Willi Dickhut
Geschichtliche Veränderungen und die Taktik
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1980
13.2.80
Lieber Genosse Willi,
ich möchte Dir gerne zu Deinem Buch schreiben, da es mich beim Lesen und auch jetzt noch, einige Zeit hinterher, beschäftigt.
Was mir so gut daran gefällt, ist die gelungene Verbindung von Theorie und Praxis in den ersten beiden Kapiteln. Durch die Art der Darstellung wird aber kein Geschichtsbuch daraus, so daß man, will man tatsächlich daraus lernen, »So war's damals . ..« ein zweites oder auch ein drittes Mal lesen muß unter gleichzeitiger Hinzuziehung von historischem Material. So geht mir das zum Beispiel an der Finnland-Frage. Bisher war ich der Meinung, die Einnahme von Finnland durch die Sowjetunion sei falsch gewesen. Jetzt werde ich mir diese Frage noch einmal vornehmen unter Beachtung Deiner Aussagen auf Seite 268.
Ich finde aber, und damit komme ich zu meiner Kritik, daß gerade diese so gute Art und Weise, die theoretischen Einschätzungen mit der jeweiligen Praxis zu verbinden, im dritten Kapitel »Unter dem Druck der westlichen Besatzungsmächte« wesentlich zu kurz kommt. Ich kann jetzt nicht entscheiden, ob das nur mein Problem ist oder ob andere das auch meinen. Deshalb will ich das mal begründen.
Ich habe meine Hausarbeit über die schulpolitischen Vorstellungen der SPD nach 1945 in Berlin geschrieben. Dabei habe ich mich natürlich mit der SPD vor und nach der Vereinigung beschäftigt, mit den anderen relevanten Parteien und den Parteiaufbaubestrebungen in den westlichen Besatzungszonen. Dabei sind mir Kritiken an der Politik der SED/KPD gekommen, die ich aber nie richtig aufarbeiten konnte, weil das vorhandene Material dazu kaum was sagt. Entweder es ist antikommunistisch, dann kann man auch den »bewiesenen« Fakten nicht trauen, oder es stammt von Leuten wie zum Beispiel Staritz, die eine Partei, die zentralistisch geführt wird, strikt ablehnen — dann sind die »Beweise« genausowenig glaubwürdig, oder es kommt aus der DDR, dann
weiß man auch, welche Interessen dahinterstecken.
Ich hatte folgende Kritiken, die ich nicht richtig nachprüfen konnte:
1. Die sofortigen Vereinigungsbestrebungen sind irgendwie nicht richtig.
2. Die Abtrennung der deutschen Ostgebiete und die Aussiedlung der Deutschen aus den abgetrennten Gebieten durch die Sowjetunion ist falsch. Das kann keine Entscheidung eines sozialistischen Staates sein.
3. Die umstandslose Übertragung der politischen Ziele, wie sie für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) anstanden, auf die westlichen Besatzungszonen kann irgendwie nicht richtig sein. Der Hauptfeind in den Westzonen für die Arbeiterklasse waren sehr schnell wieder die Monopole.
Die Fragen haben mich die ganze Zeit interessiert, in Deinem Buch sind sie nur ganz kurz angerissen. Befriedigt hat mich die Auseinandersetzung um die Vereinigung von SPD und KPD. Das ist ein klarer Standpunkt, den Du im Buch einnimmst! Zu anderen Fehlern, die aufgetreten sind, nimmst Du kaum Stellung. Nur auf Seite 525/526 in der Stellungnahme des Genossen Kuno Meisenburg werden einige Punkte angesprochen. Du schreibst vorher über den Ausgang der Wahl von 1946: »Doch trotz der gewaltigen Anstrengungen im Wahlkampf erlitten wir . . . eine Niederlage.«
In der Analyse werden — außer im Kritikpapier von Meisenburg — nicht Ursachen in den Fehlern der KPD gesucht. Wie ist Deine Meinung zu den Thesen von Meisenburg? Ist die Kritik, daß nicht mehr der Sozialismus als Ziel stand, richtig? Was ist Deine Meinung zur Politik der Sowjetunion in bezug auf die Behandlung von Kriegsgefangenen, Abtrennung deutscher Gebiete und Aussiedlung?Die Beantwortung dieser Fragen habe ich im letzten Teil des Buches vergeblich gesucht, meine eigentlich, daß sie reingehören würden, bin mir aber da eben nicht sicher.
Meine Meinung zum letzten Kapitel des Buches ist, daß die detaillierte Beschreibung der Auseinandersetzungen in der Solinger Kommunalpolitik zu Lasten der Klärung allgemeinpolitischer Fragen geht, die aber unbedingt jede Kommunalpolitik und erst recht die Politik der KPD entscheidend beeinflußten.
