The Guardian

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Interview mit Lenin zu den Friedenverhandlungen zur Beendigung des ersten Weltkriegs

Von W. T. Goode
Interview mit Lenin zu den Friedenverhandlungen zur Beendigung des ersten Weltkriegs

Vorspann der Redaktion

Der „Guardian“ gehört zu den bekanntesten bürgerlichen Zeitungen in Großbritannien mit internationalem Ruf und hatte am 06.03.20 über die bevorstehende Errichtung der Lenin-Statue am 14.03.20 in Gelsenkirchen berichtet. „Sieg für die Gelsenkirchener linke Partei MLPD (…) Gelsenkirchen, im Zentrum des Ruhrgebiets (…) wird die erste westdeutsche Stadt mit einer Statue des Gründers der russischen kommunistischen Partei sein.“ https://www.theguardian.com/world/2020/mar/06/first-lenin-statue-western-germany-erected-gelsenkirchen

In der Internet-Ausgabe des Guardian findet man ein Interview mit Lenin, das am 21.10.1919 veröffentlicht wurde. Es ist ein Bericht des damaligen Korrespondenten des „Guardian“, W. T. Goode.

https://www.theguardian.com/media/from-the-archive-blog/2011/may/21/the-guardian-interviews-lenin-1919

Es wird Bezug genommen auf William C. Bullitt. Er war US-Diplomat, arbeitete in der Verhandlungsdelegation Wilsons bei der Pariser Friedenskonferenz, die nach dem I. Weltkrieg vom 18. Januar 1919 bis zum 21. Januar 1920 stattfand. Ihr Ergebnis war der Friedensvertrag von Versailles. Anfang 1919 wurde Bullitt von US-Präsident Wilson nach Moskau geschickt, um die Stabilität der Regierung der Bolschewiki zu beurteilen. Er kehrte mit der Empfehlung zurück, dass die USA die Sowjetunion anerkennen sollte. Wilson lehnte dies ab. Daraufhin trat Bullitt zurück und wendete sich später im US-Senat gegen die Ratifizierung des Versailler Vertrags. Als die USA die Sowjetunion 1933 anerkannten, wurde er von 1934 bis 1936 der erste US-Botschafter in der Sowjetunion. (vgl. Encyclopaedia Britannica; www.britannica.com)

21. Oktober 1919: Ein Interview mit Lenin

Russland hat keine Gesetze gegen Propaganda durch Briten, aber England hat solche Gesetze; deshalb ist Russland das liberalere Land, sagte Wladimir Lenin.

Ein Interview mit Lenin

Drei Fragen und Antworten

Die Bullitt-Friedensbedingungen haben noch Bestand

Die Bolschewiki und Propaganda unter den westlichen Völkern

Bericht von unserem Sonderkorrespondenten W. T. Goode

Es war etwas schwierig, das Interview mit Lenin zu arrangieren. Nicht, weil er unnahbar ist – er umgibt sich mit so wenigen Äußerlichkeiten oder Vorsichtsmaßnahmen wie ich –, sondern weil seine Zeit so kostbar ist. Mehr noch als die anderen Kommissare ist er ständig beschäftigt. Aber endlich hatte ich mir einen freien Moment gesichert und fuhr von meinem Zimmer aus quer durch die Stadt zu einem der Tore des Kreml.

Zu Beginn meines Aufenthalts hatte ich mir einen Passierschein besorgt, der mich von jeder möglichen Belästigung durch Beamte oder Polizisten befreite und mir Zutritt gab zum Kremlgelände.

Der Zugang zum Kreml wird natürlich bewacht; schließlich ist der Kreml der Sitz der Exekutivregierung. Aber die Formalitäten sind nicht größer als die beim Buckingham-Palast oder englischen Unterhaus. Ein kleines Büro aus Holz jenseits der Brücke, wo ein Zivilist Passierscheine ausstellt, und ein paar Soldaten, gewöhnliche russische Soldaten, von denen einer den Passierschein entgegen nimmt und überprüft, das war alles, was an diesem Eingang zu sehen war.

