Willi Dickhut
Das Buch »So war's damals und die Fehler der KPD
Grundsätzliche Briefwechsel und Dokumente Willi Dickhuts 1981
4.5.81
Lieber Willi!
Infolge des Literaturwettbewerbs habe ich Dein Buch nunmehr zum dritten Mal vorgenommen und versuche momentan, es mir systematisch anzueignen, das heißt für eine konkrete Nutzanwendung in meiner politischen Tätigkeit anzueignen. Für den privaten Gebrauch habe ich es vorher schon benützt: im Rahmen meiner Magisterarbeit über die revisionistische Faschismustheorie des Marburger Professors Reinhard Kühnl (enger Sympathisant oder gar Angehöriger der DKP), der sich zu folgender Aussage verstieg:
»Die ökonomisch Herrschenden waren auf diese faschistische Führung in einem viel höheren Maße › angewiesen ‹, als sie dies etwa im Fall der verschiedenen Regierungen der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik waren. Alle diese Regierungen waren ohne größere Schwierigkeiten ersetzbar. Dies galt nicht für die faschistische Regierung. Dieses wechselseitige Aufeinanderangewiesensein ist es, was den Begriff des ›Bündnisses‹ gerechtfertigt
erscheinen läßt …« Daraus erläutert er das Scheitern des Putsches von 1944, den Massenmord an Juden (»verselbständigte Ideologie«) und negiert die das Wesen des Faschismus erfassende Dimitroff-These. Er beschreibt also die Erscheinungsform des staatsmonopolistischen Kapitalismus, aber nicht die Unterordnung des Staates unter die Monopole, beziehungsweise diese leugnet er wie jeder Revisionist. Deine Ausführungen zum 20. Juli haben mir zur Widerlegung sehr große Dienste erwiesen. Im übrigen ist das nur eine verballhornte Thalheimer-These, was Kühnl hier (1979) wieder kaut (1971 hat er sich noch beinahe vollständig Thalheimer verschrieben: »soziale Herrschaft Bourgeoisie, politische Herrschaft Faschisten«).
Die Lektüre Deines Buches warf andererseits natürlich auch verschiedene Fragen auf: Du hast sowohl im Revolutionären Weg als auch in Deinem Buch deutlich und hart die Sozialfaschismustheorie und die RGO-Politik angegriffen und herausgearbeitet, wie schädlich beides auf die Zusammenarbeit mit SPD-Kollegen gewirkt hat. Insgesamt kommt allerdings zum Ausdruck, daß Du beide schwere Fehler als taktische Fehler siehst, zum Beispiel, wenn Du schreibst (S. 135/136): »Das sture, kompromißlose Verhalten hatte gewiß nicht dazu geführt, eine Annäherung mit den Sozialdemokraten an der Basis herbeizuführen . . . (Leninzitat)
. . . Die unbewegliche Taktik der KPD wurde durch die auf Massenbetrug ausgerichtete Taktik der SPD-Führer begünstigt.« Oder im Revolutionären Weg 11, Seite 87: »Diese Beurteilung der sozialdemokratischen Bewegung (wohlgemerkt »Bewegung« und nicht »Führung«) erwies sich als schwerer Fehler. So wurden damals nicht nur führende Sozialdemokraten ... als Sozialfaschisten bezeichnet (was verständlich war), sondern auch einfache sozialdemokratische Funktionäre . . .«
Wenn ich diese Aussagen richtig interpretiere, dann siehst Du in der Bezeichnung sozialdemokratischer Führer á la Zörgiebel als Sozialfaschisten einen historisch verständlichen Fehler, die Ausweitung dieses Begriffs auf die SPD-Mitgliedschaft oder gar auf Brandleristen als zusätzlichen taktischen Fehler. Denn auf Seite 88 im Buch schreibst Du anläßlich eines Briefs an Maria Stamm:
»Die Richtlinien des VI. Weltkongresses sind zweifellos richtig . . .« Auf diesem VI. Weltkongreß aber wurde, ebenso wie auf dem nachfolgenden X. EKKI-Plenum, die Sozialfaschismustheorie zwar nicht geboren (das geschah schon zirka 1925), aber für die SPD-Führung festgeschrieben.
