RW-Redaktion

RW-Redaktion

Ist Friedrich Engels am Ende seines Lebens zum bürgerlichen Parlamentarier geworden?

Brief an einen Genossen in Bremen zu einer opportunistischen Fälschung damaliger SPD-Führer an den Ansichten und Werken Friedrich Engels

Von RW-Redaktion

U/Hamburg, 31.05.2021

An einen Genossen in Bremen

Lieber Genosse,

ich bin dir bzw. euch immer noch eine Antwort schuldig im Zusammenhang mit der Engels-Veranstaltung in Bremen. Hier meinte eine Teilnehmerin im Verlauf der Diskussion über unseren Engels-Film, dass Rosa Luxemburg vertreten habe, Engels sei zum Ende seines Lebens zu einem Parlamentarier geworden ist und habe das revolutionäre Ziel aufgegeben.

Einige Zeit später habe ich dann über dich die Angabe der Textstelle in Rosa Luxemburg, Band 4 bekommen, wo sie das behaupten soll. Ich wollte diese Stelle nachlesen, aber in Hamburg hatte keiner den Band 4 und im Internet bin ich zunächst nicht fündig geworden. Meine Antwort schob sich wegen anderer Aufgaben dann weiter hinaus.

Ich gehe davon aus, dass der Vorwurf der Teilnehmerin gegen Engels mit Bezug auf Luxemburg sicher auch etwas verunsichernd auf Teilnehmer wirkte. Luxemburg gegen Engels?

Ich selbst antwortete darauf, dass Engels bis zu seinem Tod revolutionär war - ohne dabei die angeblichen Äußerungen von Rosa Luxemburg zu widerlegen.

Dann wurde ich im Internet doch fündig – und war überrascht!

Die Textstelle der Teilnehmerin war durchaus richtig angegeben. Auf dem Gründungsparteitag der KPD im Dezember 1919 hielt Rosa Luxemburg eine Rede, worin sie sich auf ein Vorwort von Engels bezog, dass er 1895 geschrieben hatten anlässlich eines Neudrucks von Marx Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich.“

Bezogen auf dieses Vorwort sagte sie folgendes in ihrer Rede:

...ich sage...: Hier ist ein ... zusammengefasstes Dokument für die Auffassung, die die deutsche Sozialdemokratie tot machte. Hier legt ihnen Engels dar, dass es ein purer Wahn ist zu glauben, das arbeitende Volk könnte Straßenrevolutionen machen und dabei siegen.“ Sie unterstellte Engels, „dass dabei der parlamentarische Kampf …. als das einzige Mittel des Klassenkampfes betrachtet wird. Und weiter: „Es war der reine Nur-Parlamentarismus, der sich aus dieser Kritik (von Engels, U) ergab.“

Dass Luxemburg selbst offenbar verunsichert war angesichts ihres Urteils über Engels, zeigt sich im weiteren Verlauf ihrer Rede. Denn zugleich bezeichnet sie Engels als Revolutionär. Sie versucht den Widerspruch in ihrer Rede aufzulösen, indem sie den Parteitag aufruft, im Grunde die Jahre von 1848 bis 1895 beiseite zu schieben – sie fordert auf: „Parteigenossen, wir stehen also heute, wie ich schon erwähnt habe, … wieder an der Stelle, wo Marx und Engels 1848 standen, als sie zum ersten mal das Banner des internationalen Sozialismus aufrollten.“ Sie fordert letztlich auf, den Parlamentarier Engels zu vergessen und zum Revolutionär Engels von 1848 zurückzukehren.

Was war geschehen?

Engels hatte tatsächlich 1895 ein neues Vorwort geschrieben anlässlich des Neudrucks der Schrift von Marx „Die Klassenkämpfe in Frankreich“.

Der Vorstand der SPD verlangte aber von ihm, den zu revolutionären Ton in seinem Text abzuschwächen und vorsichtiger zu formulieren wegen der angeblichen Gefahr eines neuen Sozialistengesetzes. (Tatsächlich hatte die Reichsregierung dem Reichstag im Dezember 1894 den Entwurf eines weiteren Sozialistengesetzes vorgelegt, der in den Monaten Januar bis April 1895 beraten und im Mai 1895 schließlich abgelehnt wurde vor dem Hintergrund der Stimmung der Massen und der Arbeiterklasse gegen die Einführung des Gesetzes und der Stärke der SPD)

Engels antwortete und legte unmissverständlich seinen revolutionären Standpunkt dar. Seine Kritik richtete sich gegen die SPD-Führung, dass diese ausschließlich im Rahmen der Gesetze des Kapitalismus zu handeln gedenkt – zugleich kommt er ihnen entgegen und schwächt einige Formulierungen im Vorwort aus taktischen Gründen ab.

