RW 36
Brief an Heinz Ahlreip zur Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk
Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG
Werter Heinz Ahlreip,
Wir haben die kritischen Anmerkungen zu einigen Stellen in dem Buch »Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Antikommunismus« vom 28.9. und 29.9.2021 erhalten und beurteilt. Wir wollen sie der Reihe nach beantworten.
1. Auf Seite 117 sprechen wir vom »ersten Versuch der sozialistischen Revolution 1905« in Russland. Deine Frage bzw. deinen Hinweis, dass es sich eher um eine demokratische Revolution handelte, ist zweifellos zutreffend. Lenin sprach selbst von der »demokratischen Revolution«, wobei er der Auffassung war – und darauf bezieht sich der Begriff »Versuch der sozialistischen Revolution 1905« –, dass nach dem Sieg der demokratischen Revolution über den Zarismus »das Proletariat … die demokratische Umwälzung zu Ende führen … Die sozialistische Umwälzung vollbringen (muß).« (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, Werke, Bd. 9, S. 90). Wir werden uns bemühen, bei einer neuen Auflage die Stelle unmissverständlicher, also nicht so verkürzt zu formulieren.
2. Du kritisierst die Aussage auf Seite 132: »Die MLPD unterstützt die Existenzberechtigung eines israelischen Staates« Du bist der Meinung: »Marxisten können nicht einem bürgerlichen Staat Ehre erweisen … Marxisten erkennen nur den ‚Staat‘ der Pariser Kommune an …«
Zunächst einmal zitierst die Aussage in unserem Buch verkürzt. Dort heißt es: »Die MLPD unterstützt die Existenzberechtigung eines israelischen Staats, kritisiert aber, dass das imperialistische Israel völkerrechtswidrig den größten Teil Palästinas besetzt hält und dessen Bevölkerung willkürlich enteignet, vertreibt und mordet.« Du ziehst nur einen Halbsatz heraus und reißt damit den Zusammenhang zwischen der Existenzberechtigung eines Nationalstaats und dessen Charakter auseinander.
Es ist selbstverständlicher Bestandteil des Marxismus-Leninismus, dass jedes Volk das bürgerlich-demokratische Recht auf einen eigenen Nationalstaat hat. So unterstützen wir ja auch die Schaffung eines eigenen Staats für das palästinensische oder das kurdische Volk, auch wenn dieser zunächst noch einen bürgerlichen Charakter haben mag. Deshalb hat auch das israelische Volk selbstverständlich das Recht auf einen Nationalstaat, und zugleich muss die zionistische Ideologie und der unterdrückerische Charakter des imperialistischen Israel bekämpft werden.
Lenin schrieb in seinem Aufsatz »Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage« ausdrücklich »von der am meisten unterdrückten und gehetzten Nation: der jüdischen. Jüdische nationale Kultur – das ist die Losung der Rabbiner und Bourgeois, die Losung unserer Feinde. Aber es gibt in der jüdischen Kultur und in der ganzen Geschichte des Judentums auch andere Elemente … Dort haben sich die großen universal-fortschrittlichen Züge in der jüdischen Kultur deutlich gezeigt: der Internationalismus, ihre Aufgeschlossenheit für die fortschrittlichen Bewegungen des Zeitalters … Wer die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und nicht verteidigt, wer nicht jede nationale Unterdrückung und Rechtsungleichheit bekämpft, der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat.« (Lenin, Werke, Bd. 20, S. 10 und 13)
Zugleich betonten Lenin und Stalin, dass jede nationale Bewegung ihrem Wesen nach bürgerlich und deshalb die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen bzw. dem Existenzrecht eines Nationalstaats eine bürgerlich-demokratische Forderung ist.
3. Du hältst die Qualifizierung auf Seite 138: »Deutschland hat eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden …« für »zu pauschal« und bist der Meinung, »das sagen nur asoziale Elemente, die das jüdische und das deutsche Volk gemeinsam ausbeuten«.
Entschuldige, aber das ist doch ein sektiererischer Unfug. Es ist doch wohl jedem Menschen in Deutschland geboten, dass er gerade aus den scheußlichen Erfahrungen des rassistisch und antikommunistisch motivierten faschistischen Massenmords an Millionen Juden Verantwortung dafür übernimmt, Rassismus und Antikommunismus entschieden zu ächten und bekämpfen. Insofern hat das deutsche Volk natürlich eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden, »rassistische und faschistische Verbrechen nie mehr zuzulassen«, wie es an derselben Stelle in dem Buch heißt.
Es ist wenig hilfreich, wenn du Versatzstücke von Aussagen des RW 36 heraus greifst und dann mit ebensolchen Versatzstücken aus anderen Zitaten – in diesem Fall von Stalin – abstruse Zusammenhänge konstruierst.
Du zitierst Stalins Rede vom Februar 1942 so: »Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk wird nicht untergehen.« Das ist ungenau, und lässt außen vor, dass Stalin an derselben Stelle eine Verantwortung Deutschlands für den faschistischen Überfall auf die Sowjetunion ansprach, insbesondere bezogen auf die deutschen Soldaten:
»Kein deutscher Soldat kann sagen, er führe einen gerechten Krieg, denn er muß unbedingt sehen, daß er gezwungen wird, Krieg zu führen, um andere Völker auszurauben und zu unterdrücken.« (Stalin, »Befehl des Volkskommissars für Verteidigung vom 23.2.1942, Werke, Bd. 14, S. 266)
Die deutschen Soldaten waren zum Krieg gezwungen, aber viele von ihnen ließen sich von der faschistischen Demagogie beeinflussen oder trugen sie sogar mit. Stalin führte dann weiter aus:
»Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volk, mit dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.« (ebenda)
Natürlich war die faschistische Diktatur des deutschen Monopolkapitals verantwortlich für die bestialische Vernichtung der Juden und anderer Völker, aber das entbehrt nicht der Verantwortung jedes Deutschen dafür, dass sich das nie mehr wiederholt!
4. Du weist auf S. 177 zu der Aussage »auf dem XXI. und XXII. Parteitag der KPdSU bauten die modernen Revisionisten ihre revisionistische Theorie weiter aus« darauf hin, dass die Belege sich nur auf dem XXII. Parteitag beziehen. Das ist zutreffend, wir haben uns auf den XXII. Parteitag der KPdSU konzentriert, wo die revisionistische Theorie mit dem »Staat des ganzen Volkes« und der »Partei des ganzen Volkes« »weiterentwickelt« wurde. Es ging uns an dieser Stelle auch nicht um eine vollständige Darlegung der Entwicklung des modernen Revisionismus, sondern vor allem darum aufzuzeigen, dass der Wechsel von Chruschtschow zu Breschnew nicht den modernen Revisionismus gestoppt hat.
Solidarische Grüße
Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG
Stefan Engel