Noch eine andere kurze Kritik habe ich: Ich finde, Du schreibst zu wenig Deinen eigenen Standpunkt, so wie Du ihn damals hattest, zu bestimmten Positionen der Partei. Beispiel: Du beschreibst (offensichtlich vom heutigen Standpunkt aus) die verhängnisvollen Auswirkungen der Sozialfaschismusthese. Fandest
Du die damals auch schon falsch? Hast Du sie mitgetragen? Wann hast Du sie korrigiert? Wodurch? Durch eigene Erfahrungen oder erst nach der offiziellen Veränderung durch die Partei?
Hattest Du tatsächlich immer ein absolut ungebrochenes Verhältnis zur Partei und zur politischen Arbeit? Keine Schwankungen?
Keine Resignation? Ich meine nicht etwa, daß so was breit ausgewalzt werden sollte. Du läßt aber auch andere persönliche, private Dinge nicht ungesagt, sondern sprichst in kurzen Sätzen darüber. Warum nicht auch kurz gelegentliche Zweifel ansprechen?
Ich kann mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen, daß Du in Deinem ganzen Leben nicht geschwankt hast!
Da mich das Buch beeindruckt hat, habe ich mich hingesetzt und diese Kritik aufgeschrieben.
Viele Grüße von
A.
.
19.2.80
Liebe Genossin A.!
Besten Dank für Deine Kritik vom 13.2., auf die ich kurz eingehen will. Du hast richtig erkannt, daß das dritte Kapitel einen etwas anderen Charakter hat als die ersten beiden. Das liegt an der veränderten Situation: Der Klassenkampf war in Inhalt und Form anders als vordem. Nichtsdestoweniger sind Theorie und Praxis eng miteinander verflochten, nur daß uns im Kampf gegen die Besatzungsmächte die Erfahrung fehlte, denn die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 durch französische Truppen war nicht damit zu vergleichen. Damals wurde der Kampf unter der Losung geführt: »Schlagt Poincare an der Ruhr und Cuno an der Spree!« (die beiden Regierungschefs).
1945 wurde der Hitlerfaschismus durch die gemeinsamen militärischen Aktionen der westlichen Alliierten und der Sowjetunion zerschlagen. Die angloamerikanischen Truppen kamen zu uns als Befreier, die uns die Demokratie brachten. Das hat bei den Arbeitern und Bürgern im allgemeinen und auch bei vielen Genossen im besonderen den wahren Charakter des amerikanischen und englischen Imperialismus verwischt. Wir in Solingen haben uns nicht
täuschen lassen und den imperialistischen Feind erkannt. Nicht umsonst wurde in Solingen die Antifa als einziges Beispiel in der britischen Besatzungszone, ja in ganz Westdeutschland verboten und aufgelöst. Das hatten wir theoretisch vorher längst erarbeitet, und zwar grundsätzlich. Wir sind später in einem Bericht der Bezirksleitung kritisiert worden, wir seien den Besatzungsmächten gegenüber zu »starr eingestellt gewesen«. Was die grundsätzliche Seite anbelangt, könnte man das anders ausdrücken: Wir haben uns über den imperialistischen Charakter der Besatzungsmächte keine Illusionen gemacht — und wir haben recht dabei gehabt.
Über die grundsätzliche Seite habe ich nie Schwankungen gehabt. Die Praxis, das heißt, die taktische Seite des täglichen Kampfs, war im Anfang gegenüber der amerikanischen Militärregierung vielleicht etwas starr, weil wir im Verkehr mit Militärköpfen noch keine Erfahrung hatten. Als die englischen Besatzungstruppen die amerikanischen ablösten, hatten wir aber bereits unsere Schlußfolgerungen in taktischer Hinsicht getroffen. Die Praxis des Tageskampfs hatte eine ganz andere materielle Grundlage als früher: Die Stadt lag zum großen Teil in Trümmern, viele Menschen hatten keine Wohnung, die Ernährung verschlechterte sich noch weiter, es fehlte an den notwendigsten Gebrauchsgegenständen, die Menschen waren im allgemeinen verzweifelt, dem Aufbau der Partei, Gewerkschaft und Genossenschaft legten die Militärregierung und ihre deutschen Handlanger zähen Widerstand entgegen. In der Praxis mußte man ständig lavieren, paktieren und Kompromisse schließen, ob das mit der SPD oder mit anderen Parteien geschah, dabei nicht von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus abweichen, das Ziel immer im Auge behalten. Wir haben die Besatzungsmacht weder provoziert, noch sind wir ihr in den Hintern gekrochen, haben dabei aber ständig riskiert, verboten zu werden.
Lies das Kapitel noch einmal gründlich durch, und Du wirst dann erkennen, daß es sich prinzipiell nicht von den anderen unterscheidet, nur daß Theorie und Praxis unter ganz anderen Bedingungen angewandt werden mußten. Dazu kommt, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse zum großen Teil verschüttet war.