Zur gleichen Zeit unternahmen einzelne Führer der SPD den Versuch, Engels auf Grund dieses Vorworts als Anhänger eines um jeden Preis friedlichen Weges des Übergangs der Macht an die Arbeiterklasse hinzustellen.

Am 30. März 1895 erschien im „Vorwärts“ ein Leitartikel mit der Überschrift „Wie man heute Revolutionen macht“. Darin wurden ohne Wissen von Engels mehrere Auszüge aus seinem Vorwort zitiert, die eben den Eindruck erwecken sollten, Engels sei zu einem friedfertigen Anbeter der kapitalistischen Ordnung geworden.

Als er davon erfuhr, war Engels empört über das opportunistische Zurechtstutzen seines Vorworts:

Er schrieb an Richard Fischer:

Ich habe Euren schweren Bedenken nach Möglichkeit Rechnung getragen, obwohl ich beim besten Willen nicht einsehen kann, worin die Bedenklichkeit bei etwa der Hälfte (des Parteivorstandes, U)besteht. Ich kann doch nicht annehmen, dass Ihr Euch mit Leib und Seele der absoluten Gesetzlichkeit, der Gesetzlichkeit unter allen Umständen..., kurz der Politik des Hinhaltens der linken Backe dem, der auf die rechte gehauen hat, zu verschreiben beabsichtigt. Im „Vorwärts“ wird die Revolution allerdings manchmal mit eben soviel Kraftaufwand verleugnet, wie früher … gepredigt. Ich bin der Ansicht, dass Ihr nichts dadurch gewinnt, wenn ihr den absoluten Verzicht aufs Dreinschlagen predigt, Glauben tuts kein Mensch, und keine Partei irgendeines Landes geht so weit, auf das Recht zu verzichten, der Ungesetzlichkeit mit den Waffen in der Hand zu widerstehen. Auch muss ich darauf Rücksicht nehmen, dass auch Ausländer – Franzosen, Engländer, Schweizer, Österreicher, Italiener etc. - meine Sachen lesen, und vor denen kann ich mich platterdings nicht so weit kompromittieren.“

An Karl Kautsky schrieb er:

Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im Vorwärts einen Auszug aus meiner Vorrede ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, dass ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit … dastehe. Ich werde (Wilhelm, U) Liebknecht sehr bestimmt darüber meine Meinung sagen und auch denjenigen, die, wer sie auch seien, ihm diese Gelegenheit gegeben haben, meine Meinung zu entstellen, und das, ohne mir ein Wort mitzuteilen.“

An Paul Lafargue:

Liebknecht hat mir gerade einen schönen Streich gespielt. Er hat meiner Einleitung … alles das entnommen, was ihm dazu dienen konnte, die um jeden Preis friedliche und Gewaltanwendung verwerfende Taktik zu stützen, die es ihm seit einiger Zeit, besonders in diesem Augenblick zu predigen beliebt, wo man in Berlin Ausnahmegesetze vorbereitet. … Ich bitte sie also, den vollständigen Artikel abzuwarten, ehe sie urteilen.“

Darauf wartete Lafargue vergeblich – denn Engels starb noch im gleichen Jahr.

Tatsächlich wurde Engels Vorrede von den Führern der deutschen Sozialdemokratie Jahrzehnte lang nicht vollständig veröffentlicht, obwohl das vollständige Manuskript im Besitz der SPD-Führung war.

Nach dem Tod von Engels behaupteten Eduard Bernstein und andere SPD Führer, diese von ihnen zurechtgestutzte Version sei das politische Vermächtnis von Engels, in dem er am Ende seines Lebens einen reformistischen, parlamentarischen Standpunkt vertreten habe.

Der vollständig Text der Vorrede wurde zum ersten mal erst 1930 in der Sowjetunion veröffentlicht.

