RW-Redaktion

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Ist die bürgerliche Medizin eine Wissenschaft? Ein kontroverser Briefwechsel!

Die Frage, ob es sich bei der bürgerlichen Medizin um eine Wissenschaft handelt, spielt bei der Beurteilung des Krisenmanagements in der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie eine wichtige Rolle.

Von RW-Redaktion

G/23.9.2020


betr. Antwort auf Brief vom 17.9.2020 / Deine Fragen zum Interview mit Gabi Fechtner, Parteivorsitzende der MLPD in der Roten Fahne 17/2020


Lieber A,

danke für deine kritischen Nachfragen und die gründliche und schöpferische Befassung mit dem Interview.

In Absprache mit der politischen Führung des ZK beantworte ich diese.

Eine Deiner Kernfragen ist die nach dem Charakter der heutigen Medizin. Die Medizin hat den Anspruch einer umfassenden Humanwissenschaft, die sich auf die Naturwissenschaften stützen muss, aber weit über sie hinausgeht. Sie muss die Beziehungen Mensch – Umwelt – Gesellschaft erfassen, den dialektischen Zusammenhang von Psyche und körperlichen Funktionen erfassen, also allseitige dialektische Zusammenhänge herstellen. Das ist der Medizin zu keinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung gelungen. Auch nach der Aufklärung und bürgerlichen Revolution gelang es nicht, ein geschlossenes materialistisches wissenschaftliches System der Medizin zu entwickeln.

Im Gegensatz zu Naturwissenschaften wie Physik und Chemie, die damals auch durch eine bestimmte bewusste Anwendung der dialektischen Methode zu geschlossenen wissenschaftlichen Systemen wurden, ist dies in der Medizin nicht gelungen. Darauf bezieht sich unsere Kritik von der Medizin als Pseudowissenschaft.

Einzelne Ärzte wie Robert Koch oder Georg Büchner hatten zwar wichtige Erkenntnisse zum Zusammenhang von Armut, Hygiene und Krankheiten herausgearbeitet, aber die Medizin im Dienste der Herrschenden musste eine allseitige wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge von Gesundheit, Krankheit und kapitalistischer Ausbeutung unterdrücken. Weltanschaulich wirkte und wirkt hier der Positivismus besonders stark.

Wir haben heute natürlich einen gewaltigen Zuwachs an Einzelerkenntnissen, einen ungeheuren Anwachs von Wissen, was aber auf dieser Stufe der unsystematischen Einzelerkenntnisse noch keine Wissenschaft ausmacht.

Du hast in dieser Beziehung recht: Es gibt natürlich viele wissenschaftlich begründete, auch objektiv spontan materialistische und zum Teil auch dialektische Einzelerkenntnisse - die aber ohne eine zusammenfassende theoretische Grundlage allgemein noch keine Wissenschaft ausmachen! Die Verabsolutierung von Einzelerkenntnissen ohne ihre Einordnung in den Gesamtzusammenhang kann sogar dann ins Gegenteil umschlagen.

Die Medizin arbeitet auch heute noch nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum, die Medizinphilosophie der bürgerlichen Medizin ist gezeichnet durch folgenden Kampf:

Die Vertreter der „Evidenzbasierten Medizin“ bestreiten, dass über einzelne Zusammenhänge hinaus systemisch geforscht werden kann und erklären alles, was nicht über Doppelblindstudien ermittelt werden kann, für nicht relevant. Sie blenden den Menschen als Individuum und als gesellschaftliches Wesen aus. Ihr bürgerlicher Gegenpol ist die sogenannte „Ganzheitsmedizin“, die in einer reinen Individualisierung die ganzen Naturwissenschaften über Bord wirft und oft im Mystizismus und der Esoterik landet. Es gibt einen ganz offenen Versuch, die Lager zu versöhnen, indem Materialismus und Idealismus vermischt und versöhnt werden sollen, so formulieren es die Väter des sogenannten biopsychosozialen Modells oder der „integrativen Medizin“. Das klammert die Frage des Gesellschaftssystems und der chronischen Umweltkrise ebenfalls aus.

Wir erleben sogar heute, dass unter dem zersetzenden Einfluss der Krise der bürgerlichen Ideologie Naturwissenschaften wieder als wissenschaftliches System zerfallen und sich in Pseudowissenschaften zurückverwandeln. Wir kämpfen darum, alle teils hervorragenden wissenschaftlichen Einzelerkenntnisse zu würdigen und aufzugreifen, aber auch ein Bewusstsein über ihre Verwandlung in Destruktivkräfte unter dem kapitalistischen Diktat zu schaffen.

