RW 36

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Antwortbrief zur Rezension eines Marburger Psychologen zum RW 36

Ein Mitglied der Redaktion "REVOLUTIONÄRER WEG" antwortet.

Von RW-Redaktion

C, 6.12.21


Lieber Kollege,

vielen Dank für Deine sehr interessante Rezension zum REVOLUTIONÄRER WEG Nr.36 von Stefan Engel zu seinem Buch „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Antikommunismus“ „aus Sicht eines Psychologen und Psychotherapeuten“, wie Du schreibst. Deine Überlegungen zum Wesen der bürgerlichen Psychologie sind für uns wichtig im Hinblick auf die Erstellung des REVOLUTIONÄRER WEG Nr.38.

Was früher hauptsächlich Religionen und Priester für die herrschende Klasse erledigten, ist im Kapitalismus zunehmend ein Feld von Psychologen geworden. In Deutschland übersteigt mittlerweile die Zahl der Psychotherapeuten die der katholischen Priester bei weitem. Psychologen haben einen festen Platz in Konzernen, Fußballvereinen, Schulen, in Praxen, Beratungsstellen, in Kliniken oder im Militär.


Wer mit der bürgerlichen Psychologie eine wissenschaftliche Erklärung der Psyche des Menschen sucht, trifft auf mehrere Dutzend unzusammenhängende, sich teils widersprechende „Theorien und Schulen“. Gegenstand ist das „Verhalten“, Beziehungen in den Familien, Bindungen und Bindungslosigkeit, Gemeinschaften, Gruppen, Rolle der Gene, Biologie und Physiologie usw.. Erklärter Lieblingsgegenstand ist das Individuum, welches streng getrennt von der Wirkung ökonomischer und gesellschaftlicher Gesetze des Kapitalismus untersucht wird. Hier gibt es keine bürgerliche Familienordnung, keine gesetzmäßigen Folgen kapitalistischer Ausbeutung für den psychischen Apparat. Die Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt und vom Menschen spielen genauso wenig eine Rolle wie die durch den Kapitalismus herbeigeführten toxischen Belastungen und Störung des Stoffwechsels. Diese den Stoffwechsel krisenhaft zersetzenden Faktoren werden von der bürgerlichen Psychologie als „ideologisch“ ausgegrenzt oder durch Pragmatismus ersetzt. Auf diese Weise ist die bürgerliche Psychologie mit ihren „Schulen“ eine sehr bedeutende weltanschauliche Stütze des Kapitalismus. Diese klassenmäßige Ausrichtung zeichnet ihre Gegnerschaft zum dialektischen Materialismus aus.

Es ist interessant, was Du über die Suche und den Erkenntnisprozess der Studierenden berichtest. Wenn z.B. Psychologiestudenten sich mit Neurobiologie und Neurophysiologie befassen, erfährt der „Körper-Seele“-Dualismus eine Verfeinerung. In der "Psychosomatik“ beispielsweise spricht man von einer „Verbindung von Körper und Geist“, und schon feiert der Idealismus in „Kombination mit Materialismus“ fröhliche Auferstehung. Dies ist m.E. typisch für den Empiriokritizismus der modernen bürgerlichen Psychologie. Solche differenzierten Formen des Idealismus sind von den Studierenden dann schon schwerer zu durchschauen.

Wenn Psychologen sich für die Massen und den Marxismus interessieren, stoßen sie auf die Prägung der Arbeiter durch kapitalistische Lohnarbeit. Sie können in der Entfremdung des Arbeiters vom Produkt und Menschen eine latente Quelle psychischer Reizung erkennen und begreifen, dass psychische Tätigkeit körperliche Stoffwechseltätigkeit ist. Sie können die Störungen des psychischen Apparats als bedingt durch Überreizung und toxische Belastungen erkennen. Ein solcher am Marxismus interessierter Psychologe wird für die Arbeiterklasse und Unterdrückten Partei ergreifen und kann zum Gegner des Kapitalismus werden. Er tritt in den Kampf mit dem Positivismus, demzufolge all das nichts mit der Psychologie zu tun habe, dass das eine unzulässige Konstruktion sei, da nicht unmittelbar gegeben sei, usw.. Diese von Dir beschriebene Ausgrenzung, Unterdrückung, antikommunistische Fälschung und Zensur kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten machen den Kern der bürgerlichen Weltanschauung in der Psychologie aus.
Ein solcher von der bürgerlichen Weltanschauung beherrschter Kopf eines Psychologen handelt und praktiziert entsprechend seiner Weltanschauung. In seiner psychotherapeutischen Tätigkeit zum Beispiel, beschränkt er sich auf das unmittelbar Gegebene, auf das Individuum, auf Beziehungen zu Eltern usw.. Bei Fragen zum „Großen Ganzen“, zur krisenhaften Entwicklung der Gesellschaft zuckt er pragmatisch mit den Achseln und verweist darauf, dass er dafür nicht zuständig ist oder dass man an diesen Dingen nicht viel ändern könne. In einem Land, in dem die Feindschaft zum dialektischen Materialismus Staatsreligion ist, ist es für Studierende der Psychologie nicht einfach, zu einer dialektischen Negation der bürgerlichen Psychologie zu kommen.


