Willi Dickhut

Willi Dickhut

Die Frage der Verstaatlichung

Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1979

Von RW-Redaktion
Die Frage der Verstaatlichung

Liebe Genossen! 27. 8. 79

Bei der Schulung des Revolutionären Wegs 16 stießen wir im Zusammenhang mit der Frage der Verstaatlichung auf zwei wesentliche Aussagen des Revolutionären Wegs, die uns trotz gemeinsamer Bemühung der Aneignung nicht eingeleuchtet haben beziehungsweise die uns, falls sie richtig sein sollten, nicht genügend begründet erscheinen:

1. »Engels bezeichnete damals, das heißt in der Epoche der freien Konkurrenz, die Verstaatlichung der Großbetriebe als für den Klassenkampf des Proletariats fortschrittlich.« (S. 96)

»Für den Klassenkampf des Proletariats fortschrittlich«, heißt doch wohl: politisch fortschrittlich in dem Sinn, daß die Arbeiterklasse seinerzeit diese Entwicklung hätte fordern, um sie kämpfen sollen.

a) Ist dies geschehen, wie es durch die Formulierung des Revolutionären Wegs (»Losung der Verstaatlichung«, S. 99) nahegelegt wird?

b) Unserer Meinung nach sollte lediglich wie oben auf Seite 94 von einer »ökonomisch-fort­schritt­lichen Entwicklung« in dem Sinn gesprochen werden, daß damit die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sozialismus heranreiften.

2. Auch für die Situation nach 1945 leuchtet uns die Ansicht vom fortschrittlichen Charakter der Verstaatlichungsforderung der KPD nicht ein. Richtig wird zwar herausgearbeitet, daß die deutschen Monopole entmachtet waren, aber damit ist ja die eigentliche Machtfrage noch nicht beantwortet, wie sie sich unter der Besatzung durch die drei imperialistischen Siegermächte stellte:

– Hatten die USA, England und Frankreich die Staatsmacht in den westlichen Zonen etwa nicht fest im Griff?

– Wie stark war die deutsche kommunistische und Arbeiterbewegung?

– Wie wirkte sich die Anwesenheit der Roten Armee in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Hinblick auf die Machtfrage in den westlichen Zonen aus? Wir sehen den Mangel darin, daß der Revolutionäre Weg das Zusammenwirken dieser Faktoren im Klassenkampf nicht darlegt, dennoch aber die Aussage über den fortschrittlichen Charakter der Verstaatlichungsforderung macht (Übergangsforderung?).

Unserer Meinung nach liegt vom Wesen her eine völlig andere Situation als im Kapitalismus der freien Konkurrenz vor, so daß sich ein Vergleich in dieser Form verbietet.

Bitte klärt diese beiden Fragen, da sie in die heutige Verstaatlichungsdiskussion hineinwirken.

Rot Front!
i.A. Vo.





Liebe Genossen! 17.12.79

Ich habe den Eindruck, daß Ihr an die Frage der Verstaatlichung zu schematisch herangeht. Der Revolutionäre Weg 16 behandelt die theoretische Seite der Frage. Ob und wie diese in der Praxis des Klassenkampfs gelöst werden konnte, ist eine zweite Seite.

Marx hatte bekanntlich in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts den friedlichen Weg zum Sozialismus für England und Amerika für möglich gehalten (Revolutionärer Weg 2). Die praktische Durchführung ist wohl ausgeblieben, aber das besagt noch nichts über die Richtigkeit oder Nichtrichtigkeit der Einschätzung: Theoretisch war jedenfalls die Möglichkeit gegeben, allerdings eine einmalige Gelegenheit, genau wie entsprechend den Besonderheiten der Februar-Revolution in Rußland (Doppelherrschaft) bis zum 4. Juli, dem Putsch Kornilows.

Was unter bestimmten Bedingungen möglich ist, ist unter anderen Bedingungen unmöglich, beziehungsweise was gestern richtig gewesen sein kann, ist heute falsch, weil sich die Bedingungen verändert haben, ähnlich muß man auch die Frage der Verstaatlichung sehen.

