Stefan Engel
Löst sich die Mathematik zunehmend von der Wirklichkeit?
Zuschrift eines Lesers aus Hannover an die RW-Redaktion zum neuen Buch »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft«
»Liebe Genossinnen und Genossen,
zunächst einmal herzlichen Dank für das Buch von Stefan Engel: ›Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft‹. Ich habe das Buch nun mehrmals gelesen und habe viel über die darin enthaltenen Einschätzungen nachgedacht. Es hat mich angeregt, mich intensiver mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen. …
Die Chemie ist sicherlich eine der wichtigsten Naturwissenschaften, die gerade heute dem kapitalistischen / imperialistischen Verwertungsinteresse unterliegt. Dieses Verwertungsinteresse muss ja einen ideologischen Einfluss auf die Chemie als Naturwissenschaft haben. Trotzdem wird die Chemie im Buch ›Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft‹ mit keinem Wort (ich hoffe ich habe da nichts übersehen) erwähnt. Ich hatte vor einem halben Jahr die ›Dialektik der Natur‹ von Friedrich Engels gelesen. Da werden ausführlich Beispiele aus der Chemie angeführt und der dialektische Materialismus am Aufbau der Elemente des Periodensystems erklärt. Die Entwicklung des Periodensystems ist doch ein fantastisches Beispiel für den dialektischen Materialismus, der die Chemie einmal beherrscht hat. Ich selbst bin kein Experte der Chemie, hätte aber trotzdem gerne eine Erklärung für die Nichtbehandlung. ...
Als zweites bin ich mit der Einschätzung zur Mathematik nicht ganz einverstanden. ...
Die Mathematik ist ein Resultat des menschlichen Geistes, erschaffen und weiter entwickelt um die Welt zu verstehen, sie zu vermessen und zu begreifen. So gesehen ist die Mathematik ein Resultat menschlicher Kultur und Evolution. Eine Weiterentwicklung der Mathematik wurde stets angeregt und ausgelöst durch weltliche Probleme oder auch der weltlichen Ökonomie. Die Vermessung der Welt wäre ohne Geometrie nicht denkbar, das bürgerliche Rechnen mit Zinsrechnung, den negativen Zahlen war ein Erfordernis des Handels im Mittelalter, die Infinitesimalrechnung entwickelte sich mit der technischen Revolution usw.
Doch gleichzeitig ist die Mathematik ein Gedankengebäude, das von der Realität abstrahiert. Die Objekte der Mathematik gibt es in der Realität häufig nicht. (Punkt, Linie, zweidimensionale Fläche, Kugel im mathematischen Sinn, Zahlentheorie etc. ) Und trotzdem hat dieses dem menschlichen Geist entstammende von der Welt angeregte Gedankengebäude mit seinen internen Problemen die Menschheit immer wieder herausgefordert und beschäftigt. Das ist heute noch so, auch in den sogenannten ›bildungsfernen Schichten‹. Alle Kulturen haben den Satz des Pythagoras entwickelt und unzählige Male bewiesen, obwohl ein Beweis gereicht hätte. Die Erforschung und die Fragen der Menschheit zu den Primzahlen sind ein rein innermathematisches Problem (Gibt es eine größte Primzahl, gibt es eine Formel zum Finden von Primzahlen?) und haben keine Auswirkungen auf die reale Welt. Noch nie hat ein Techniker ›Fermats letzten Satz‹ benötigt und dennoch war die Suche nach einem Beweis irgendwie jahrzehntelang wichtig.
Das Wichtigste ist aber zu klären, wie das Verhältnis von Mathematik zur real existierenden Welt ist. Es gibt Anforderungen der Welt, die man versucht mit der Mathematik zu lösen. Der Ausgangspunkt ist aber ein real existierendes Problem. Meistens hat die Mathematik Lösungen gefunden. Die Mathematik entwickelt sich aber auch innermathematisch weiter als Produkt des menschlichen Geistes mit der der Mathematik eigenen Logik. Dann kann es passieren, dass ein Ergebnis dieser Weiterentwicklung eine Widerspiegelung in der Welt findet (die Fibonacci-Folge ist hier ein gutes Beispiel). Das muss aber nicht so sein. Aus einem rein mathematischen Ergebnis Rückschlüsse auf die Verhältnisse in der Natur zu schließen, ist eine vollkommene Überinterpretation. Hier haben wir es wieder mit Idealismus und Materialismus zu tun. Die Mathematik hat ihre Wurzeln zwar in der realen Welt ist aber ein geistiges Objekt des Menschen. Ein Ergebnis dieses Systems Mathematik ist kein Beweis für die Verhältnisse in der realen Welt. Das wird aber häufig von den bürgerlichen Wissenschaften so verstanden.
