RW 39
Persönliche Worte zum Buch von Stefan Engel »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur«
Rezension eines Lesers aus Dresden zum Buch von Stefan Engel »Die Krise der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, der Religion und der Kultur«
»Ich schicke voraus: Die vielen positiven veröffentlichten Rezensionen zu eurem Buch haben meine Zustimmung. Es ist ein wertvolles Buch. Die bürgerlichen Wissenschaften mit ihren Methoden werden sehr schön entlarvt. Ebenso die Religionen, ohne ─ was andernorts manchmal geschieht ─ auch die Gläubigen anzugreifen. (Ich sehe mich selbst als gläubig, bzw. als spirituell, aber nicht hinsichtlich der ›großen Religionen‹)
Ich habe mich sehr gefreut, dass es das Buch geben wird, da ich mich selbst intensiv mit ›Kultur im engeren Sinne‹ befasse, und bin dankbar, dass ihr das erarbeitet habt. Es ist unbedingt eine Bereicherung und ich werde speziell Kapitel 3 (›Die Krise der bürgerlichen Kultur‹ Anm. RW-Red) immer wieder in meiner eigenen Arbeit heranziehen.
Das Kapitel zu Beethoven hat mich schon als Nichtfachmann in Sachen Musik sehr beeindruckt, weil ich es nachvollziehen konnte, was darin ausgeführt wird, denn mich faszinieren Beethovens Musikstücke, als Zuhörer schon immer sehr, ohne dass ich genau begründen könnte, warum.
Ich konnte es nachvollziehen, aber nur theoretisch. Die Verbindung zur konkreten Praxis ging mir aus dem Kapitel nicht hervor.
Ich habe inzwischen mit meiner Frau, einer erfahrenen Chorsängerin, das Kapitel nochmals durchgearbeitet; mit ihrer Hilfe konnte ich auch manches, was sie mir ausgehend von den Ausführungen in dem Buch fachfraulich erklärte, en detail nachvollziehen und verstehen, was nur durchs Lesen und ohne ihre Hilfe nicht möglich gewesen wäre. Was wusste ich bisher von den musikalischen Gesetzmäßigkeiten einer Sonate. Ich habe mit dem Buch, aber auch mit ihrer Hilfe eingehend verstehen können, warum mich Beethovens Musik fasziniert. In dem Buch wird das theoretisch erklärt, mehr kann das Buch nicht leisten; meine Frau erklärte es mir an konkreten Musikbeispielen, nicht nur die von Beethoven. So haben wir uns gut ergänzt, ich durchs Erklären von Grundfragen der Dialektik, die dadurch, dass sie das auf die musikalische Praxis übertragen und mir darauf bezogen näherbringen konnte, wiederum für sie verständlicher wurde.
Dass das auch in der Schule im Musikunterricht behandelt wurde, ist zwar sicher richtig, aber ich hatte die POS (das ist Polytechnische Oberschule in der DDR) mit der 10. Klasse 1985 verlassen und damals gehörte klassische Musik nicht zu der, die mich so brennend interessierte, dass ich mich da reinvertieft hätte. Ich glaube, das geht manchen anderen im Teenie-Alter auch heute noch so.
Aber es gibt auch ein paar wenige Dinge, die mir nicht so gefallen haben. Diese sind jedoch nicht grundsätzlicher Natur, was ich betonen möchte. Trotzdem halte ich es für wichtig, auch diese Seiten zu benennen.
Wirklich traurig war und bin ich, der ich mich intensiv mit Literatur befasse, darüber, dass in dem Buch über die Literatur als Bestandteil der bürgerlichen Kultur flüchtig hinweggegangen wird. Dabei kommt eine frühe Erscheinung der Krise der bürgerlichen Kultur beispielhaft gerade im Bereich der Literatur zum Ausdruck. Das sei im Folgenden skizziert:
- 1869 hatte sich im Norddeutschen Bund die allgemeine Gewerbefreiheit durchgesetzt, somit das Recht für jedermann, jedes beliebige Gewerbe ohne Vorbedingungen zu betreiben. Hemmnisse, durch Zunftzwang, verschwanden.
- Seit der Gründung des deutschen Reiches 1871 konnte sich ein einheitlicher Literaturmarkt entfalten.