Der RW 36 will die Krise der bürgerlichen Ideologie zurecht als eine zentrale Frage der heutigen Zeit mit entscheidender Bedeutung für den Klassenkampf behandeln.

In der Zeit des Sozialismus in der VR China oder der Sowjetunion wurden zwar wichtige Anstrengungen unternommen, die Medizin unter Losungen wie „Dem Volke dienen“ weiter zu entwickeln, teils auch mit hervorragenden Erfolgen. Aber es gelang auch hier noch nicht, in der Medizin ein geschlossenes wissenschaftliches System auf der Grundlage des dialektischen Materialismus zu entwickeln. Diese Frage stand auch weniger im Mittelpunkt, sondern das dringende Bedürfnis, überhaupt ein funktionierendes Gesundheitswesen im Dienst der Massen aufzubauen.

In der Coronakrise kann man die verschiedenen bürgerlichen Medizin-Philosophien und ihre praktischen Auswirkungen gut erkennen. Das Robert-Koch-Institut betreibt Positivismus mit einer teils irreführenden Datenbasis, mit dem „Highlight“, dass die Zahl der Genesenen einfach „geschätzt“ wird, in Ignoranz der häufigen Chronifizierung von Covid-19. Der Virologe Professor Streek wurde von NRW-Ministerpräsident Laschet für dessen Öffnungsstrategie eingesetzt. Professor Drosten redet von der „reinen Wissenschaft“ und dass die Politiker selbst daraus Schlüsse ziehen müssen und „Kompromisse“ finden usw. Alle gemeinsam vermeiden sie ängstlich jede prinzipielle Kritik am Kapitalismus und drücken sich um die Zusammenhänge von Pandemie-Entwicklung, Arbeits- und Lebensbedingungen, Umweltkrise, Weltwirtschaftskrise und allseitige Krise des Imperialismus herum. Die Impfgegner, Esoteriker und faschistischen Kräfte leugnen die gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, garniert mit ihrer reaktionären Kritik der „Schulmedizin“.

Das ist ein spannendes Thema, das auch eine wachsende Bedeutung bekommt. Auch die großen Massenerkrankungen von Krebs bis Diabetes fordern dringend nach einer Medizin als wirkliche Humanwissenschaft, befreit vom Diktat der Profitwirtschaft und den Fesseln der bürgerlichen Ideologie.

Herzliche Grüße

G

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A, 03.11.2020


Lieber G,

für Deine sehr ausführliche und vielseitige konkrete Antwort bedanke ich mich.

Nach ein paar Tagen des Nachdenkens habe ich bemerkt, dass mir der Anspruch des „geschlossenen wissenschaftlichen Systems“ Probleme bereitet. Ich habe mich daraufhin mit den von Stefan Engel dargelegten 17 Merkmalen für Wissenschaft befasst. Doch auch das hat mich noch nicht überzeugt, dass wir die Charakterisierung der Medizin als Pseudowissenschaft vornehmen müssen. Es sei denn, wir gehen dazu über, eine ganze Reihe von Wissenschaften ebenso als Pseudowissenschaften zu charakterisieren, allen voran mein „eigenes Fach“ - ich hatte mal Volkswirtschaft studiert. Wir benötigen die tiefgehende Kritik an den Auswirkungen des Positivismus und der bürgerlichen Ideologie auf die Wissenschaften, das ist klar! Aber benötigen wir die Qualifizierung der bürgerlichen Wissenschaften als Pseudowissenschaften? Ich sende meine Bemerkungen zu den 17 Merkmalen mit, daraus geht hervor, wo und weshalb ich damit meinen Widerspruch nicht klären konnte.


Herzliche Grüße

A

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G/17.11.20


Lieber A,

wir haben bei der Entwicklung einer Wissenschaft folgende Prozesse: Einzelerkenntnisse werden materialistisch gesammelt, durch Beobachtung, Messung, Experiment, dann geordnet, systematisiert, daraus mit Hilfe der dialektischen Methode eine in sich geschlossene Theorie entwickelt, die in Übereinstimmung mit den praktischen Erkenntnissen steht und reproduzierbar auch in der Praxis zu den erwarteten Ergebnissen führt. Das englische Wort Science bedeutet eigentlich nur Wissen, Wissenschaft ist aber mehr als Wissen.

Engels schrieb: „Um dieselbe Zeit (gemeint ist 1848) aber nahm die empirische Naturwissenschaft einen solchen Aufschwung und erreichte so glänzende Resultate, daß dadurch nicht nur eine vollständige Überwindung der mechanischen Einseitigkeit des 18. Jahrhunderts möglich wurde, sondern auch die Naturwissenschaft selbst durch den Nachweis der in der Natur selbst vorhandenen Zusammenhänge der verschiedenen Untersuchungsgebiete (der Mechanik, Physik, Chemie, Biologie etc.) aus einer empirischen in eine theoretische Wissenschaft und bei der Zusammenfassung des Gewonnenen in ein System der materialistischen Naturerkenntnis sich verwandelte.“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Aus der Geschichte der Wissenschaft, Marx/Engels, Werke, Bd. 20, Seite 467)

Dieser Übergang zur Naturwissenschaft ist also gekennzeichnet durch den Übergang von der empirischen zur theoretischen Wissenschaft.

