Willi Dickhut
Die Theorie des Sozialfaschismus und die Folgen
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1973
16.10.73
Liebe Genossen,
ich möchte einen Absatz aus dem Revolutionären Weg 11 kritisieren. Das Heft ist lehrreich und sehr wichtig; aber gerade weil Euch die Darstellung so gut gelungen ist, sollten auch einzelne Fehler berichtigt werden.
Auf Seite 94/95 schreibt Ihr, daß weder Genosse Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß noch Genosse Pieck auf der Brüsseler Parteikonferenz das Wort »Sozialfaschisten« für die Sozialdemokraten gebraucht haben, und begründet das so:
»Vielleicht waren zu viele führende Genossen der Komintern für diese schädliche Theorie verantwortlich gewesen, um sie öffentlich zu verurteilen.«
Der Nebensatz am Schluß kann meinen, daß die Genossen der Komintern selbst darauf verzichtet haben, die Sozialfaschismustheorie zu verurteilen. Er kann auch bedeuten, daß andere Genossen darauf verzichtet haben, die führenden Genossen der Komintern für die Sozialfaschismustheorie zu verurteilen. Meiner Meinung nach wäre beides schwerwiegende Fehler gewesen: nämlich Unterlassen von Kritik und Selbstkritik, so wie sie zum Beispiel im Revolutionären Weg 10 auf Seite 50ff beschrieben sind.
Weiter oben auf Seite 95 schreibt Ihr, daß die Genossen Dimitroff und Pieck »nicht offen die Sozialfaschismustheorie als eine der wesentlichen Ursachen für das Scheitern der Einheitsfront« erwähnt hätten. Auch das bedeutet doch, daß damals in der kommunistischen Bewegung Kritik und Selbstkritik nicht oder nicht genügend geübt worden sind. Ich glaube, daß dieser Vorwurf nicht zu halten ist.
Vor mir liegt ein Aufsatz von Walter Ulbricht: »Der VII. Weltkongreß der Komintern und die Kommunistische Partei Deutschlands« vom September 1935. Darin heißt es: »Der Faschismus ist der Hauptfeind«, und »… die KPD hat nicht rechtzeitig die notwendigen Schlußfolgerungen aus der veränderten Situation gezogen und richtete auch weiterhin den Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie zu einem Zeitpunkt, als sie den Hauptstoß schon gegen den Faschismus hätte richten müssen.«
Das ist doch Selbstkritik, die den Kern der Frage trifft! Später klassifiziert Genosse Ulbricht die KPD-Politik, die Ergebnis der Sozialfaschismustheorie war, als »Reihe sektiererischer Fehler« und faßt dann zusammen: »Mit der Verwirklichung dieser Beschlüsse« (des VII. Weltkongresses) »überwindet die KPD endgültig die Überreste des Unverständnisses für die neue taktische Linie der Komintern und wird alle antifaschistischen Kräfte zum gemeinsamen Handeln heranziehen.«
Die Aussagen in dem Absatz, den ich kritisiert habe, stehen
auch im Widerspruch zur späteren revolutionären Politik von Komintern und KPD (soweit ich darüber Bescheid weiß). Ich schlage Euch deshalb vor, für die nächste Auflage des Revolutionären Wegs 11 diese Formulierungen zu ändern. Der Absatz könnte vielleicht so heißen: Statt »Wenn auch das« unten auf Seite 94 soll es weitergehen:
»Wenn auch Komintern und KPD in ihrer Selbstkritik, beim
Untersuchen der Fehler aus der Zeit vor der Machtübernahme Hitlers und bei der Erarbeitung der richtigen Taktik, die Sozialfaschismustheorie nicht mehr beim Namen nannten, so war doch ihre Verurteilung der sektiererischen Fehler offen und gründlich. Alle ehrlichen Genossen der damaligen Zeit haben aus dieser Kritik gelernt; nur den heutigen Sektierern kann das nicht gelingen.« Wenn meine Kritik richtig ist, haben wir alle gewonnen; wenn sie falsch ist, würde mir eine Nachricht von Euch weiterhelfen.
Bis dahin mit solidarischen Grüßen Ra.
.
6.11.73
Lieber Genosse Ra.!
Mir ist vom Verlag Neuer Weg Deine Kritik (Brief vom 16.10. 73) übermittelt worden. Hier meine Antwort.