Meine Frage ist, ob mit dieser Theorie nicht ein grundsätzlicher strategischer Fehler begangen worden ist, wobei ich allerdings ins Schleudern geriet, als ich dazu Stalins Ausführungen zur Strategie und Taktik in den »Grundlagen des Leninismus« heranzog. Denn Stalin behandelt die Loslösung der Avantgarde von den Massen oder die Taktik der Otsowisten (Verzicht auf Arbeit in den Gewerkschaften) unter taktischer, nicht strategischer Führung. Auch der Parteigründungsaufruf von Zentraler Leitung und Zentraler Kontrollkommission spricht im Zusammenhang mit der Massenlinie von Taktik (S. 10). Andererseits ist die Massenlinie beziehungsweise ihre Anwendung ein grundlegendes marxistisch-leninistisches Prinzip, mit der Sozialfaschismusthese und der RGOPolitik wurde diesem Prinzip ins Gesicht geschlagen. Und meines Erachtens war die Sozialfaschismusthese auch nicht bloß deshalb falsch, weil damit ein Graben zwischen SPD/KPD-Mitgliedern/Kollegen entstand, sondern dahinter steckt doch auch eine falsche Übertragung (ein falscher Vergleich) der Ideologie und Politik der faschistischen Partei Mussolinis mit der Ideologie und Politik der SPD (vergleiche Alexander Plato, »KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus«, Oberbaumverlag, Berlin 1973, der allerdings die Sozialfaschismusthese verteidigt!!). Und dahinter müßte doch eigentlich eine zumindest teilweise falsche Einschätzung der gegebenen wirtschaftlichen und politischen Tatsachen in der Weimarer Republik stecken. Stalin nennt zur Strategie: Sie ist die Festlegung der Richtung des Hauptstoßes des Proletariats auf der Grundlage der entsprechenden Etappe der Revolution . . . Falls ich mich nicht falsch erinnere, war damals eine relative Stabilisierung des Kapitalismus zu verzeichnen, also der Hauptstoß gegen die gegenwärtige Hauptstütze der Bourgeoisie, die Sozialdemokratie, zu führen.
Von daher betrachtet, war die Sozialfaschismusthese eine falsche taktische Ausformung einer vom Grundlegenden her richtig bestimmten Strategie. Aber ich schwimme da noch.
Außerdem interessiert mich Deine eigene Herangehensweise an diese beiden Fehler. Im Rahmen des demokratischen Zentralismus warst Du verpflichtet, zumindest die sozialdemokratischen Führer als sozialfaschistisch zu bekämpfen. Wann hast Du diese Fehler erkannt, beziehungsweise wie hast Du dafür gekämpft, daß sie behoben werden? Denn aufgrund Deiner Arbeit im Betrieb beziehungsweise Deiner Massenarbeit müßtest Du ja sehr schnell die Schädlichkeit von Sozialfaschismusthese und RGO-Aufbau erkannt haben . . .
Wie stark waren Streiks und Demonstrationen der Arbeiter bis 1948? Darüber schreibst Du sehr wenig. Auch die Tatsache, daß neun Betriebsgruppen das Zehnfache an Straßengruppen Ende 1945 gegenüberstand, ist mir nicht klar (S. 472), oder habt Ihr auch nach dem Krieg das Schwergewicht nicht auf die Betriebe gelegt, oder stand das nicht an? Oder ging das nicht?
Rot Front!
W.
21.7.81
Lieber Genossse W.!
Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Deinen Brief vom 4. 5. erst heute beantworten kann. Als der Brief hier ankam, war ich gerade für drei Wochen in Erholung. Zurückgekehrt, mußte ich sofort an die Überarbeitung des Manuskripts des Revolutionären Wegs 20 und 21 herangehen, danach an die Vorbereitung für den Revolutionären Weg 22. Auch jetzt ist meine Zeit eingeplant, trotzdem schalte ich diesen Brief ein. Nun zu Deinen Fragen:
Sozialfaschismusthese und RGO-Politik: Es waren taktische Fehler der KPD. Grundsätzlich sind die reformistischen Führer durch ihre Politik der Arbeitsgemeinschaft mit den Kapitalisten Agenten der Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse. Lenin sagt, sie sind der Hauptfeind innerhalb der Arbeiterklasse (der strategische Hauptfeind der Arbeiterklasse ist die Bourgeoisie im allgemeinen und das Monopolkapital im besonderen). Die Hauptstoßrichtung des Kampfs muß immer gegen die Bourgeoisie sein, die man aber nicht besiegen kann, ohne den Einfluß der Reformisten und Revisionisten in der Arbeiterklasse durch konsequenten Kampf zu beseitigen. Strategisch ist das ein Bestandteil des Klassenkampfs.
