Impulsbeitrag von Stefan Engel

Impulsbeitrag von Stefan Engel

»Lenins Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik«

Impulsbeitrag von Stefan Engel zum Block 2 beim internationalen Seminar der ICOR »Lenins Lehren sind lebendig« vom 13. bis 15. September 2024

Von Stefan Engel

1. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen!

Das Wirken von Lenin auf weltanschaulichem Gebiet ist bisher noch am wenigsten im Blickpunkt der internationalen marxistisch-leninistischen und Arbeiterbewegung.

Dabei ist sie das »Geheimnis« von Lenins gigantischen Leistungen auf theoretischem und praktischem Gebiet!

Nach der blutigen Niederlage des revolutionären Aufstands 1905 untersuchte Lenin, welche weltanschaulichen Wurzeln eine zeitweilige Niedergeschlagenheit unter den Massen und das Aufkommen des Liquidatorentums in der Partei hatte.

In seiner Schrift »Materialismus und Empiriokritizismus« stellte er 1908 fest, dass gerade in Zeiten von Niederlagen und reaktionären Entwicklungen weltanschauliche Fragen höchste Priorität bekommen und auch auf die revolutionäre Arbeiterbewegung Einfluss nehmen.

Er polemisierte gegen sich marxistisch gebende kleinbürgerliche Intellektuelle, die sich enttäuscht, aber auch auftrumpfend, vom dialektischen Materialismus lossagten und »unglaublich wirres … Zeug als Marxismus auftischen«. 1

So glitten die Machisten mit ihrer Theorie, »die Materie verschwindet« und »die Empfindungen haben Vorrang vor der Materie«, in puren Idealismus ab.

Lenin deckte das als Versuch zur Versöhnung von Materialismus und Idealismus auf.

Diese Tendenz zur versuchten Versöhnung von Materialismus und Idealismus wurde zu einem Hauptmerkmal der bürgerlichen Ideologie im Zeitalter des Imperialismus.

Sie macht es oft schwer, in den komplizierten Fragen der Zeit klar zu sehen.

Lenin polemisierte gegen die angebliche Unmöglichkeit, die objektive Realität zu erkennen:

Er qualifizierte die Materie stattdessen mit dem wissenschaftlichen Begriff »zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist …und unabhängig von ihnen existiert«.2

Statt kleinbürgerlich-intellektuellem Weltschmerz ob der grausamen Wirklichkeit des Imperialismus oder hochtrabender Rechtfertigung von Kapitulation bewies Lenin, dass das menschliche Denken grundsätzlich in der Lage ist, durch dialektische Verarbeitung der neuen Erscheinungen in Natur, Gesellschaft und im menschlichem Denken der absoluten Wahrheit immer näher zu kommen.

Während die Niederlage der Revolution von 1905 bei den Liquidatoren dazu führte, die führende Rolle der Arbeiterklasse und des Marxismus skeptisch infrage zu stellen, ja zu leugnen, inspirierten diese bitteren Erfahrungen Lenin.

Seine Schlussfolgerung war die Bolschewisierung der revolutionären Partei als Partei neuen Typs.

Dazu gehörte unter anderem

  • die systematische ideologisch-politische Arbeit
  • der Partei im Kampf gegen dogmatische Erstarrung, pragmatischen Aktionismus und revisionistische Verfälschung;
  • der demokratische Zentralismus als Organisationsprinzip der Partei statt einem Sammelsurium opportunistischer Strömungen und Fraktionen;
  • die straffe Organisierung in Parteizellen entgegen der opportunistischen Konzeption reiner Wahlparteien;
  • und nicht zuletzt die Konzentration auf die Gewinnung des Industrieproletariats in den Großbetrieben und die Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften, statt einseitige Konzentration auf Wohngebiete.

Ohne dieses weltanschauliche Vorgefecht der proletarischen Ideologie Lenins gegen die bürgerliche Ideologie wäre ein neuer Aufschwung der Revolution in Russland mit dem Höhepunkt der Oktoberrevolution 1917 unmöglich gewesen.