Es heißt immer, dass Lenin von Chinesen bewacht wird. Hier gab es keine Chinesen. Ich fuhr auf das Kremlgelände, den Hügel hinauf und zu dem Gebäude hinüber, in dem Lenin lebt, in Richtung der großen Plattform, auf der früher die Alexanderstatue stand, die entfernt worden war. Am Fuße der Treppe standen zwei weitere Soldaten, russische Jugendliche, aber immer noch keine Chinesen. Ich fuhr mit einem Aufzug in das oberste Stockwerk, wo ich zwei andere junge russische Soldaten antraf, aber keine Chinesen, genauso wenig wie bei einem der drei Besuche, die ich dem Kreml abstattete.

Ich hängte meinen Hut und meinen Mantel im Vorzimmer auf, ging durch einen Raum mit Sekretären bei der Arbeit und betrat den Raum, in dem das Exekutivkomitee des Rats der Volkskommissare seine Sitzungen abhält – mit anderen Worten, den Sitzungssaal der Regierung der Sowjetrepublik.

Ich hatte meine Verabredung sehr pünktlich eingehalten. Mein Begleiter ging weiter (in Russland gehen die Zimmer ineinander über), um Lenin meine Ankunft mitzuteilen. Ich folgte in den Raum, in dem Lenin arbeitet, und wartete eine Minute auf ihn. Lassen Sie mich hier sagen, dass es in diesen Zimmern keinerlei Prunk gibt.

Die Zimmer sind gut und solide ausgestattet, der Sitzungssaal ist hervorragend zweckmäßig eingerichtet, aber alles ist einfach. Über allem liegt eine Atmosphäre harter Arbeit. Von dem pompösen Glanz, von dem ich so viel gehört hatte, keine Spur.

Ich hatte gerade genug Zeit, um diese Beobachtungen zu machen, als Lenin den Raum betrat. Er ist mittelgroß, etwa fünfzig Jahre alt, aktiv und wohlproportioniert. Seine Gesichtszüge scheinen auf den ersten Blick ein leicht chinesisches Aussehen zu haben; sein Haar und sein spitzer Bart sind rötlich-braun. Der Kopf ist schön gewölbt und seine Stirn breit und ziemlich hoch. Er hat einen angenehmen Ausdruck beim Sprechen. Man kann sein Auftreten tatsächlich ausgesprochen einnehmend nennen.

Er spricht deutlich mit einer gut modulierten Stimme. Während des gesamten Interviews zögerte er nie oder zeigte auch nur die geringste Unklarheit. Der Eindruck, den er bei mir hinterließ, war eindeutig der eines klaren, kühlen Verstands, eines Mannes, der sich selbst und sein Thema absolut im Griff hat und sich mit einer ebenso verblüffenden wie erfrischenden Klarheit ausdrückt. Mein Begleiter hatte sich an die andere Seite des Tisches gesetzt, um bei Bedarf als Dolmetscher zu fungieren, was aber nicht notwendig war.

Nach ein paar einleitenden Worten fragte ich, ob ich Französisch oder Deutsch sprechen soll. Er antwortete, dass er lieber Englisch sprechen würde, wenn ich nichts dagegen hätte; er sei in der Lage, allem zu folgen, wenn ich nur deutlich und langsam sprechen würde. Ich stimmte zu. Er hat nicht zu viel versprochen, denn nur einmal während der dreiviertel Stunde, die das Treffen dauerte, stockte er bei einem Wort, und auch dann nur für einen Augenblick; er hat fast sofort erfasst, was ich meinte.

Ich sollte hier erwähnen, dass mich der Gedanke an dieses Interview von dem Augenblick an beschäftigt hatte, als ich nach Russland eingereist war. Es gab so viele Dinge, die ich wissen wollte, Hunderte von Fragen kamen mir in den Sinn. Um die Antworten zu erhalten, nach denen ich suchte, wäre ein stundenlanges, weitschweifiges Gespräch nötig gewesen, wenn ich meine Arbeit mit diesem Interview begonnen hätte. Aber weil ich es bis zum Schluss aufhob, hat mir meine Arbeit in diesem Monat viele Fragen beantwortet; andere wurden durch ein Interview per Funktelegrafie geklärt, das ich von einer Gruppe amerikanischer Journalisten von Lyon aus erhalten hatte.

