Willi Dickhut

Willi Dickhut

Kritik an der Bauernbroschüre

Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1972

Von RW-Redaktion
Kritik an der Bauernbroschüre

Genossen!

In der Schrift »Arbeiter und Bauern im ganzen Land – kämpfen gemeinsam Hand in Hand« sind Euch zwei schwere Fehler unterlaufen:

1. Seite 10: »Die Anarchie in der landwirtschaftlichen Produktion«, Ende des ersten Abschnitts

Ihr gebt an, daß die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) mehr Geld für die Lagerung und Vernichtung der Überschüsse ausgibt als für die Jugendhilfe und daß das der Hilfe für die sogenannten Entwicklungsländer entspricht.

Entwicklungshilfe ist keine »Hilfe« für die Entwicklungsländer, sondern eine Investition der Bourgeoisie oder des kapitalistischen Staates, um diese Länder noch stärker ausbeuten zu können.

2. Seite 10: Ende des ersten Abschnitts

»Eingelagerte Fleischkonserven älteren Datums sollen an Entwicklungsländer verschenkt werden«

Die Kapitalisten verschenken nichts! Was bekommen sie dafür? Wer bekommt die Fleischkonserven? Das Volk?

Durch den Satz werden Vorurteile gegen die kolonialen und halbkolonialen Völker geweckt, die bei Bauern leichter auf fruchtbaren Boden fallen können als etwa bei Arbeitern. »Wir werden immer ärmer, und die in Afrika bekommen Güter nachgeworfen.«

Ich halte zumindest den ersten Fehler für so schwerwiegend, daß man ihn öffentlich (in der Roten Fahne) zurücknehmen muß. Ihr könnt ja schreiben, daß das »sogenannte« vor »Hilfe« und nicht vor »Entwicklungshilfe« stehen muß und begründen, wieso sonst die Aussage falsch wäre. Diese Art der Argumentation erscheint mir gerechtfertigt, weil wir, wenn wir offen den Fehler zugeben, in eine peinliche Lage kommen, die bürgerliche Ideologie in einem ganz wesentlichen Punkt korrekt vertreten zu haben.

Rot Front! RJ(ML)/Saar – B.I.

.

8.3.72

Lieber Genosse B. I.!