- Und, in unserem Zusammenhang besonders wichtig: Am 02. Mai 1874 wurde das reichseinheitliche Pressegesetz erlassen. Dieses beseitigte noch vorhandene Hindernisse für einen breiten Aufschwung im Druck- und Verlagsgewerbe. Neue Verlage wurden gegründet, die Menge an Periodika wuchs deutlich an, in Zeitschriften erschien Unterhaltungs- und Trivialliteratur. Aber das Gesetz erleichterte es auch der damals fortschrittlichen Sozialdemokratie, leichter in entsprechender Weise ihre Schriften zu verbreiten, zumal das Ganze auch den Effekt hatte, dass die Alphabetisierung stetig zunahm.
Und hier haben wir den Punkt, an dem sich nach der Reichsgründung eine erste offene Krise der bürgerlichen Kultur entzündete. Denn auch die Sozialdemokratie gewann, durch vereinfachte Verbreitungsmöglichkeiten ihrer Schriften, durch das Pressegesetz an Einfluss.
Das musste die Regierenden mit Bismarck an der Spitze beunruhigen.
›Die Geister, die ich rief
werd ich nun nicht mehr los‹,
um mit Goethe zu sprechen. Diese Geister machten dem Bismarck zu schaffen, weswegen er gerade mal 4 Jahre nach dem Erlass des Pressegesetzes zu dem reaktionären Mittel des Sozialistengesetzes gegriffen hatte.
Ich denke, das einer kurzen Betrachtung zu unterziehen, wäre in dem Buch auch gut gewesen, zumal wahrscheinlich heutzutage dieses Gesetz von 1874 nur noch wenigen bekannt ist, vor allem, wenn man sich nicht, wie ich, tiefer mit dieser Materie befasst.
Dass es, wie bei euren Büchern Standard, kein Namens- und Sachwortverzeichnis gibt, ist halt so, das nehme ich als normal hin. Fußnoten gibt es zwar, aber einen entsprechenden Apparat mit genannten Verzeichnissen, wie in vielen anderen wissenschaftlichen Büchern üblich, halte ich für hilfreicher, insbesondere dann, wenn man immer wieder zu dem entsprechenden Buch greift, um konkrete Stellen, Namen, Sachwörter nachzuschlagen bzw. in diesem Zusammenhang konkrete Stellen erneut zu studieren. Fußnoten auf einzelnen Seiten können das nicht leisten. (Anm. der RW-Redaktion: Im letzten Teil der Reihe wird dann ein Namens- und Stichwortverzeichnis für alle Bände enthalten sein)
Und ein letztes:
Auf Seite 62 schreibt ihr: ›Geschichtsschreibung entstand im Prozess der Bewusstwerdung der Menschen über ihr gemeinschaftlich organisiertes Leben und Arbeiten. Die bewusste Dokumentation der gesellschaftlichen Verhältnisse und Ereignisse begannen Historiker erst in den Klassengesellschaften […]‹– Letzterem widerspreche ich.
Bereits in der Urgesellschaft, als die ersten Menschen noch in Höhlen lebten, entstand das Bedürfnis, sich künstlerisch auszudrücken. Das war neben der Arbeit, der Nutzung von Gegenständen als Werkzeug, ein entscheidendes Moment der Entwicklung des Menschen.
Eine der bekanntesten Kunstformen ist dabei die Höhlenmalerei. Bekannte Funde diesbezüglich stellen Jagdszenen dar. Und genau solche Dinge sind doch auch als bewusste Dokumentation zu betrachten. Dass es noch keine Schrift gab, das das Wort ›Historiker‹ vollkommen unbekannt war, das alles spielt keine Rolle. Entscheidend ist:
Die frühen Menschen waren sich ihrer Verhältnisse bewusst. Das hieß damals: angewiesen sein auf Erträge von Sammeln und Jagen. Letzteres war naheliegenderweise das größte Problem. Und da, so ist das unbedingt zu sehen, sind es Ereignisse gewesen, die man für bedeutsam hielt, sie festzuhalten. Sei es, dass durch die Erlegung eines großen Tieres eine Hungersnot gelindert werden konnte, sei es, dass die entsprechende Urmenschengruppe erstmalig überhaupt ein so großes Tier erlegen konnte. Auf jeden Fall ist bereits eine solche Malerei an Höhlenwänden unbedingt als bewusste Dokumentation zu betrachten und entstand auch «im Prozess der Bewusstwerdung der Menschen über ihr gemeinschaftlich organisiertes Leben und Arbeiten«.