So wurde z.B. folgende Ausführung von Engels gestrichen:

Heißt das, dass in Zukunft der Straßenkampf keine Rolle mehr spielen wird? Durchaus nicht. Es heißt nur, dass die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese werden dann wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolution, … den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.“

Von einem friedfertigen Parlamentarier, einem sich von der Revolution abgewendeten Friedrich Engels kann also überhaupt keine Rede sein!

Aber selbst in der durch Streichungen veränderten Fassung des Vorworts blieb der revolutionäre Charakter darin gewahrt.

Es brauchte schon eine grobe antikommunistische Fälschung und Entstellung, um dieses Vorwort im reformistischen und opportunistischen Sinn auszulegen, wie es Bernstein und Konsorten nach Engels Tod taten. Der Kern dieses Vorgehens der SPD-Führung war der Antikommunismus.

Es war übrigens nicht das erste Mal, dass Auffassungen und prinzipielle Kritiken von Marx und Engels unterdrückt werden sollten. Bereits 20 Jahre vorher – 1875 – hatte Wilhelm Liebknecht die Kritik von Marx und Engels am Gothaer Programm zur geheimen Verschlusssache gemacht und der Partei vorenthalten. Er und die Führung der deutschen Sozialdemokratie leisteten schon zu dem Zeitpunkt erbitterten Widerstand gegen die grundlegenden Positionen von Marx und Engels und verdrehten die Wirklichkeit.

Der Einfluss dieses Antikommunismus wirkte - sicherlich auch verwirrend - auf dem Gründungsparteitag der KPD 24 Jahre später (1919) eben in der Rede von Rosa Luxemburg. Sie wird den vollständigen Text von Engels Vorrede mit größter Wahrscheinlichkeit auch nicht gekannt haben. Was aber nicht die Frage beantwortet, warum sie die Verleumdung von Engels so leichtfertig übernahm.

Und so hat man im Dezember 2020 auf einer Engels-Film-Veranstaltung in Bremen noch ganz aktuell und konkret zu tun mit den Folgen des Antikommunismus von Wilhelm Liebknecht, Eduard Bernstein und Konsorten vor 125 Jahren.

Dass und wie wir jetzt dem Antikommunismus offensiv entgegentreten und helfen, damit fertig zu werden – hat entscheidende Bedeutung weit über die nächsten Jahrzehnte hinaus.

Bitte sprecht mit der Teilnehmerin, die – soweit mir bekannt ist – der Linkspartei nahe steht. Sie ist hier dem Antikommunismus aufgesessen und trägt ihn – ob bewusst oder unbewusst – weiter mit. Es ist ja auch interessant, dass in der Bremer Linkspartei offenbar solche Verleumdungen gegen Engels subtil kursieren – sie zugleich aber kein Problem damit haben, Sympathisanten und Organisatoren der Querdenker-Bewegung in ihren Reihen zu dulden.

Wenn die Teilnehmerin wirklich für die Interessen der Arbeiterklasse eintreten will – dann gehört sie in die MLPD.

Herzlichen Gruß

U

Eine Antwort auf den Brief schrieb Dieter Klauth am 12.6.21

Liebe Genossen,

zu dem Brief „Ist Friedrich Engels am Ende seines Lebens zum bürgerlichen Parlamentarier geworden?“, der am 10. Juni 21 auf die RW-Homepage gesetzt wurde, möchte ich folgendes ergänzen: Schon 1969 machte Willi Dickhut im REVOLUTIONÄREN WEG 2 auf die darin angesprochene Verfälschung Engels` aufmerksam und schrieb: „Heißt das, das Engels gegen den bewaffneten Aufstand, gegen den gewaltsamen Weg ist? Mit dieser Textstelle haben die revisionistischen Führer der SPD jahrzehntelang ihren verräterischen Kurs begründet. Auf Anweisung des Parteivorstands waren jedoch der folgende Absatz und einige andere Stellen gestrichen, d. h. nicht veröffentlicht worden: … “ (zitiert aus der überarbeiteten Sammelausgabe des RW 1-3/70 von 1984, S. 96)