Es war also angebracht, dass ich die mir gegebene knappe Zeit, eingeschoben zwischen zwei wichtige Besprechungen, bestmöglich nutzte. Daher hatte ich meine ganze Neugier auf drei Fragen reduziert, die zuverlässig nur Lenin selbst, der Regierungschef der Sowjetrepublik, beantworten konnte. Er wusste ziemlich genau, wer ich war; er wusste [nicht], was ich wollte. Von einer Vorbereitung seinerseits konnte also keine Rede sein.

Ich hatte über meine Fragen nur mit einem einzigen Menschen gesprochen, dem mich begleitenden Kommissar. Dieser wurde sehr bedrückt und meinte, dass Lenin sie nicht beantworten würde.

Zu seiner echten Verwunderung wurden die Fragen prompt, einfach und entschieden beantwortet. Als das Interview beendet war, drückte mein Begleiter ganz unbefangen sein Erstaunen darüber aus. Die Gesprächsführung wurde mir überlassen. Ich begann sofort und wollte wissen, wie weit die Vorschläge, die Herr Bullitt zur Konferenz in Paris mitgebracht hatte, noch Bestand hätten. Lenin antwortete, dass sie noch Bestand haben, abgesehen von sich ergebenden Modifizierungen durch die sich ändernde militärische Lage. Später fügte er hinzu, dass in der Vereinbarung mit Bullitt festgelegt worden war, dass die sich ändernde militärische Lage zu Änderungen führen kann.

Er fuhr fort, dass Bullitt nicht in der Lage sei, die Stärke des britischen und amerikanischen Kapitalismus zu verstehen, dass aber, wenn Bullitt Präsident der Vereinigten Staaten wäre, schon bald Frieden geschlossen würde. Dann nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf und fragte nach der Haltung der Sowjetrepublik zu den kleinen Nationen, die sich vom Russischen Reich abgespalten und ihre Unabhängigkeit proklamiert hatten.

Er antwortete, dass die Unabhängigkeit Finnlands im November 1917 anerkannt worden ist; dass er (Lenin) persönlich dem damaligen Oberhaupt der Finnischen Republik, Svinhufvud, das Papier übergeben hat, auf dem diese Anerkennung offiziell erklärt wurde; dass die Sowjetrepublik bereits zuvor angekündigt hat, dass keine Soldaten der Sowjetrepublik die Grenze mit der Waffe in der Hand überqueren werden; dass die Sowjetrepublik beschlossen hat, einen neutralen Streifen oder eine neutrale Zone zwischen ihrem Territorium und Estland zu schaffen, und dies auch öffentlich erklären wird; dass es einer ihrer Grundsätze ist, die Unabhängigkeit aller kleinen Nationen anzuerkennen; und dass sie gerade erst die Unabhängigkeit der Baschkirischen Republik anerkannt haben – und fügte hinzu, dass die Baschkiren ein schwaches und rückständiges Volk sind.

Bei der dritten Frage des Interviews ging es darum, welche Garantien gegen offizielle Propaganda unter den westlichen Völkern gegeben werden können, falls vielleicht Beziehungen zur Sowjetrepublik aufgenommen würden. Seine Antwort lautete: Sie haben Bullitt gegenüber erklärt, dass sie zur Unterschrift unter ein Abkommen bereit sind, keine offizielle Propaganda zu betreiben. Als Regierung sind sie zu einer Selbstverpflichtung bereit, dass keine offizielle Propaganda stattfinden soll. Wenn Privatpersonen Propaganda betreiben, so tun sie dies auf eigenes Risiko und unterliegen den Gesetzen des Landes, in dem sie handeln.

Russland hat keine Gesetze gegen Propaganda durch Briten, aber England hat solche Gesetze; deshalb ist Russland das liberalere Land, sagte Lenin.