2.

Liebe Freunde und Genossen,

Karl Marx und Friedrich Engels hatten »die Dialektik … als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens«3 entwickelt.

Sie fanden in der Hegelschen Philosophie drei hauptsächliche dialektische Bewegungsgesetze auf:

»das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität

und umgekehrt;

das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze;

das Gesetz von der Negation der Negation.«4

Diese objektive Dialektik wohnt sämtlichen Bewegungen und Entwicklungen gesetzmäßig inne und macht es möglich, diese zu erkennen, zu verallgemeinern und auf die Wirklichkeit Einfluss zu nehmen.

Lenin war unermüdlich bemüht, die dialektische Methode von Marx und Engels zu beherrschen.

Er studierte sie systematisch, unter anderem anhand Marx‘ »Das Kapital«, und wandte sich schöpferisch an.

Aber er gab sich damit nicht zufrieden.

Mit dem Aufkommen des Imperialismus war die Welt und auch der Klassenkampf ungleich komplizierter geworden.

1914 spitzten sich die Widersprüche im imperialistischen Weltsystem aufs äußerste zu.

Der deutsche Imperialismus brach den Ersten Weltkrieg vom Zaun.

Lenin nahm das zum Anlass, um sein Hauptwerk zur Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik in Angriff zu nehmen.

Auch wenn er diese bedeutende Arbeit nicht zu Ende führen konnte, weil sich die politischen Ereignisse überschlugen, bleibt uns sein wissenschaftlicher »Konspekt zu Hegels ›Wissenschaft der Logik‹«.

Dort entdeckte er neue grundlegende »Elemente der Dialektik« und ihre Detailisierung.5

Diese Vertiefung, Konkretisierung und Verfeinerung der materialistischen Dialektik ermöglichten Lenin, zu einem unerschöpflichen dialektischen Erkenntnisfortschritt durch die »Entfaltung der gesamten Totalität der Momente der Wirklichkeit«6 zu kommen.

So entwickelte er mithilfe seiner »Elemente der Dialektik« 1916 in dem Werk »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« die politische Ökonomie des Marxismus maßgeblich weiter.

Er deckte die Wandlung Karl Kautskys vom Marxismus zum Sozialchauvinismus als Vertuschung der widersprüchlichen Entwicklung zwischen alten und neuen imperialistischen Ländern auf.

Er entwickelte die geniale These vom »Imperialismus (als) höchste Stufe des Kapitalismus«7 und »als Vorabend der sozialistischen Revolution«.8

Die »Elemente der Dialektik« dienten Lenin auch als Anleitung für die Weiterentwicklung der Strategie und Taktik des proletarischen Klassenkampfs.

Er verfasste die Schrift »Staat und Revolution« mitten im Trubel der unmittelbaren Vorbereitung der Oktoberrevolution im August 1917.

Er lehrte uns damit, das jeder große qualitative Sprung im Klassenkampf zwingend theoretisch, weltanschaulich verarbeitet werden muss.

Jede Anbetung der Spontanität führt die Revolution in die Sackgasse.

Er ging aus von der Lehre von Marx und Engels zum Staat und klärte im weltanschaulichen Kampf mit dem Opportunismus von Karl Kautsky die Arbeiter und die breiten Massen auf, »was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der nächsten Zukunft zu tun haben.«9

Ein Hauptaugenmerk legt er in dieser Schrift darauf, dass die Arbeiter nach der proletarischen Revolution ihre Herrschaft nur festigen können, wenn sie nachhaltig den kapitalistischen Bürokratismus überwinden.

Sie müssen dazu in der proletarischen Revolution den alten bürokratischen Staatsapparat zerschlagen und ihre Diktatur des Proletariats aufbauen.