Nachdem die Mathematik sich in den 70iger Jahren innermathematisch mit dem Chaos (Chaostheorie) beschäftigt hat, formulierte der Meteorologe Edward Lorenz ›Schon der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann in Texas einen Orkan auslösen‹. Was für ein Quatsch. In der mathematischen Chaostheorie können kleine Anlässe große Wirkungen haben aber damit kann doch nicht das Entstehen von Orkanen erklärt werden.
Ihr schreibt im Buch auf Seite 36: ›Unter dem weltanschaulichen Einfluss des Idealismus löste sich die Mathematik jedoch zunehmend von der Wirklichkeit.‹
Das macht die Mathematik ständig, indem sie abstrahiert. Meiner Meinung nach darf sie das auch. Problematisch ist die Interpretation der mathematischen Ergebnisse durch die bürgerliche Wissenschaft. Die Ergebnisse der Mathematik werden als Beweis für die Existenz von vermuteten Realitäten angesehen (schwarze Löcher). Die Wirklichkeit lässt sich nicht durch die Mathematik beweisen. Mit Hilfe der Mathematik kann man real erkannte Probleme messen, berechnen und erfassen. So gesehen ist in diesem Bereich die Mathematik eine Hilfswissenschaft zur Erkenntnis der Welt, aber niemals ein Mittel für den Beweis von vermuteten Realitäten.
Mit solidarischen Grüßen!«
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Stefan Engel
Redaktionsleiter REVOLUTIONÄRER WEG, 26.4.23
Lieber Genosse,
vielen Dank für deinen Brief. Schön, dass dich das Buch so zur Debatte anregt. Du schreibst: »Die Chemie ist sicherlich eine der wichtigsten Naturwissenschaften, die gerade heute dem kapitalistischen / imperialistischen Verwertungsinteresse unterliegt. ... Ich selbst bin kein Experte der Chemie, hätte aber trotzdem gerne eine Erklärung für die Nichtbehandlung.«
Die Aufgabenstellung des Buchs »Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ war, eine Anleitung zu geben, wie die dialektisch-materialistische Kritik an der bürgerlichen Naturwissenschaft entwickelt werden muss. Das haben wir in verschiedenen Kernbereichen gemacht. Das Buch hat aber nicht den Anspruch die Naturwissenschaft umfassend zu behandeln, das kann es auch gar nicht (vgl. Einleitung des Buches, S. 8). Die Geologie haben wir zum Beispiel auch nicht behandelt. Dazu kommt, dass die Kernauseinandersetzungen in der Chemie starke Überschneidungen mit dem Ingenieurwesen (wo die Frage der FCKW-Entwicklung behandelt wurde) und der Physik (insbesondere Quantenphysik) haben.
Weiter schreibst Du: »Als zweites bin ich mit der Einschätzung zur Mathematik nicht ganz einverstanden. … Ihr schreibt im RW 38 auf Seite 36: ›Unter dem weltanschaulichen Einfluss des Idealismus löste sich die Mathematik jedoch zunehmend von der Wirklichkeit.‹
Das macht die Mathematik ständig, indem sie abstrahiert. Meiner Meinung nach darf sie das auch. Problematisch ist die Interpretation der mathematischen Ergebnisse durch die bürgerlichen Wissenschaft.«
Das ist eine metaphysische Vorstellung von der mathematischen Abstraktion, die nur richtig ist, wenn sie am Ende wieder der Lösung der realen praktischen Probleme dient. Die Mathematik lehnen die Marxisten-Leninisten nicht ab, sondern ihre idealistische Handhabung. Marx war im übrigen einer der größten Mathematiker seiner Zeit. Engels schrieb: »Keineswegs aber befaßt sich in der reinen Mathematik der Verstand bloß mit seinen eignen Schöpfungen und Imaginationen. Die Begriffe von Zahl und Figur sind nirgends anders hergenommen, als aus der wirklichen Welt. Die zehn Finger, an denen die Menschen zählen, also die erste arithmetische Operation vollziehn gelernt haben, sind alles andre, nur nicht eine freie Schöpfung des Verstandes. … Wie alle andern Wissenschaften ist die Mathematik aus den Bedürfnissen der Menschen hervorgegangen: aus der Messung von Land und Gefäßinhalt, aus Zeitrechnung und Mechanik. Aber wie in allen Gebieten des Denkens werden auf einer gewissen Entwicklungsstufe die aus der wirklichen Welt abstrahierten Gesetze von der wirklichen Welt getrennt, ihr als etwas Selbständiges gegenübergestellt, als von außen kommende Gesetze, wonach die Welt sich zu richten hat. So ist es in Gesellschaft und Staat hergegangen, so und nicht anders wird die reine Mathematik nachher auf die Welt angewandt, obwohl sie eben dieser Welt entlehnt ist und nur einen Teil ihrer Zusammensetzungsformen darstellt - und grade nur deswegen überhaupt anwendbar ist.