In Deinem Brief wirfst Du die Frage auf, wie die proletarische Psychologie in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft sein wird. Ich sehe das nach heutigem Stand so: Die bürgerliche Psychologie ist eine Pseudowissenschaft. Um zur Wissenschaft zu werden, muss sie

- erstens den Körper-Geist-Dualismus vollständig überwinden,

- zweitens die psychischen Prozesse dialektisch und materialistisch als Nerventätigkeit erforschen und

- drittens mit dem historischen Materialismus als Gesellschaftswissenschaft parteiliche Wissenschaft sein für die ausgebeuteten Klassen und Unterdrückten auf der Erde.
Sie muss ihren bürgerlichen Charakter aufgeben. Das freilich wird im Kapitalismus nicht der
Fall sein können.


Wir können viel aus den Erfahrungen der sozialistischen Staaten lernen. In der Sowjetunion gab es mit I.W. Pawlow's Erforschung der Psyche des Menschen im Kampf gegen den Idealismus bedeutende Fortschritte. Pawlow war praktischer Materialist in der Untersuchung des psychischen Apparats. Als Laborarbeiter befasste er sich überwiegend mit Tieren; gegenüber der Arbeit, dem Leben der Arbeiterklasse und Massen, dem Klassenkampf gegen die drohende Restauration des Kapitalismus blieb er auf Distanz. Ich kenne keinen Artikel, in dem er die Parteilichkeit der Wissenschaft für die Arbeiterklasse und Unterdrückten und auf den historischen Materialismus als Gesellschaftswissenschaft Bezug genommen hat. Sicherlich gehen seine Arbeiten über das 1. und 2. Signalsystem weit darüber hinaus, was bei uns über ihn gelehrt wird. Er befasste sich mit der Widerspiegelung der Wirklichkeit und schätzte ihre bewussten Veränderung durch Arbeit und den Klassenkampf gering. Diese bürgerliche Beschränktheit hat er m.E. nicht überwunden.

Nach allem was ich weiß, trifft das auch auf Sergej L. Rubinstein zu. Die damaligen „marxistischen Psychologen“ führten m.E. den Marxismus-Leninismus als Dogma im Munde, lebten in Distanz zur Arbeiterklasse und hatten sein Wesen kaum begriffen. Nach meiner Kenntnis haben weder Rubinstein oder die berühmten sowjetischen Psychologen Leontjew, Lurija oder Wygotski den Kampf gegen die bürgerliche Ideologie Chruschtschows und die von ihm eingeleitete Restauration des Kapitalismus geführt. Sie waren bereits im Sozialismus von der kleinbürgerlich-intellektuellen Denkweise beeinflusst und gingen schnell auf die revisionistische Weltanschauung über. Das vom Standpunkt des dialektischen Materialismus näher zu untersuchen ist eine interessante Aufgabe.

Im China Mao Zedongs war das ein Thema. Bis zur Kulturrevolution gegen die drohende Machtergreifung von Parteimachthabern wurden psychische Erkrankungen mit Hilfe der Lehre Pawlows analysiert und behandelt, wo der Gegenstand das erkrankte Individuum war. Das wurde in der Kulturrevolution geändert und der Überbau, darunter auch die Psychologie, wurden einer Kritik und Weiterentwicklung unterzogen. Bei psychischen Erkrankungen wurde nicht mehr einseitig das Individuum ins Zentrum gerückt, sondern die Lebens- und Arbeitstätigkeit sowie Weltanschauung in den Fabriken, Familien und Gesundheitseinrichtungen einbezogen. Psychologische Fachleute, Ärzte und das Personal begannen, ihre Weltanschauung umzugestalten. Wir wissen das aus Schriften des argentinischen Psychiaters Gregorio Bermann, der die Arbeit mit psychisch kranken Menschen in China über Jahrzehnte begleitet hatte (Gregorio Bermann, Eine neue Medizin für die Massen – Sozialpsychiatrie in China). Seinen Studien zufolge verzeichnete die Psychotherapie in der VR China große Fortschritte. Heute wird das, wie Du selbst schreibst, vom Antikommunismus als „Hirnwäsche“ und Unterdrückung individueller Bedürfnisse verunglimpft.

(...)

Mit herzlichen Grüßen
C.