Auch nach der siegreichen Oktoberrevolution befasste sich Lenin mit dieser Frage, als er in der Herausbildung einer kleinbürgerlichen Bürokratie die Hauptgefahr für die Restauration des Kapitalismus erkannte.

1919 führte er auf dem VIII. Parteitag der KPR (B) aus:

»Den Bürokratismus restlos, bis zum vollen Sieg zu bekämpfen,

ist erst dann möglich, wenn die ganze Bevölkerung an der Verwaltung teilnehmen wird. …

Hier stehen wir vor einer Aufgabe, die nicht anders als durch langwierige Erziehungsarbeit gelöst werden kann«10

Lenin kam damit schon sehr nahe an die entscheidende Frage der Denkweise für den Sieg des Sozialismus heran.



3.

Liebe Freunde, Kollegen und Genossen,

die Beherrschung der dialektisch-materialistischen Methode nach dem Vorbild Lenins ist der wissenschaftliche Kern der proletarischen Denkweise:

Lenin verfügte in Wechselwirkung dazu über einen unerschütterlichen proletarischen Klassenstandpunkt und eine marxistische Prinzipienfestigkeit, die er äußerst flexibel anzuwenden verstand.

Unerbittlich führte er den ideologischen Kampf gegen jede Abweichung vom Marxismus, gegen den Opportunismus, der – wie er sagte – »die beständigen und dauernden Interessen des Proletariats seinen Pseudo- und Augenblicksinteressen«11 opfert.

Lenin forderte die ideologisch-politische Vereinheitlichung der Partei, statt einer formellen Einheit ohne prinzipielle Grundlage.



4.

Liebe Kollegen, Freunde und Genossen!

Mit wesentlichen Veränderungen in der Natur und Gesellschaft muss nicht nur die politische Ökonomie und die Lehre vom Klassenkampf, sondern auch der dialektische Materialismus weiter entwickelt werden.

Stalin fasste den dialektischen und historischen Materialismus in seiner Schrift über die »Geschichte der KPdSU (B)« zusammen als Anleitung für die höchst komplizierte Leitung des sozialistischen Aufbaus in einem Land unter der Bedingung der Einkreisung durch imperialistische Mächte.

Er ignorierte allerdings die Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik durch Lenin, und kam so auch wieder von der Frage der Denkweise ab, was auch zu einigen Fehlern in der Behandlung der Widersprüche im sozialistischen Aufbau führte.

Mao Zedong erkannte die große Bedeutung der dialektischen Methode und entwickelte sie in seinen Schriften »Über den Widerspruch« und »Über die Praxis« weiter.

Sie wurden weltanschauliche Grundlagen für die erfolgreiche Strategie der neudemokratischen Revolution in China als Teil der internationalen sozialistischen Revolution.

Maos Mobilisierung der Massen mit der Großen Proletarischen Kulturrevolution 1966 zur Verhinderung der Machtergreifung durch kleinbürgerlich entartete Bürokraten um Deng Hsiao Ping und Lin Shao Tschi war nur möglich, weil er die dialektische Methode weiterentwickelt hatte, insbesondere zur richtigen Behandlung der Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft.

Nicht nur das:

Mao Zedong initiierte in der Kulturrevolution eine Massenbewegung zum Erlernen und zur Anwendung der dialektischen Methode, die Millionenmassen ergriff.

Die MLPD macht seit Beginn ihres Aufbaus als Partei neuen Typs seit 56 Jahren die bewusste Anwendung der dialektischen Methode zur grundlegenden Methode ihrer ideologisch-politischen und praktischen Arbeit und ihre Kaderausbildung.

Das ist nicht einfach!

Selbst Willi Dickhut schrieb:

»Als ich (Lenins »Elemente der Dialektik«) zum erstenmal in Händen hatte, habe ich tagelang darüber nachgegrübelt, was die einzelnen Punkte bedeuten und was dahinter steckt.

Dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen.