Dein Brief ohne Datum wurde mir zugeleitet. Mir ist Deine Kritik an einer Formulierung in der Bauernbroschüre unverständlich. Es handelt sich doch um eine Agitationsbroschüre, wo Ausdrücke verwandt werden, die allgemein verständlich sind, um nicht Erläuterungen zu geben, die mit unserem Thema in der Bauernbroschüre nichts zu tun haben. Der Satz auf Seite 8 – »Das entspricht etwa der Summe der Hilfe für die sogenannten Entwicklungsländer« – bezieht sich doch lediglich auf die Summe und nicht auf »Hilfe« und »Entwicklungsländer«. Es wäre in diesem Sinne unsinnig, auf den Inhalt beziehungsweise Arten von Entwicklungshilfe einzugehen, ob staatliche oder private Gelder, lang- oder kurzfristige Kredite, Kredite ohne, zu niedrigen oder zu hohen Zinsen, Kredite oder Lieferungen mit oder ohne politische Bedingungen, Hilfe in Geld oder Sachwerten, günstige oder ungünstige Handelsverträge, Weltmarkteinwirkungen usw., die bei der Behandlung des Themas Entwicklungshilfe eine Rolle spielen würden. Du schreibst: »Die Kapitalisten verschenken nichts!« Das ist grundsätzlich richtig. Es gibt aber auch ein Sprichwort: »Er wirft mit der Wurst nach der Speckseite.« Hierher übertragen heißt das: Es gibt auch Wirtschaftshilfen, die als Geschenke gegeben werden, nicht aus Liebe, sondern von dem Gesichtspunkt eines zukünftigen Einflusses auf das betreffende Land. Die Zeit des offenen Kolonialismus ist vorbei. Die Methoden des Imperialismus haben sich darum geändert; sie sind raffinierter geworden. Der Sozialimperialismus paßt sich diesen Methoden an. Man muß auch die Wirkung echter, aufrichtiger, bedingungsloser Wirtschaftshilfe, die einem Land gewährt wird, auf die anderen Entwicklungländer berücksichtigen. Das Beispiel der Hilfe seitens Chinas (Bau der Eisenbahn in Tansania mit 30jährigem zinslosem Kredit) hat zweifellos auch seine Auswirkungen auf Verträge, die die Entwicklungsländer mit kapitalistischen Staaten oder Firmen abschließen. Außerdem kommt es darauf an, wie die Völker eine Wirtschaftshilfe selber empfinden und beurteilen. Die eine wird als wirkliche Hilfe angesehen (auch wenn sie von kapitalistischen Ländern gegeben wird), ein langfristiger Kredit mit niedrigem Zinssatz und ohne politische Bedingungen, die andere nicht, die mit brutaler Ausbeutung und politischer Bindung an den Imperialismus verbunden ist und die sie als Fessel ihres wirtschaftlichen Aufbaus spüren. Man kann nicht einfach jede kapitalistische Wirtschaftshilfe als »keine« Hilfe bezeichnen, das wäre metaphysisch gedacht. Eine solche Hilfe kann vorübergehend eine Belastung sein, im Endeffekt jedoch ein Vorteil. Du wirst im Revolutionären Weg 8 einen Abschnitt über die »Neue ökonomische Politik« der Sowjetunion unter Lenin lesen, der die Wirtschaftshilfe der ausländischen Kapitalisten an die Sowjetunion behandelt. Um nach dem wirtschaftlichen Ruin durch Krieg und Bürgerkrieg den Sozialismus in der Sowjetunion überhaupt aufbauen zu können, war die Sowjetregierung gezwungen, Wirtschaftshilfe vom kapitalistischen Ausland unter schweren Bedingungen anzunehmen, Bedingungen, die jedenfalls noch belastender waren als die Wirtschaftshilfen an die sogenannten Entwicklungsländer. Lenin sagte offen, daß die Kapitalisten höchste Profite herausgeholt haben. Und trotzdem war es eine echte, wenn auch aus egoistischen Gründen gegebene Wirtschaftshilfe für den Aufbau des Sozialismus, denn ohne sie wäre die Sowjetmacht zugrunde gegangen. Allerdings wurde dafür ein hoher Preis bezahlt. Ich bitte Dich darum, mehr dialektisch an das Problem Wirtschaftshilfe heranzugehen.

Warum »sogenannte« Entwicklungsländer? Weil der Ausdruck

»Entwicklungsländer« nichts über die Struktur der einzelnen Länder aussagt. Die Länder, die unter den allgemeinen Begriff »Entwicklungsländer« fallen, sind in ihrer Struktur und Entwicklung sehr verschieden. Nicht alle ehemaligen Kolonien kann man als Entwicklungsländer bezeichnen. Ich greife als Beispiel nur ein einziges Land heraus:

Als Indien noch unter der Herrschaft des englischen Imperialismus stand, entwickelte sich hier eine bemerkenswerte indische Bourgeoisie, die teils selbständig, teils in Kooperation mit dem englischen Kapital fungierte. Nachdem Indien selbständig wurde, entwickelte sich der indische Kapitalismus zum herrschenden System und in den letzten Jahren sogar mit imperialistischen Zügen. Und doch gilt Indien als »Entwicklungsland«.