Wie dieser Kampf geführt wird, ist eine taktische Frage, sie hängt zusammen:
1. mit der Taktik der Herstellung der proletarischen Einheitsfront, der Aktionseinheit der kommunistischen, sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeiter oder der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse 2. mit der Vorbereitung und Durchführung von Kämpfen: ökonomischer Kampf als Kampf um Reformen, politischer Kampf um Erweiterung demokratischer Rechte und Freiheiten, Kampf gegen Regierung und Staatsorgane 3. mit einer intensiven Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften, um die Millionen Mitglieder vom reformistischen Einfluß zu lösen und für den Klassenkampf zu gewinnen Der Durchführung dieser Taktik standen die Sozialfaschismusthese und die RGO-Politik im Wege. Sie wurden zu einer künstlich errichteten Mauer zwischen den kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern, die kaum noch zu übersteigen war und zur Isolierung der KPD führte. Um das zu verhindern, hätte die Taktik äußerst beweglich sein müssen. Der Revolutionäre Weg 20 und 21, »Strategie und Taktik im Klassenkampf«, erläutert ausführlich die Probleme. Wenn Du beide gelesen hast, schreibe mir mal, ob Dir die Fragen klar geworden sind.
Zu Einzelheiten Deines Briefes: Alexander Plato, den Du in Deinem Buch erwähnst, war der »Theoretiker« der »KPD« Semlers und Horlemanns — ein kleinbürgerliches Element, der auch den KABD verunglimpft hat.
Die »relative Stabilisierung des Kapitalismus« war von 1924 (nach der Schaffung der »Rentenmark«) bis 1928. In dieser Zeit war die SPD die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie. Dann kam die Weltwirtschaftskrise und das Ende der sozialen Reformen. Die Massenbasis der SPD schwand mehr und mehr, und die Bourgeoisie bereitete den Wechsel der sozialen Hauptstütze und die Änderung ihrer Herrschaftsform vor. Spätestens hier hätte die Partei die Taktik ändern müssen — das ist nicht geschehen.
Was mich anbelangt, habe ich das Falsche der Taktik nicht sofort erkannt (ich hatte noch zu wenig Erfahrung und auch noch zu geringe theoretische Erkenntnisse). Die Sozialfaschismusthese war in Solingen nicht so stark in Erscheinung getreten wie anderwärts.
Die Stärke der Partei (40 Prozent Wählerstimmen) und der Einfluß in den Arbeiterorganisationen ließen die Widersprüche mit der SPD nicht so stark aufeinanderprallen, außer in den Gewerkschaften, besonders Metall und Bau, was dann zur Bildung des »Einheitsverbands der Metallarbeiter« führte. Erst die Enttäuschung über die ungenügende Zahl der Übertritte aus der reformistischen Gewerkschaft ließ Zweifel über die Richtigkeit der weiterentwickelten RGO-Politik aufkommen . . .
Der starke Wille und die unerschütterliche Überzeugung hat mich nie zweifeln lassen, die einmal als richtig erkannte Weltanschauung konsequent durchzusetzen. Bevor ich aber eine Entscheidung treffe, gehe ich den Problemen auf den Grund. Selbst Enttäuschungen über ehemalige Genossen haben an der Richtigkeit meiner Überzeugung nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen. Ich verstehe, daß junge Genossen nicht nachvollziehen können, was das heißt, weil sie die brutale Wirklichkeit des Klassenkampfs noch nicht erlebt beziehungsweise durchstanden haben. Wenn sich in der Zukunft die Situation verschärfen wird, dann wird sich die Spreu vom Weizen trennen . . .
Nun zur letzten Frage: Streiks bis 1948. Ich verstehe, daß Du Dir nicht vorstellen kannst, was eine zerstörte Stadt bedeutet.
Wohnhäuser, Betriebe, Geschäfte — die meisten mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht. Es ging ums Überleben. Es fehlte buchstäblich alles, so auch Rohstoffe für die noch intakten Betriebe. Die Arbeiter haben die zerstörten Betriebe erst wieder aufbauen müssen, bevor sie ans Streiken dachten. Die zerstörten Betriebe waren auch die Ursache (neben den vielen Kleinbetrieben in Solingen und Remscheid), die eine umfassende Organisation in Betriebszellen unmöglich machte, das war nur in größeren Betrieben möglich. Sieh Dir in meinem Buch die beiden Fotos über die beiden zerstörten Städte an, es hat Jahre mit dem Wiederaufbau gedauert.
Damit hoffe ich, Deine Fragen ausführlich genug beantwortet zu haben. Dir und der Ortsgruppe viel Erfolg in der politischen Arbeit wünschend,
grüßt herzlich
Willi