Willi Dickhut
Fragen der Einheitsgewerkschaft
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1978
12.6.78
Liebe Genossen!
Für eine Zellenschulung habe ich mich unter anderem mit dem Revolutionären Weg 11 befaßt (Entwicklung der Gewerkschaften nach 1945). Hier kommt meines Erachtens die Frage der Einheitsgewerkschaft nicht klar heraus. Ist der DGB nun nur eine »lose Dachorganisation« oder nicht? In der Satzung der IG Metall (1. 1. 78) steht unter § 32, »Mitgliedschaft zum DGB«: »Die IGM ist Mitglied des DGB. Sie hat dessen Satzung einzuhalten und seine Beschlüsse durchzuführen …«
Mir ist klar, daß es in der Praxis keine Einheitsgewerkschaft bei uns gibt. Aber liegt dies an der reformistischen Gewerkschaftsführung, oder wurde bereits bei der Gründung des DGB im Oktober 1949 dafür der Grundstein gelegt?
Eine zweite Frage habe ich zu dem auf Seite 47 des Revolutionären Wegs 11 zitierten Theodor Leipart. Über ihn heißt es im Handbuch für Vertrauensleute der IG Metall (Ausgabe 1973, S. 261/262):
»Vorsitzender des ADGB … versuchte 1933 unter völliger Verkennung der Ziele und Methoden der NS-Diktatur den organisatorischen Fortbestand der Gewerkschaften sicherzustellen, löste deshalb die Bindungen des ADGB zur SPD und forderte zur Beteiligung an der nationalsozialistischen Maifeier auf …«
Stimmt das so? Wenn ja, sollte man ihn nicht so ohne Kommentar im Revolutionären Weg zitieren, denn hier wird er als fortschrittlich im Sinne einer Einheitsgewerkschaft dargestellt.
Genossen, mir ist klar, daß Ihr mit dem Revolutionären Weg zum staatsmonopolistischen Kapitalismus viel zu tun habt. Aber es würde mich freuen, wenn Ihr der Zelle gelegentlich eine Antwort zukommen lassen könntet.
Mit solidarischem Gruß Rh.
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7.7.78
Lieber Genosse Rh.!
Besten Dank für Deinen Brief vom 12. 6. Da ich das Manuskript für den Revolutionären Weg 16 jetzt abgeschlossen habe, will ich Deinen Brief beantworten.
Du erkennst den Unterschied zwischen dem DGB als Dachorganisation (die er ist) oder einem DGB als Einheitsorganisation nicht. Wir haben heute autonome Industriegewerkschaften mit selbständigem Entscheidungsrecht, zum Beispiel bei Tarifabschlüssen in Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden usw. Die einzelnen Industriegewerkschaften stehen nebeneinander, koordinieren nicht einmal ihre gewerkschaftlichen Kämpfe. Darüber steht der DGB als Dachorganisation ohne Weisungsrecht gegenüber einzelnen Gewerkschaften. Die Industriegewerkschaften oder Gewerkschaften haben Einzelmitglieder, der DGB nicht. Mitglied des DGB sind die Gewerkschaften als Organisationen, die einen pauschalen Beitrag an den DGB abführen. Deshalb heißt es auch in der Satzung: »Die IG Metall ist Mitglied des DGB.« Die Vorsitzenden der Gewerkschaften gehören dem Vorstand des DGB an, dazu kommt der geschäftsführende Vorstand.
Wäre der DGB eine Einheitsgewerkschaft, dann wären die einzelnen Industrieverbände oder Gewerkschaften nur Glieder beziehungsweise Abteilungen. Die Mitglieder wären unmittelbar Einzelmitglieder des DGB. Dieser würde die Tarifverhandlungen für den Gesamtbereich aller Wirtschaftszweige führen. Bei gewerkschaftlichen Kämpfen könnten alle Einzelgewerkschaften gleichzeitig in den Kampf einbezogen werden, das heißt, es könnte die Wirtschaft mit einem Schlag lahmgelegt werden. Der Vorteil einer solchen kämpferischen Einheitsgewerkschaft für die Arbeiterklasse liegt auf der Hand. Ein solcher Kampf, der die gesamte Wirtschaft berührt, würde sofort, auch wenn es um rein wirtschaftliche Forderungen geht, politischen Charakter bekommen, weil er gegen die gesamte Kapitalistenklasse gerichtet sein würde. Es ist klar, daß gegen eine solche Einheitsgewerkschaft nicht nur die Militärregierung war, sondern auch die deutschen Kapitalisten und Gewerkschaftsführer, die als Reformisten den Bestand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bejahen und verteidigen und höchstens bereit sind, beschränkte gewerkschaftliche Kämpfe im Rahmen dieser Ordnung zu führen, und das auch nur notgedrungen. Der Revolutionäre Weg 11, Seite 45/46 schildert die Rolle Tarnows bei der Gründung der Gewerkschaften, er hätte am liebsten die alten Berufsverbände wieder aufgebaut.
Du schreibst in Deinem Brief, wir hätten den damaligen ADGB- Vorsitzenden Leipart einseitig als fortschrittlich wegen seiner Haltung bei Wiederaufbau der Gewerkschaften nach 1945 hingestellt. Das stimmt aber nicht. Der Revolutionäre Weg 11, Seite 91/92 schildert seine negative Rolle nach der Errichtung der faschistischen Herrschaft bis zur Auflösung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933. Hier wird ein Brief Leiparts an Hitler wiedergegeben, der diese negative Rolle unterstreicht. Anscheinend hat Leipart aus den Ereignissen von 1933 und den brutalen faschistischen Methoden der nachfolgenden Zeit gelernt, im Gegensatz zu Tarnow. Wenn Du den Revolutionären Weg 11 gründlich studiert hättest, würdest Du die doppelte Rolle Leiparts erkannt haben. Ich hoffe, hiermit Deine Fragen geklärt zu haben.
Eurer Zelle in der politischen Arbeit viel Erfolg wünschend grüßt mit Rot Front!
Willi