen Linienkampf.
Ausgangspunkt war, diese Gedanken von Lenin nicht als Teil des Leninismus zu definieren, was Ausdruck des Eklektizismus gegenüber seinem Gesamtwerk war. Denn Lenin begründete nicht nur in "Staat und Revolution" oder der "Großen Initiative" den weltanschaulichen Kampf um das sozialistische Bewusstsein, die objektive Wahrheit gegen jeden Subjektivimus zu erforschen und deren objektive Dialektik aufzufinden.
Diesen Eklektizismus übernimmst Du, wenn Du argumentierst, dass das Vorgehen von Lenin in der Entwicklung der Kontrolle mehr als Ausdruck von „Versuch und Irrtum“ angesehen werden muss denn als vom historischen Materialismus abgeleitete Prinzipien. Das unterstellt ihm Pragmatismus als Grundlage seiner Anschauungen. Die Kritik fördern und Fehler zu korrigieren und das mit Hilfe einer unabhängigen Kontrolle, war aber eine Methode, die Objektivität der Betrachtung gegen jeden Subjektivismus in der Behandlung der Probleme und Widersprüche durchzusetzen. Es ist überhaupt nicht möglich, diese Gedanken von Lenin außerhalb seines Gesamtwerkes zu verstehen.
Deine Deutung, den Abbau der Unabhängigkeit der ZKK schon bei Lenin anzusiedeln, nimmt ihn für etwas in die Verantwortung, was er entschieden bekämpft hat, und nimmt zugleich diejenigen aus der Verantwortung, die sich gegen eine unabhängige Kontrolle ihrer Arbeit wehrten.
Der Klassenkampf im Sozialismus ist kompliziert, die Klassen existieren weiter, der Klassenkampf wird strategisch mit dem Ziel zur Aufhebung der Klassen geführt, aber die bürgerliche Ideologie wirkt über tausend Gewohnheiten nicht nur spontan noch eine sehr lange Zeit, sie wird in der Situation des Aufbaus des Sozialismus vom kapitalistischen Umfeld gefördert. Dieser Klassenkampf ist die materielle Grundlage für die Entwicklung der innerparteilichen Widersprüche, wie er Grundlage für die Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft ist. Ohne diese objektive Wahrheit zu akzeptieren, können Ursachen und Wirkungen der Widersprüche und die Art ihrer Behandlung nicht verstanden werden. Der dialektische und historische Materialismus verlangt auf dieser Grundlage zu erforschen, wie er auf immer mehr Gebieten – im Kampf mit dem Idealismus – zur Anwendung kommt.
In der MLPD und seiner Vorläuferorganisation KABD waren die Gedanken Lenins zur Entwicklung der Kontrolle immer Teil des Leninismus. Die MLPD konnte deswegen und in der Verarbeitung aller Erfahrungen über die Entwicklung der innerparteilichen Widersprüche zur Entwicklung des Systems der Selbstkontrolle der Partei auf der Grundlage der Lehre von der Denkweise kommen und damit die dialektische Methode bestimmen, die im Kampf mit der bürgerlichen Ideologie eine überlegene Kraft wird. Alles hängt in der Partei davon ab, ob auf Grundlage der proletarischen Denkweise gearbeitet wird. Das gilt auch für die führende Rolle der Partei im Aufbau des Sozialismus.
So weit von mir zu deinen Materialien.
Mit herzlichem Gruß
Stefan Engel und Achim Czylwick