Zurück zur Bauernbroschüre. Hier werden lediglich zum Vergleich zwei Summen nebeneinandergestellt, um unser Agrarproblem zu kennzeichnen und nicht das Problem Entwicklungshilfe. Wenn ich trotzdem etwas näher auf das letztere eingegangen bin, dann, um Dich darauf aufmerksam zu machen, daß man eine Frage möglichst von vielen Seiten aus behandeln, das heißt dialektisch an sie herangehen soll. Hast Du den Revolutionären Weg 6 studiert (nicht nur gelesen)? Sieh mal, auch die Sache mit den Fleischkonserven siehst Du zu starr. Du hast doch vorher in der Bauernbroschüre gelesen, daß ungeheuere Mengen Lebensmittel vernichtet werden. Verschenken von Fleischkonserven ist vom Standpunkt der Lagerung aus nur eine andere Art von »Vernichtung« (der Effekt ist derselbe), eine mit »sozialem« Mäntelchen umhüllte. Die staatliche Einlagerung von Fleischkonserven ist nicht nur eine (notwendige) Vorratswirtschaft, sondern auch (wie bei Butter und Getreide) eine Stützungsaktion für die Landwirtschaft (natürlich für die Großen). Von Zeit zu Zeit werden die Konserven, weil sie nur eine bestimmte Haltbarkeit haben, vom Staat mit Schaden abgestoßen. Sie erscheinen dann als »Sonderangebote« in den großen Verkaufsläden (Filialgeschäften). Werden nun Fleischkonserven älteren Datums an die Entwicklungsländer verschenkt, müssen sie dort, weil sie wegen der Tropenhitze nur noch kurze Zeit haltbar sind, sofort ausgegeben werden. Du kannst also beruhigt sein, daß sie tatsächlich das Volk bekommen würde. Die Privilegierten sind darauf nicht angewiesen, die haben erstklassige Waren zur Verfügung.

Auch Deine Schlußfolgerung ist falsch. Den Bauern ist es gleich, was mit den staatlich gelagerten Lebensmitteln geschieht. Ihnen geht es um »gerechte« (dehnbarer Begriff) Erzeugerpreise und geregelten Absatz. Genauso könntest Du argumentieren (und das sogar zutreffender), daß die Arbeiter sagen, den Bauern würden von ihren Lohnsteuerbeträgen Milliarden DM in den Rachen geworfen (für die Großagrarier trifft das zu, aber auch für die Reeder im Schiffsbau und für die Bergwerksbesitzer im Kohlenbergbau). Wir dürfen uns nicht von irgendwelchen berechtigten oder unberechtigten Vorurteilen leiten lassen, sondern müssen eine klare Politik entwickeln. Die Bauernbroschüre enthält, wie Du bemerkt hast, nicht nur vieles konkrete Material für unsere tägliche Agitation, sondern ist auch eine gewisse Analyse der Lage auf dem Land. Die angeführten Gespräche sind echte Gespräche mit Bauern. Eine Kritik wäre an der Aufmachung angebracht, weil eine Agitationsbroschüre aufgelockert mit Blickpunkten und Schlagzeilen sein soll.

Deine Schlußbemerkung ist auch nicht angebracht. Wir übernehmen oft Ausdrücke der bürgerlichen Gesellschaft, ohne dabei die bürgerliche Ideologie zu vertreten, einfach aus dem Grund, sie allgemein bekannt sind. So zum Beispiel das Wort »Sozialprodukt«, obwohl der wissenschaftliche Ausdruck »Nationaleinkommen« ist. Es wird von »Arbeitnehmer« und »Arbeitgeber« in einem Sinne gesprochen, der eigentlich umgekehrt sein müßte. Seit Jahrzehnten bemühen sich die Kommunisten, die richtigen Ausdrücke zu propagieren, ohne dabei durchzudringen, aber was hat das mit bürgerlicher Ideologie zu tun? Umgekehrt wurde vor Jahrzehnten der Name »Indonesien« von den Kommunisten geprägt und von der bürgerlichen Gesellschaft als allgemeingültig angenommen, ohne daß diese die proletarische Ideologie dabei vertreten hätten.

Warum antworte ich Dir ausführlich auf Deinen Brief, obwohl

ich auch wenig Zeit habe?

  1. Begrüße ich es immer, wenn sich Genossen eigene Gedanken machen und nicht einfach etwas hinnehmen, selbst wenn die Gedanken nicht immer den Kern treffen oder sogar falsch sind. Deswegen müssen wir alle offenen Fragen diskutieren.
  2. Möchte ich Dich davor bewahren, starr, dogmatisch, metaphysisch an ein Problem heranzugehen, sondern möglichst allseitig die Bewegung, Veränderung und Entwicklung zu untersuchen.
  3. Bei der beginnenden Schulung über den Revolutionären Weg 6 solltest Du die Fragen der Dialektik gründlich studieren und mit den anderen Genossen diskutieren. Ohne die dialektische Methode verstanden zu haben, können wir keine gute Praxis machen.

Vielleicht schreibst Du mir mal in einigen Wochen, was Du darüber denkst.

Rot Front! Willi