Willi Dickhut
Fragen zur Erlernung der dialektisch-materialistischen Methode
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1979
Lieber Willi! 23. 1. 79
Im Revolutionären Weg 15 heißt es: »Das Liquidatorentum Jacobs hat dem KABD eindringlich seine Schwächen vor Augen geführt und deutlich gemacht: Die Kommunisten müssen die dialektisch-materialistische Methode beherrschen lernen, das ist eine vorrangige Aufgabe.« (S. 101)
Seitdem sind über zwei Jahre vergangen, ohne daß bei irgendeiner Leitung (soweit ich das beurteilen kann) Klarheit darüber besteht, wie diese »vorrangige Aufgabe« zu lösen ist. Sicher kann man nicht sagen, daß wir in dieser Hinsicht keinerlei Fortschritte gemacht hätten. Die Schulungen, die Praxis und ihre Aufarbeitung zum Beispiel in der Broschüre »Schluß mit der Froschperspektive«, alles das trägt ohne Zweifel dazu bei, daß wir die dialektisch-materialistische Methode erlernen. Doch kommt mir das alles eher spontan vor beziehungsweise von der Praxis erzwungen, aber nicht als ein bewußter Prozeß. Dabei ist schon der theoretische Stand der Genossen sehr unterschiedlich; so bin ich überzeugt, daß viele den Revolutionären Weg 6 oder Mao Tsetungs »Über den Widerspruch« höchstens mal überflogen haben. Und die Anwendung in der Praxis ist doch überwiegend ziemlich über den Daumen gepeilt. Diese Schwächen zeigen sich dann auch ständig von neuem. Hier nur einige Beispiele:
– Immer wieder treten Fragen und Widersprüche zum Verhältnis von Theorie und Praxis und Agitation und Propaganda auf (siehe zum Beispiel jetzt in Bayern und die Verwirrung, die die ausgesprochen schwache Schrift von Karuscheit/Schröder hervorruft).
– Unklarheiten bei der Behandlung innerparteilicher Widersprüche: Wann wird ein Widerspruch antagonistisch usw.
– Fehler und Schwierigkeiten, die sich bei der Erstellung von Analysen und vor allem Arbeitsplänen zeigen.
– Einseitige Bewertung bestimmter praktischer Erfahrungen. Zum Beispiel tritt in den KSG immer wieder die Frage auf, was man eigentlich von rückschrittlichen Arbeitern lernen soll, wird Resignation immer wieder dadurch hervorgerufen, daß negative Erfahrungen verabsolutiert werden … Natürlich ist klar, daß man die dialektisch-materialistische Methode nicht einfach so lernen kann, wie man zum Beispiel die Handhabung eines Bohrers erlernt. Ganz deutlich wird das bei dem letzten der aufgeführten Punkte. Es sind durchaus nicht unbedingt junge Genossen mit wenig theoretischer und praktischer Erfahrung, die solche Fehler machen. Die richtige dialektischmaterialistische Einstellung zu Arbeitern können wir nur bekommen, wenn wir uns mit den Arbeitern verbinden, also unsere Denkweise verändern. Andererseits verhindert aber wiederum undialektisches und unmaterialistisches Herangehen, daß diese engere Verbindung überhaupt zustandekommt.
Ich überlege mir, ob es nicht zumindest ein Beitrag zur Lösung dieser Widersprüche sein könnte, wenn wenigstens die Leitungen mal eine Schulung zum dialektischen Materialismus durchführen würden. Ich könnte mir das in verschiedenen Schritten vorstellen:
a) Entstehung des dialektischen Materialismus und Aneignung der Grundaussagen
b) Verdeutlichung an verschiedenen Erscheinungen der Geschichte, der Naturwissenschaften usw.
c) Studium einer Untersuchung zum Beispiel von Mao Tsetung, um die Anwendung des dialektischen Materialismus herauszuarbeiten
d) Anwendung des Gelernten zum Beispiel bei der Untersuchung einer Ortsgruppe, bei der Erstellung eines Rechenschaftsberichts oder ähnlichem
Ich würde gern Deine Meinung dazu hören
Mit revolutionären Grüßen
D.
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Liebe Genossen! 19. 5. 79
Euren Brief vom 23. 1. 79 habe ich am 4. 4. bekommen, und wenn ich ihn erst heute beantworten kann, so hat das seine Gründe. Darum bitte ich um Entschuldigung.
Wir müssen unterscheiden zwischen Theorie und Methode des dialektischen Materialismus. Der Revolutionäre Weg 6 behandelt im wesentlichen die dialektische Methode, soweit sie für die Arbeiterbewegung wichtig ist. Wir müssen die dialektische Methode beherrschen können, um als Partei der Arbeiterklasse den Klassenkampf des Proletariats zu führen. Wir müssen sie meistern, wenn wir die Partei und andere Organisationen des Proletariats leiten wollen. Daß in unseren Organisationen so viele Fehler gemacht werden, beweist, daß die dialektische Methode nicht voll beherrscht, das heißt nicht begriffen wird. Dagegen gibt es keine Rezepte, nur Anleitung. Diese geben uns die Klassiker des Marxismus-Leninismus, vor allem Lenin. Der Revolutionäre Weg 6 bringt auf Seite 23–25 Lenins »Bestimmung der Dialektik«. Als ich diese vor Jahrzehnten zum erstenmal in Händen hatte, habe ich tagelang darüber nachgegrübelt, was die einzelnen Punkte bedeuten und was dahinter steckt. Dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Bei allen wichtigen Fragen habe ich sie mir genommen, Fragen, Probleme, Aufgaben, Stellungnahmen, Maßnahmen, kurz, alles womit eine Leitung zu tun hat, mit Hilfe der Bestimmung der Dialektik zu beleuchten, zu untersuchen, zu charakterisieren, zusammenzufassen und dann zu entscheiden. Je gründlicher das gemacht wird, um so zutreffender, das heißt fehlerloser, wird das.
Oder anders ausgedrückt: Wir müssen uns das zweifache Denken angewöhnen. Zuerst in die Tiefe denken, das heißt ein Problem von allen Seiten analysieren, um den Kern zu finden, dann die Beziehungen zu anderen untersuchen, die Widersprüche aufdecken, den Kampf dieser Widersprüche feststellen und die analysierten Teile zusammenfassen.
Dann folgt das zweite Denken, das Perspektivdenken: festlegen, wo wir mit dem Problem hinwollen. Übergang von Quantität in Qualität, das heißt die vorher gewonnenen Erkenntnisse konkret anwenden; nur so gelingt der Sprung zu höherer Erkenntnis, »unendlicher Prozeß der Erschließung neuer Seiten, Beziehungen usw.« (Lenin).
Das sind nur einige Hinweise, aber die dialektische Methode liegt gerade darin, daß jeder Genosse seinen eigenen Kopf gebrauchen muß. Darum, Genossen, gebraucht ihn in ständiger Verbindung und im engsten Sinne der Bestimmung Lenins, und es werden die in Eurem Brief aufgezeigten Mängel verschwinden. Der Vorschlag, eine Schulung der Leitungen über die dialektische Methode durchzuführen, ist sehr gut, und man sollte dabei mit Lenins Bestimmungen der Dialektik beginnen.
Mit revolutionärem Gruß
Willi