Ich begrüße jede sachliche Kritik, auch wenn sie nicht immer zutrifft. Du hast recht mit Deiner Beurteilung des von Dir angeführten Satzes aus dem Revolutionären Weg 11, daß hier ein Vorwurf zum Ausdruck kommt, daß Kritik und Selbstkritik damals ungenügend gehandhabt wurde, das heißt, sofern es sich darum handelt, die Sozialfaschismustheorie »öffentlich zu verurteilen«. Da weder G. Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der Komintern noch W. Pieck auf der Brüsseler Parteikonferenz 1935 (übrigens auch W. Ulbricht in seiner Rede auf dem Brüsseler Kongreß) das Wort »Sozialfaschisten« erwähnten, ist das natürlich als stillschweigende Kritik an dieser schädlichen Theorie zu werten, auch wenn öffentlich keine Verurteilung erfolgte. Es muß aber sehr wahrscheinlich vor dem VII. Weltkongreß eine Sitzung des EKKI stattgefunden haben, wo dieses festgelegt wurde, das heißt, auf eine öffentliche Verurteilung zu verzichten. Nichtsdestoweniger sind die nachfolgenden Reden eine stillschweigende Verurteilung, wie es im Revolutionären Weg, Seite 94/95 richtig ausgedrückt wurde.
Das von Dir gebrachte Zitat von W. Ulbricht bezieht sich nicht auf die Sozialfaschismustheorie, sondern auf die Frage der sozialen Hauptstütze der Bourgeoisie, gegen die der jeweilige Hauptstoß geführt werden muß (siehe Grundsatzerklärung des KABD, S. 24). Da die Bourgeoisie 1931/32 die Sozialdemokratie als soziale Hauptstütze durch die NSDAP abzulösen begann (siehe Revolutionärer Weg 6, S. 80–85), mußte die KPD damals den Hauptstoß nicht mehr gegen die SPD, sondern gegen den Faschismus führen. Darauf bezieht sich die Kritik W. Ulbrichts. Das wurde auch 1935 auf der Brüsseler Parteikonferenz von W. Pieck kritisiert, als er die Stelle aus der Entschließung des Zentralkomitees vom Mai 1933 (siehe Zitat im Revolutionären Weg 11, S. 92) zitierte und daran wörtlich anknüpfte:
»So war eine solche Kennzeichnung natürlich nicht dazu geeignet, uns den Sozialdemokraten näherzubringen, die zwar schon in Opposition zu der Politik des Parteivorstandes standen, aber nicht den völligen Bruch mit der Sozialdemokratie vollzogen hatten.«
Bezieht sich »eine solche Kennzeichnung« auf den Ausdruck
»Sozialfaschisten« oder auf »soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur«, das wird hier nicht eindeutig gesagt. Vielleicht ist auch beides gemeint.
Ich will hier auf ein anderes Zitat von W. Ulbricht aufmerksam machen. In »Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« Band l (1953) schreibt er:
»Deshalb wurde die Politik der sozialdemokratischen Führung als sozialfaschistisch charakterisiert. So treffend diese Einschätzung der sozialdemokratischen Führung war, so wurde sie doch mit der Zeit einfach auf die Sozialdemokratie als Partei angewandt, wodurch sich die sozialdemokratischen Werktätigen getroffen fühlten.«
Hier kann man den Eindruck bekommen, daß die Charakterisierung der sozialdemokratischen Führung als »sozialfaschistisch« durch die Führung der KPD beziehungsweise Komintern wohl richtig war, aber in der Praxis von den unteren Organen und Mitgliedern falsch angewandt worden war. Man kann auch daraus entnehmen, es wäre die Politik der sozialdemokratischen Führer von der SPD als Partei zu trennen gewesen. In dem theoretischen Organ »Unter dem Banner des Marxismus« 1/1930 heißt es in dem Artikel »Wirtschaftskrise und Sozialdemokratie«: »Den realen praktischen Bedürfnissen der sozialfaschistischen Politik entsprechend, haben die Ideologen des Sozialfaschismus der sozialfaschistischen Praxis eine theoretische Grundlage gegeben.« Wenn also die Politik der sozialdemokratischen Führer »sozialfaschistisch« ist, wirkt sich diese »sozialfaschistische« Politik auch in der Praxis der Sozialdemokratischen Partei aus, das heißt, dann ist auch die Partei als Ganzes »sozialfaschistisch«.
Diese Charakterisierung Ulbrichts: sozialdemokratische Führung ist »sozialfaschistisch«, sozialdemokratische Partei ist nicht »sozialfaschistisch«, trägt nur dazu bei, eine offene, ehrliche Kritik und Selbstkritik zu vertuschen. Außerdem steht sie im Widerspruch zu der Tatsache, daß auf dem VII. Weltkongreß und auf der Brüsseler Parteikonferenz stets nur von sozialdemokratischen Führern beziehungsweise sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern und nicht von »sozialfaschistischen« Führern gesprochen wurde, denn wenn die Charakterisierung der sozialdemokratischen Führer als »sozialfaschistisch« nach den Worten Ulbrichts »zutreffend« war, brauchte dieser Ausdruck ja nicht fallengelassen zu werden. Ulbricht versucht, nachträglich die Sozialfaschismustheorie noch zu decken.