Der RW 2 ging damals nicht auf die Wirkung dieser Fälschung auf Rosa Luxemburg ein, statt dessen wies er auf Lenins Auffassung zu dieser Frage hin, die in dessen Schrift „Staat und Revolution“ enthalten ist, in der er den Opportunismus der deutschen Sozialdemokratie kennzeichnete. Auch Rosa Luxemburg, der die sinnentstellende Kürzung des Textes von Engels nicht bekannt war, hob in ihrer Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD auf die Kritik am Opportunismus ab. Sie stellte dar, dass Engels durch die SPD-Reichstagsfraktion, namentlich durch Bebel, dazu gedrängt worden sei, „jene Vorrede zu schreiben, da es jetzt die dringende Notwendigkeit sei, die deutschen Arbeiter vor anarchistischen Entgleisungen zu retten“. (Rosa Luxemburg - „Rede zum Programm. Gehalten auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 29. - 31. Dezember 1918 zu Berlin“, Nachdruck Neuer Malik, Berlin, S. 8) Sie „entschuldigte“ Engels damit, dass er im Ausland gelebt habe und die konkrete Lage dadurch nicht hätte erfassen können. Zugleich versicherte sie, „daß Engels und, wenn er gelebt hätte Marx die ersten gewesen wären, um mit aller Kraft hiergegen zu protestieren und mit mächtiger Hand den Karren zurückzureißen, daß er nicht in den Sumpf hinabrollte. Aber Engels starb im gleichen Jahre als er sein Vorwort schrieb. Im Jahre 1895 haben wir ihn verloren; seitdem ging leider die theoretische Führung aus den Händen von Engels in die Hände eines Kautsky über, und da erleben wir die Erscheinung, daß jede Auflehnung gegen den Nur-Parlamentarismus, die Auflehnung, die auf jedem Parteitag von links kam, getragen von einer größeren oder kleineren Gruppe von Genossen, die in zähem Kampf gegen die Versumpfung standen, über deren drohende Folgen sich jeder klar werden mußte, - daß jede solche Auflehnung als Anarchismus, Anarchosozialismus, mindestens aber Antimarxismus gestempelt wurde.“ (ebd., S. 8-9)

Es trifft nicht zu, wenn der Genosse Rosa Luxemburg unterstellt, sie habe den Parteitag dazu aufgerufen, die Jahre von 1848 bis 1895 beiseite zu schieben. Sie stellte vielmehr dar, dass man jetzt – in der Revolution von 1918 – an einen Punkt von 1848 (auch einem Revolutionsjahr!) zurück gelangt sei: „...die historische Entwicklung hat dahin geführt, daß wir heute zu der Auffassung zurückkehren, die Marx und Engels nachher als eine irrtümliche aufgegeben hatten. Sie hatten sie mit gutem Grunde damals als eine irrtümliche aufgegeben. Die Entwicklung des Kapitals, die inzwischen vor sich gegangen ist, hat uns dahin gebracht, daß das, was damals Irrtum war, heute Wahrheit geworden ist; und heute ist unmittelbare Aufgabe, das zu erfüllen, wovor Marx und Engels im Jahre 1848 standen.“ (ebd., S. 5) Es trifft ebenfalls nicht zu, dass Rosa Luxemburg Engels in einen „Parlamentarier“ und einen „Revolutionär“ hätte teilen wollen. Sie wurde durch die SPD-Revisionisten getäuscht, zweifelte deshalb aber nicht an Engels.

Von der Partei „Die Linke“ wird dagegen versucht, Rosa Luxemburg gegen den Marxismus-Leninismus in Stellung zu bringen, z. B. auch dadurch, dass ihre zeitweise falschen Ansichten über Lenin und die Bolschewiki in und nach der Oktoberrevolution von 1917 als ihre letzten Worte ausgegeben werden. Sie fällt damit einer ähnlichen Fälschung zum Opfer wie seinerzeit Engels. Die unbefugte Veröffentlichung von Schriften aus ihrem Nachlass durch antikommunistische Elemente, die die selbstkritische Überwindung der darin getroffenen Aussagen verschwiegen, machte das möglich.

Beide Vorgänge zeigen, dass wir als Marxisten-Leninisten heute gefordert sind, den revisionistischen und reformistischen Fälschern entgegen zu treten, die mit ihrem modernen Antikommunismus, der sich scheinheilig auf Rosa Luxemburg beruft, die Revolutionierung der Arbeiter verhindern wollen!

Herzliche Grüße,

Dieter Klauth