Von diesem Gesichtspunkt aus mußt Du auch die Vereinigungsbestrebungen SPD/KPD sehen. Unter sowjetischer Besatzungsmacht konnte die Vereinigung beschleunigt werden, wobei allerdings in manchen Orten schematisch vorgegangen wurde. Falsch war die schematische Übertragung der Möglichkeiten auf die Westzonen. Wegen dieses Schematismus haben wir hier im Westen große Schwierigkeiten bekommen — nicht nur durch die Besatzungsmächte, sondern auch in der Bevölkerung, die uns nicht verstehen konnte. Das lag vielfach an unseren örtlichen Leitungen, die schematisch die Anweisungen von oben befolgten. Das habe ich nicht gemacht: Ich habe bei der Anwendung der Taktik immer meinen eigenen Kopf gebraucht. Das müssen auch heute alle Genossen tun.
In diesem Zusammenhang will ich gleich Deine letzte Frage beantworten, ob ich nie Schwankungen oder Resignation gehabt habe.
Nein, soweit es den Marxismus-Leninismus betrifft! Wenn für mich eine Sache nicht klar war, dann habe ich unsere Klassiker studiert und eine gründliche Analyse gemacht. Die taktischen Fehler der Partei in der Linie und deren Durchführung in der Praxis waren auch meine Fehler, ob das die Sozialfaschismusthese oder die RGO-Politik war. Man muß dabei auch die ungeheure Hetze der sozialdemokratischen Führer berücksichtigen, den Blutmai
1929 usw., ohne das wären die Fehler rascher erkannt worden. Als die Isolierung der Partei sichtbar wurde, war es zu spät, der Faschismus trat an die Macht. Erst im Gefängnis und KZ fanden Sozialdemokraten und Kommunisten wieder die gemeinsame Sprache.
Ich hatte mit der Partei stets ein ungebrochenes Verhältnis, solange sie grundsätzlich auf dem Boden des Marxismus-Leninismus stand, trotz aller taktischen Fehler. Erst als nach dem XX. Parteitag der KPdSU die revisionistische Linie langsam, Schritt für Schritt von der KPD übernommen beziehungsweise entwickelt wurde, kamen zuerst Zweifel, dann Bedenken, dann Differenzen, seit 1963 grundsätzliche Auseinandersetzungen und 1966 der Ausschluß aus der Partei. Erst nach meinem Ausschluß wurde die revisionistische Linie in den drei Programmen von KPD und DKP (siehe Revolutionärer Weg 1 und 2) erarbeitet. Ich habe den Ausschluß nicht provoziert und die grundsätzliche Diskussion gesucht und die revisionistische Linie mit unseren Klassikern geschlagen.
Auch heute ist die DKP-Führung außerstande, die grundsätzliche Seite im Revolutionären Weg zu widerlegen, darum die gemeinen Verleumdungen. Mir ist unverständlich, wenn Du schreibst: »Ich kann mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen, daß Du in Deinem ganzen Leben nicht geschwankt hast!« Niemals,
denn ich bin Proletarier und habe in Theorie und Praxis eine proletarische Denkweise erworben, Schwankungen entspringen einer kleinbürgerlichen Denkweise. Resignation kenne ich nicht, selbst in der härtesten Zeit meines Lebens, in der Zeit der faschistischen Diktatur, nicht, auch nicht, als mich Genossen bei der Gestapo belastet hatten. Der Klassenkampf ist kein Kinderspiel, und er wird in Zukunft härter werden, da ist kein Platz für Resignation,
da hilft nur ein eiserner Wille, und der hat mich nie untergehen lassen.
Es ist nicht Aufgabe des Buches, alle kleinen Fehler der damaligen Zeit zu analysieren und dazu Stellung zu nehmen. Du erwähnst zum Beispiel die Kritik von Kuno Meisenburg auf Seite 525/526 und fragst nach meiner Meinung dazu. Dabei steht Seite 526 unten: »Diese Kritik war durchaus berechtigt und wurde
durch die Erfahrung, die wir örtlich gemacht hatten, bestätigt.«
Das heißt doch wohl, daß das auch meine Meinung ist, oder glaubst Du, ich hätte diese Kritik, wenn sie falsch wäre, bestätigt?
Nein, ich würde sie zerpflückt haben. Außerdem wurde sie anschließend durch einige Punkte ergänzt.
Was die Abtrennung der ehemals deutschen Ostgebiete anbelangt, bin ich nicht Deiner Meinung; sie war unter den damaligen Bedingungen eine Notwendigkeit.
Damit hoffe ich, Deine Fragen im großen und ganzen beantwortet zu haben.
Herzliche Grüße
Willi