Wir müssen unterscheiden zwischen Verstaatlichung mit oder ohne Herrschaft der Monopole. Die heutigen staatlichen Konzerne sind staatsmonopolistische Unternehmen, die mit den privaten Monopolunternehmen verquickt sind. Das war nicht der Fall, als Engels die Verstaatlichung forderte, das heißt im Kapitalismus der freien Konkurrenz. Auch in Westdeutschland 1945 waren die Monopolkapitalisten ausgeschaltet. Eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Großbanken hätte den kapitalistischen Charakter nicht aufgehoben, worauf schon Engels nachdrücklich hinweist (Revolutionärer Weg 16, S. 94/95), aber der Klassenkampf der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten wäre unter diesen Bedingungen leichter durchzuführen gewesen als unter der Herrschaft der Monopole (mehr bürgerlich-demokratische Rechte und Freiheiten). Die westlichen Besatzungsmächte hatten die deutschen Monopole ausgeschaltet, weil sie deren Konkurrenz und Expansion fürchteten. Aber bereits 1946 änderten sie ihre Politik durch die Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion. Dazu brauchten sie die deutschen Monopole und schalteten sie darum wieder in die westdeutsche Wirtschaft ein. Das war dann mit dem Betrugsmanöver der »Entflechtung der Monopole« verbunden.

Wäre die Deutschlandpolitik der Alliierten nicht verändert worden, hätte die Möglichkeit der Verstaatlichung der Konzerne bestanden, denn was sollte sonst mit den Großbetrieben, Konzernen und Banken geschehen, wenn die privaten Monopole ausgeschaltet blieben. In Klein- und Mittelbetrieben aufsplittern war nicht möglich. Die Verstaatlichung der Konzernbetriebe und Banken bedeutete allerdings keine »Zwischenstation« zum Sozialismus, denn sie entschied nicht die Machtfrage. Die Besatzungsmächte hätten jeden weiteren Schritt zum Sozialismus unterdrückt. Aber mit der Verstaatlichung wäre eine Erweiterung der bürgerlichdemokratischen Rechte und Freiheiten verbunden gewesen, wogegen im staatsmonopolistischen Kapitalismus die Reaktion vorherrschend ist, auch unter dem Mantel der bürgerlich-demokratischen Herrschaftsform.

Im staatsmonopolistischen Kapitalismus unterstehen auch die staatlichen Konzerne der Verfügungsgewalt der Monopole mittels der »Vereinigung der Riesenmacht der Monopole mit der Riesenmacht des Staates« (Lenin). Unter diesen Bedingungen ist die Forderung nach Verstaatlichung der Konzernbetriebe und Großbanken reaktionär. Auf eine kurze Formel gebracht:

Die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Großbanken ist fortschrittlich unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz oder des Sonderfalls der Ausschaltung der Monopolkapitalisten aus der Wirtschaft, weil der Klassenkampf der Arbeiterklasse durch Erweiterung der bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten erleichtert wird.

Sie ist reaktionär unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus, der Verschmelzung der Organe der Monopole mit denen des Staates, weil die bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten immer mehr eingeschränkt werden und der Klassenkampf der Arbeiterklasse immer mehr erschwert und kompliziert wird.

Nach 1945 haben die westlichen imperialistischen Besatzungsmächte alles mögliche versucht, die Entfaltung der bürgerlichdemokratischen Rechte und Freiheiten zu behindern (siehe mein Buch »So war's damals …«), die Durchsetzung konnte nur durch gemeinsames Vorgehen aller Parteien erreicht werden (Block demokratischer Parteien). Dieser gemeinsame Kampf erforderte von den Kommunisten großes taktisches Geschick, verbunden mit Prinzipienfestigkeit. In taktischer Hinsicht unterscheidet sich die Zeit nach 1945 unter den Bedingungen der Besatzungsmacht natürlich von den Bedingungen unter dem Kapitalismus der freien Konkurrenz, aber nicht grundsätzlich, soweit es die Verstaatlichung der Konzernbetriebe und Banken anbelangt; sie bedeutete in beiden Fällen einen Fortschritt für den Klassenkampf der Arbeiterklasse.

Ich hoffe, Eure Fragen ausreichend beantwortet zu haben, weiter würde es nur noch Spekulation sein.

Rot Front!
Willi