Woher rührt die Nervosität der Herrschenden? Was die Wirtschaftsentwicklung angeht, sieht man auf bürgerlicher Seite derzeit lauter besorgte Gesichter. Was ist da los?
Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass eine neue Weltwirtschaftskrise bereits eingeleitet ist. Das begann bereits im zweiten Halbjahr 2018. In diesem Zeitraum hatte die bis dahin andauernde schwankende Stagnation ihren Zenit überschritten. Darin hatten sich Industrieproduktion und Investitionen mit Ausschlägen nach oben und unten um eine Durchschnittslinie bewegt. Nunmehr gab es eine qualitative Änderung: Die Industrieproduktion geht seitdem in einem Teil der imperialistischen Zentren deutlich zurück, in anderen sinken die Wachstumsraten erheblich. Die Tendenz ist eindeutig über inzwischen viele Monate negativ. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Alarm geschlagen wegen eines – wie er es nennt – „synchronen Abschwungs“ in 90 Prozent aller Länder.11 Seit November 2018 gibt es einen absoluten Rückgang der Industrieproduktion in der Eurozone und der EU. Bereits im 2. Halbjahr 2018 waren erste neuimperialistische Länder, wie Argentinien, Brasilien und die Türkei, in eine offene Wirtschaftskrise geraten. Im Juni 2019 lag die Industrieproduktion der gesamten OECD12 bei minus 0,5 Prozent im Vorjahresvergleich. In der EU betrug der Rückgang bei der Industrieproduktion im 2. Quartal 2019 im Vergleich zum Vorjahresquartal 0,5 Prozent. Bereits seit Juni 2018 währt der Rückgang der Industrieproduktion in Japan. Die Welt-Autoindustrie befindet sich im Krisenstrudel. Im Juni prognostizierte das CAR-Institut der Uni Duisburg-Essen einen weltweiten Rückgang des Autoabsatzes um mehr als vier Millionen Fahrzeuge, von 83,7 auf 79,5 Millionen im Gesamtjahr 2019. Im Mai 2019 war auf dem wichtigsten Absatzmarkt China der Absatz im Vergleich zum Vorjahresmonat um 16,4 Prozent zum elften Mal in Folge gesunken.
Bemerkenswerterweise ist Deutschland, das bisherige Flaggschiff der EU-Wirtschaft, besonders stark von der Krise betroffen. Seit August 2018 geht in Deutschland die Industrieproduktion im Vorjahresvergleich absolut zurück. Die Kapazitätsauslastung sank von 87,8 Prozent im Juli 2018 auf 83,9 Prozent im Juli 2019. Auch die Exporte gehen in einzelnen Monaten deutlich zurück. Die Industrieaufträge sinken stark. Im August 2019 um 6,7 Prozent im Vorjahresvergleich. Besonders drastisch sind die Auftragsrückgänge im Maschinenbau, wo im August 2019 die Aufträge an deutsche Unternehmen um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr einbrachen.
In den USA sinken die Wachstumsraten der Industrieproduktion, und sie lag im August 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nur noch bei plus 0,4 Prozent. 2018 war sie noch in allen Quartalen um circa 4 Prozent zum Vorjahreszeitraum gestiegen. In China stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 2. Quartal 2019 nur noch um 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, und die Konjunktur ist dort so schwach wie seit 1992 nicht mehr13.
Beim Bruttoinlandsprodukt sinken seit dem 2. Quartal 2018 international die Wachstumsraten, in der EU seit dem 4. Quartal 2017. Doch der einseitige Blick auf das Bruttoinlandsprodukt verzerrt die reale wirtschaftliche Entwicklung. So finden sich unter den im BIP erfassten „Dienstleistungen“ Anteile der Industrieproduktion, aber auch viele Bereiche, die mit einer Produktion von materiellen Gütern wenig zu tun haben. Seit einiger Zeit werden nach internationaler Übereinkunft auch Rüstungsausgaben, Geldwäsche, Zigarettenschmuggel und Prostitution, die überbordende Spekulation, Drogen sowie die umfangreichen Rentenzahlungen zum gesellschaftlichen Neuwert gerechnet. Das wirft ein Schlaglicht auf die Dekadenz des imperialistischen Weltsystems.
Der unmittelbare Auslöser der Weltwirtschaftskrise war der Handelskrieg ausgehend von den USA. In den letzten sechs Monaten wurden auf so viele Waren und Dienstleistungen Zölle erhoben wie zu keinem früheren Zeitpunkt. Der Wert der betroffenen Waren wird mit 421 Milliarden Euro angegeben. Das hat gravierende negative Auswirkungen auf den gesamten Welthandel. Er ging im 1. Halbjahr 2019 um 2,8 Prozent gegenüber dem 1. Halbjahr 2018 zurück. Das wirkt sich vor allem auf die Achillesferse der Länder mit stark exportabhängiger Wirtschaft wie Deutschland aus.
Der allgemeine Hintergrund der neuen Weltwirtschaftskrise liegt in der verschärften chronischen Überakkumulation des Kapitals. Dazu kommt die bisher nicht gekannte geballte Wirkung von drei verschiedenen, sich gegenseitig durchdringenden Strukturkrisen: Seit Beginn der 1990er-Jahre wirkt eine internationale Strukturkrise auf der Grundlage der Neuorganisation der internationalen kapitalistischen Produktionsweise. Hinzu kommt die Strukturkrise durch die Umstellungen in der Automobilindustrie auf E-Mobilität und die Strukturkrise auf der Grundlage der umfassenden Digitalisierung der gesamten Produktion. Sie hat universelle Wirkung auf die Produktion, den Handel, die Kommunikation und die gesamte Gesellschaft. Im Jahr 2018 beliefen sich die Profite bei den internationalen Übermonopolen auf 2,2 Billionen US-Dollar, das sind 262 Prozent im Vergleich zum Jahr 2008. Sie konnten also nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008–2014 ihre Maximalprofite erheblich steigern, auf Kosten der übrigen Monopole, der nichtmonopolistischen Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft und der Ausbeutung von Mensch und Natur. Diese explodierenden Profite konnten aber angesichts sich relativ verengender Märkte immer weniger Maximalprofit bringend angelegt werden. Das ließ das spekulative Kapital massiv anwachsen. So lag die Börsenkapitalisierung, das heißt der Börsenwert der an den Weltbörsen gelisteten Aktiengesellschaften, im Juni 2019 bei 83,3 Billionen US-Dollar. 60,7 Billionen waren es im Vergleich dazu im Oktober 2007, dem damaligen Höchstwert vor dem Ausbruch der Finanzkrise. Schon warnen die Unternehmerzeitungen vor einer „Immobilien- oder Aktienblase“.