« (Marx-/Engels-Werke, Band 20, S. 35-36 – Hervorhebung durch uns)
Und eben diese idealistische Loslösung der Mathematik von der Wirklichkeit wird heute insbesondere in der Astrophysik, aber auch zunehmend in der Umweltforschung zum Problem. Denn die hoch komplexen mathematischen Berechnungen, die nötig sind um die Bilder des James-Webb-Teleskops oder die abertausenden Daten der Wetterstationen auszuwerten, sind nicht ideologiefrei. Wenn diese schon basierend auf der Urknalltheorie oder auf der Grundannahme, im Klimasystem gäbe es nur allmähliche Veränderungen und keine qualitativen Sprünge, entwickelt werden, kann die Mathematik die Wirklichkeit nicht korrekt abbilden. Immer wüstere Rechenmethoden werden entwickelt, um den Widerspruch zwischen den materialistischen Einzelerkenntnissen und den idealistischen Theorien zu überbrücken. Und ein gewiefter Mathematiker wird immer in der Lage sein, eine geeignete Rechnung zu erfinden.
In unserem Buch wird diese idealistische Deutung der Mathematik anhand von dem Zitat von Heisenberg deutlich, das du gar nicht mit zitiert hast:
»Unter dem weltanschaulichen Einfluss des Idealismus löste sich die Mathematik jedoch zunehmend von der Wirklichkeit. Heisenberg behauptete sogar absurderweise:
›Die letzte Wurzel der Erscheinungen ist also nicht die Materie, sondern das mathematische Gesetz, die Symmetrie, die mathematische Form.‹ «
Für die Mathematik gilt, was ich oben zur Chemie geschrieben habe. Es ist nicht erforderlich, sich mit jedem Wissenschaftsbereich auseinanderzusetzen. Zum anderen wurde im Buch »Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus« im Kapitel zur Digitalisierung umfassend auf das Problem des Positivismus in der digitalen Datenverarbeitung eingegangen. Wir würden aber trotzdem gerne den Briefwechsel mit dir veröffentlichen um die Debatte darum weiter anzuregen und deine interessanten Ausführungen zur Mathematik zugänglich zu machen. Wärst Du damit einverstanden?
Herzliche Grüße,
Stefan
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Lieber Stefan,
vielen Dank für deine Antwort und deine inhaltliche Stellungnahme. Deine Ausführungen zur Mathematik haben mich ins Nachdenken gebracht. Der Begriff »reine Mathematik“ bringt es auf den Punkt und die Vorstellung der »reinen Mathematik“ ist mit Sicherheit idealistisch.
Es ist auch nicht meine Ansicht, dass die Mathematik eine ausschließliche Schöpfung des menschlichen Geistes ist. Sie entstammt der Realität. Aber du hast sicherlich recht, dass die Mathematik sich auch immer wieder auf die Realität beziehen muss. Da hatte ich eine falsche Vorstellung: Mathematik als beliebiges Spielfeld des menschlichen Geistes, als Kunstform, als regelbasiertes Experimentierfeld,.. Wohin bringt das die Mathematik?
Aber es gibt auch die innermathematischen Probleme, die die Menschheit anregt, die sie herausfordert, ohne dass es eine Anwendung gibt. Da sind die Primzahlen ein gutes Beispiel. Viele meiner SchülerInnen konnte ich von diesen Zahlen faszinieren. Es gibt weitere Beispiele. Also lässt sich die Mathematik nicht lediglich auf Anwendungen reduzieren. Doch wo ist die Grenze. Und du hast recht: Reine Mathematik ist Schwachsinn (idealistisch).
Ich muss noch weiter darüber nachdenken.
Natürlich dürft ihr den Briefwechsel veröffentlichen.
Mit herzlichen Grüßen