Darüber hinaus versucht er, seine eigene Schuld zu vertuschen, indem er in dem Neudruck seiner Reden und Aufsätze aus der Zeit von 1929–32, die er in dem Buch »Über die Gewerkschaften« Band l (1953) veröffentlichte, alle Stellen über die »sozialfaschistische« Führung herausretuschieren und durch »sozialdemokratische Führer, sozialdemokratische Gewerkschaftsführer oder reformistische Gewerkschaftsführer« ersetzen ließ. Das ist doch eine Roßtäuschermethode. Anstatt offene Selbstkritik zu üben, vertuscht er durch diese Retuschierung den schweren Fehler der Sozialfaschismustheorie.
Wir damaligen Kommunisten haben in der Zeit der faschistischen Diktatur in jahrelanger geduldiger Arbeit das Mißtrauen der sozialdemokratischen Mitglieder und Funktionäre gegen uns abbauen müssen. Es wäre leichter gewesen, wenn die Sozialfaschismustheorie öffentlich verurteilt worden wäre. Das hätte durch die Komintern geschehen müssen, was leider nicht geschehen ist. Das wird in dem von Dir kritisierten Satz im Revolutionären Weg 11 angedeutet. Eine andere Erklärung, als hier angegeben, ist kaum denkbar.
Das schließt natürlich nicht aus, daß intern eine Kritik und Selbstkritik geübt worden ist. Auch die KP Chinas hatte von 1956–63 ihre Kritik an der revisionistischen Politik der KPdSU intern geübt; erst 1963 wurde durch Chruschtschow die öffentliche Polemik eröffnet.
Im Revolutionären Weg 11 wurde zwischen stillschweigender Verurteilung der Sozialfaschismustheorie und Unterlassung einer öffentlich geführten Kritik unterschieden und auf die wahrscheinliche Ursache aufmerksam gemacht – mehr nicht. Es besteht also keinerlei Veranlassung, diese Stelle zu korrigieren und durch Deinen Vorschlag zu ersetzen, der irrtümlich annimmt, daß die Sozialfaschismustheorie »offen und gründlich« verurteilt worden wäre. Das war eben nicht der Fall, sondern die Verurteilung erfolgte nur durch stillschweigendes Fallenlassen.
Ich bitte Dich, das Problem noch einmal gründlich zu durchdenken und mir Deine Meinung mitzuteilen.
Mit freundlichen Grüßen Willi
.
10.11.73
Lieber Genosse Willi,
ich danke sehr für Deine ausführliche Antwort. Sie hilft mir, die Politik von KPD und Komintern besser zu verstehen und richtig zu kritisieren.
Es war mein Fehler, daß ich die wichtigen Quellen nicht gründlich genug studiert habe, bevor ich meinen Brief schrieb. Du hast mir geholfen herauszufinden, worin mein grundlegender Fehler bestand. Ich meine jetzt, daß ich mir den Unterschied der beiden Einschätzungen »Die SPD ist die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie« und »Die SPD ist sozialfaschistisch« gar nicht klargemacht habe, daß ich sie für gleichbedeutend genommen habe.
Es ist doch aber so, daß die zweite im Vergleich zur ersten eher oberflächlich ist, nur die Erscheinungsformen sozialdemokratischer Politik berücksichtigt. Die erste Einschätzung dagegen geht von der Entwicklung der Klassenkämpfe und der Klassenkräfte aus, sie gibt das Wesen der damaligen Sozialdemokratie richtig an, auf ihr kann eine korrekte kommunistische Politik aufbauen. Die SPD-Regierung unter Reichskanzler Müller war eine Regierung der Monopolkapitalisten, aber noch keine faschistische, noch nicht »die offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Und nachdem die SPD 1930 aus der Reichsregierung vertrieben wurde und 1932 aus der preußischen, konnte sie auch kaum mehr die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie sein; da hätte die KPD ihre Taktik ändern müssen.
Daß die Verurteilung der Sozialfaschismustheorie nicht auch in Worten offen und gründlich stattgefunden hat, wußte ich nicht. Ich dachte mir, daß die Politik der antifaschistischen Aktion und die Ergebnisse des VII. Weltkongresses Zeichen dafür gewesen wären. Die Ausführungen im Revolutionären Weg 11 und Dein Brief sind aber überzeugend …
Mit solidarischen Grüßen Ra.