Bei allen wichtigen Fragen habe ich sie mir genommen … Je gründlicher das gemacht wird, um so zutreffender, das heißt fehlerloser, wird das.«12

Darauf aufbauend führte er 1974 aus:

»Wer Kommunist werden will, muß sich die dialektische Methode gründlich aneignen und sie ständig anwenden, denn nur so kann eine richtige kommunistische Praxis durchgeführt werden.«13

Der proletarische Klassenstandpunkt ist die Grundlage für den Zugang zur dialektischen Methode, für den proletarischen Ehrgeiz, sie zu erlernen und die Fähigkeit, sie in der Praxis anzuwenden.

Wir zogen damit grundlegende Schlussfolgerungen aus der Geringschätzung der weltanschaulichen Arbeit in der alten kommunistischen Bewegung.

Seit den 1990er-Jahren trat das imperialistische Weltsystem mit der Neuorganisation der internationalen Produktion in eine neue Phase.

Ein gesellschaftliches System der kleinbürgerlichen Denkweise wurde zentrales Betrugs- und Herrschaftsinstrument des imperialistischen Weltsystems, um das proletarische Klassenbewusstsein zu demoralisieren, zu desorganisieren und zu desorientieren.

Die Denkweise der Arbeiterklasse und der breiten Massen entscheidet darüber, wie die objektive Realität verarbeitet wird und welche Schlussfolgerungen gezogen werden.

Um die Überlegenheit der proletarischen Denkweise im Kampf mit der kleinbürgerlichen Denkweise herzustellen, haben wir die Lehre von der Denkweise entwickelt.

Wir haben dafür im Geiste Lenins einige neue Elemente der Dialektik entwickelt.

Das sind besonders fünf neue dialektische Kategorien der Lehre von der Denkweise:

  • die konkrete Analyse der konkreten Situation auf dem Niveau der Lehre von der Denkweise;
  • die Strategie und Taktik im Kampf um die Denkweise;
  • die proletarische Streitkultur zur Lösung der Probleme der Denkweise im Parteiaufbau, im Klassenkampf und bei der Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution;
  • das wissenschaftliche Arbeiten als dialektische Einheit von marxistischem Arbeitsstil, proletarischer Arbeitsweise und wissenschaftliche Arbeitsorganisation;
  • und die proletarische Kontrolle und Selbstkontrolle mit dem Ziel, Fehler zu vermeiden.

Durch das systematische Training zur systematischen Anwendung dieser fünf Kategorien werden wir mit der kleinbürgerlich-metaphysischen und kleinbürgerlich-dogmatischen Denkweise fertig, können neue Erscheinungen und wesentliche Veränderungen in Natur, Gesellschaft und menschlichem Denken differenziert aufspüren, systematisch einen Erkenntnisfortschritt zur Höherentwicklung des Klassenkampfs, des Parteiaufbaus und zur Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution organisieren.

Das ist eine allgemein große Herausforderung an die Revolutionäre der Welt in der gigantischen Aufgabe der Vorbereitung und Durchführung der internationalen sozialistischen Revolution, des weltweiten Aufbaus von Sozialismus und Kommunismus.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

1 Lenin, Werke, Bd. 14, S. 10

2 ebenda, S. 124

3 Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 132

4 Mark/Engels, Werke, Bd. 20, S. 348

5 Lenin, Werke, Bd. 38, S. 212-214

6 Lenin, Werke, Bd. 38, S. 148

7 Lenin, Werke, Bd. 22, S. 242

8 Lenin, Werke, Bd. 22, S. 191

9 Lenin, Werke, Bd. 25, S. 396

10 Lenin, Werke, Bd. 29, S. 168/169 – Hervorhebung Verf.

11 Lenin, Werke, Bd., 11, S. 42

12 Briefwechsel über Fragen der Theorie und Praxis des Parteiaufbaus, S. 218

13 Briefwechsel über Fragen der Theorie und Praxis des Parteiaufbaus, S. 119