Engels fährt fort: „Die des Mystizismus entkleidete Dialektik wird eine absolute Notwendigkeit für die Naturwissenschaft, die das Gebiet verlassen hat, wo die festen Kategorien, gleichsam die niedre Mathematik der Logik, ihr Hausgebrauch, ausreichten. Die Philosophie rächt sich posthum an der Naturwissenschaft dafür, daß diese sie verlassen hat – und doch hätten die Naturforscher schon an den naturwissenschaftlichen Erfolgen der Philosophie sehn können, daß in all dieser Philosophie etwas stak, das auch auf ihrem eignen Gebiet ihnen überlegen war...“ (Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Naturwissenschaft und Philosophie, Marx/Engels, Bd. 20, Seite 476)

Marx und Engels haben nur für die Naturwissenschaften anerkannt, dass man von einer wirklichen Wissenschaft sprechen kann.

Die bürgerliche Ökonomie (Volkswirtschaft) hat in der Tat mit Wissenschaft nichts zu tun – im Gegensatz zur Politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus, die auf der Grundlage des dialektischen Materialismus steht und nicht auf der Grundlage, die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu leugnen und beschönigen zu müssen.

Die Medizin hat es nie geschafft, zu einem geschlossenen theoretischen System zu finden. Geschlossen heißt hier in sich schlüssig, nicht ein für allemal fertig, das würde natürlich dem Grundsatz widersprechen, dass sich in Natur und Gesellschaft, da alles in Bewegung, auch alles verändert, und die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur hier immer neue Seiten und Zusammenhänge abringen muss, neue Erscheinungen und wesentliche Veränderungen qualifizieren und theoretisch verarbeiten muss. Das ist der Medizin nie gelungen. Hunderte teils widersprüchliche Verfahren und Methoden stehen nebeneinander und gegeneinander und bedingen die Krise der Medizin auf weltanschaulichem Gebiet.

Die Medizin hat es durchaus zu wichtigen und bahnbrechenden Einzelerkenntnissen gebracht und auf Teilgebieten auch gesammelt und geordnet, aber eben nicht allseitig und nicht mit der dialektischen Methode – die ist aber heute Grundvoraussetzung für jede wirkliche Wissenschaft!

Die alte Untersuchungs- und Denkmethode, die Hegel die metaphysische nennt, die sich vorzugsweise mit Untersuchung der Dinge als gegebener fester Bestände beschäftigt und deren Reste noch stark in den Köpfen spuken, hatte ihrerzeit eine große geschichtliche Berechtigung. Die Dinge mußten erst untersucht werden, ehe die Prozesse untersucht werden konnten. Man mußte erst wissen, was ein beliebiges Ding war, ehe man die an ihm vorgehenden Veränderungen wahrnehmen konnte. Und so war es in der Naturwissenschaft. … Als aber diese Untersuchung so weit gediehen war, daß der entscheidende Fortschritt möglich wurde, der Übergang zur systematischen Untersuchung der mit diesen Dingen in der Natur selbst vorgehenden Veränderungen, da schlug auch auf philosophischem Gebiet die Sterbestunde der alten Metaphysik. Und in der Tat, wenn die Naturwissenschaft bis Ende des letzten Jahrhunderts vorwiegend sammelnde Wissenschaft, Wissenschaft von fertigen Dingen war, so ist sie in unserem Jahrhundert wesentlich ordnende Wissenschaft, Wissenschaft von den Vorgängen, vom Ursprung und der Entwicklung dieser Dinge und vom Zusammenhang, der diese Naturvorgänge zu einem großen Ganzen verknüpft.“ (Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Marx/Engels, Werke, Bd. 21, Seite 294)

Es wird ein wichtiger und strategisch bedeutender Prozess, den RW 36 „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Antikommunismus“ zu schreiben und herauszugeben. Für dieses weltanschauliche Vorgefecht der internationalen sozialistischen Revolution entbrennt natürlicherweise auch jetzt unter uns das eine oder andere Vorgefecht.

Wenn wir das vorwärtstreibend klären, dann profitieren wir nicht nur in unserer politischen Praxis, sondern auch für die Ausarbeitung der Linie, der Theorie des Marxismus-Leninismus.

Herzliche Grüße

G