Er sagte, sie würden der britischen, französischen oder amerikanischen Regierung eigene Propaganda erlauben. Er protestierte gegen das britische „Gesetz zur Verteidigung des Reiches“. Und zur Pressefreiheit in Frankreich erklärte er, er habe gerade Henri Barbusses Roman „Clarté“ gelesen, in dem zwei Stellen zensiert sind. "Man zensiert Romane im freien, demokratischen Frankreich!“

Ich fragte Lenin, ob er eine allgemeine Erklärung abgeben will. Er antwortet: Das Wichtigste, was er zu sagen hat, ist, dass das Sowjetsystem das beste ist, dass die englischen Arbeiter und Landarbeiter es akzeptieren würden, wenn sie es kennen würden. Er hofft, dass die britische Regierung nach Friedensbeginn die Veröffentlichung der sowjetischen Verfassung nicht verbietet; das Sowjetsystem ist sogar jetzt der moralische Sieger, und den Beweis für diese Aussage sieht man in der Verfolgung der sowjetischen Literatur in freien, demokratischen Ländern.

Die mir zugeteilte Zeit war abgelaufen. Da ich wusste, dass er anderswo gebraucht wurde, erhob ich mich und dankte ihm. Und nachdem ich den Weg durch den Sitzungssaal und das Büro der Sekretäre zur Treppe und zum Hof mit den jungen russischen Wachen zurückgelegt hatte, holte ich meine Droschke und fuhr quer durch Moskau zurück zu meinem Zimmer, um über meine Begegnung mit Wladimir Uljanow nachzudenken.



Hinweis der Redaktion: Die folgenden „Bullitt-Friedens­bedingungen“ sind kein Bestandteil des Interviews, sondern eine Art „redaktionelle Ergänzung“. Sie sind dokumentiert auf marxists.org und wurden mit übersetzt. Die Quelle ist dort allerdings nicht angegeben. Wir veröffentlichen sie dennoch als Hintergrundinformation für das Interview.

Anhang:

Bullitt-Friedensbedingungen

In dem Bericht von seiner Mission in Sowjetrussland, den Herr Bullitt dem Auswärtigen Ausschuss des Senats vorlegte, heißt es, er habe einen Brief von Herrn Kerr, dem Privatsekretär von Lloyd George, erhalten, in dem nach Herrn Kerrs Ansicht die Voraussetzungen für einen Friedensschluss mit den Bolschewiki enthalten sind. Er nahm ihn mit nach Moskau und erhielt von der bolschewistischen Regierung einen „Entwurf für einen Friedensvorschlag“, den die Bolschewiki ihrerseits zu akzeptieren bereit seien, falls er von den Alliierten offiziell eingebracht würde. Dieser „Friedensvorschlag“ kann wie folgt zusammengefasst werden:

Alle Regierungen, die sich auf dem Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches gebildet haben, behalten Vollmacht über die von ihnen bewohnten Gebiete, bis die Einwohner erklären, welche Regierungsform sie bevorzugen.

Keine dieser Regierungen stürzt gewaltsam eine andere.

Die Blockade gegen Russland wird aufgehoben.

Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen.

Alle Erzeugnisse, die es in Russland gibt oder dort ankommen, sind allen Klassen der Bevölkerung zugänglich, ohne jeden Unterschied.

Alle oben genannten russischen Regierungen gewähren vollständige Amnestie gegenüber politischen Gegnern, inklusive Soldaten.

Die Alliierten Truppen verlassen Russland.

Gleichzeitige Reduzierung der sowjetischen und antisowjetischen Armeen auf Friedensstärke.

Alle oben genannten russischen Regierungen anerkennen gemeinsam die finanziellen Verpflichtungen des ehemaligen Russischen Reiches.

Aufenthaltsrecht und Freizügigkeit aller russischen Bürger in allen Teilen Russlands.

Rückführung aller Kriegsgefangenen.

Herr Bullitt sagte, die Sowjetregierung habe eine weitere Klausel hinzufügen wollen, nämlich:

Die Sowjetregierung ist sehr bestrebt, eine halboffizielle Garantie von der amerikanischen und britischen Regierung zu bekommen, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles tun, damit Frankreich den Bedingungen des Waffenstillstands nachkommt.

Herr Bullitt sagt jedoch, er habe sich geweigert, diese Klausel in sein finales Dokument aufzunehmen.