Gabi Fechtner antwortet
Briefwechsel zwischen einem Kollegen und Gabi Fechtner
Ein Kollege aus Leipzig schreibt im August an das ZK der MLPD:
Sehr geehrte Damen und Herren,
habe mit dem Studium ihres Parteiprogramms, beschlossen auf ihrem X. Parteitag, begonnen. Auf's Erste habe ich Fragen zu zwei Wortlauten des Programms:
1. Auf S. 9 steht: „... Tatsache des wiedervereinigten Deutschlands ...“.
2. Auf S. 35 steht: „Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 verabschiedete sich die revisionistische Führung der SED vom Kampf um ein vereinigtes sozialistisches Deutschland.“
Gerne hätte ich von einem Mitglied ihrer Programmkommission oder den beiden Vorsitzenden ihrer Partei Stefan Engel oder Gabi Fechtner autorisiert gewusst, wie die Formulierungen wissenschaftlich begründet in das Parteiprogramm gekommen sind.
Zur ersten Frage: „Was wurde wann, durch wen und mit welcher Absicht und mit welchem Ergebnis wiedervereinigt?“
Zur zweiten Frage: Hier interessiert mich ihr wissenschaftlich historisch begründeter Standpunkt zu den Ursachen des Baus der Berliner Mauer 1961: welche politischen Kräfte der alliierten Besatzungsmächte hielten den Bau der Mauer für notwendig und vorteilhaft für sie und gestatteten den Bau.
Mit freundlichen Grüßen
(…)
Gabi Fechtner antwortet:
Lieber Herr (…) ,
es ist sehr gut, dass sie sich gründlich mit dem Parteiprogramm der MLPD befassen. Ich möchte kurz ihre Fragen aus dem Brief vom 12.8.22 beantworten.
Zur „Tatsache des wiedervereinigten Deutschlands“: Die Spaltung Deutschlands durch die Gründung des westdeutschen Separatstaats 1949 war ein Bruch des Potsdamer Abkommens und richtete sich gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung. Sie folgte der antikommunistischen Strategie der USA. Für die MLPD war von Anfang an selbstverständlich, für ein einiges sozialistisches Deutschland einzutreten.
Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 war in erster Linie das Werk der demokratischen Volksbewegung in der ehemaligen DDR. Sie kämpfte zunächst für demokratische Rechte, Reisefreiheit, für einen „besseren Sozialismus“ wie sie das nannte usw. unter der Losung „Wir sind das Volk“. Nachdem deutlich wurde, dass die demokratische Volksbewegung ihren Erfolg nur erreichen konnte, wenn das SED-Regime wich, rückte die Frage nach der Alternative immer mehr in Mittelpunkt. Die Forderung nach der Wiedervereinigung rückte ins Zentrum der Massenbewegung. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk.“ Das konnte gemessen am Stand des Klassenbewusstseins in Ost und West noch keine Vereinigung auf sozialistischer Grundlage sein. Natürlich haben die herrschenden Monopole der BRD auch alles unternommen um auf diese Massenbewegung in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen, sie antikommunistisch auszurichten und um sich die DDR in ihren Herrschaftsbereich einzuverleiben. So haben sie Millionen Kredite an Ungarn vergeben, damit es die DDR-Flüchtlinge durch Ungarn nach Österreich fahren lässt usw. Sie taten vieles mehr um bewusst die Lage in der DDR weiter zu destabilisieren. Mit dem 2+4 Abkommen zwischen den Vier-Siegermächten des II. Weltkriegs und der DDR und BRD wurde die Wiedervereinigung dann auf kapitalistischer Grundlage, als Anschluss der DDR an die BRD fest geklopft.
Es war also keine Wiedervereinigung auf sozialistischer Grundlage, sondern von Seiten der BRD-Monopole eine Annektierung. Aber sollen wir uns deshalb gegen den Erfolg der Massenbewegung und die Einheit Deutschlands stellen? Das wäre doch absurd. Die Wiedervereinigung hatte einen fortschrittlichen Charakter und überwand die Spaltung der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes. Sie machte den Weg frei für die Herstellung der Arbeitereinheit in Ost und West. Von nun an konnten die Erfahrungen aus dem Westen mit dem staatsmonopolistischen Kapitalismus, mit den hoffnungsvollen Anfängen im sozialistischen Aufbau in der DDR, aber auch dem dortigen Verrat am Sozialismus ab 1956 gemeinsam verarbeitet werden. Das machte auch den gesamtdeutschen Parteiaufbau der MLPD möglich und den gemeinsamen Kampf für ein sozialistisches Deutschland!
Zu unserem „wissenschaftlich historisch begründeten Standpunkt zum Bau der Berliner Mauer 1961“: Auch wenn also die Spaltung Deutschlands von den westlichen Imperialisten ausging, so war der Bau der Berliner Mauer sichtbarer Ausdruck der Unfähigkeit der bürokratischen neuen Bourgeoisie in der DDR, die Werktätigen auf Grundlage der Freiwilligkeit zu mobilisieren und Ausdruck des Verrats am Sozialismus. In ihren antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Anfängen war unter Beweis gestellt worden, dass es möglich ist, insbesondere auch unter der Jugend eine breite Massenbewegung zum Aufbau des Sozialismus in der DDR zu organisieren - auch unter den Bedingungen einer offenen Grenze. Das hatte eine große Anziehungskraft auf fortschrittliche Menschen in Westdeutschland und nicht wenige gingen in die DDR, um beim Aufbau mit anzupacken.
Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 wurde den Werktätigen dann von der SED-Führung völlig unrealistisch versprochen, die BRD in punkto Konsumgüterverbrauch bis 1961 einzuholen und zu überholen. Mit der Politik des materiellen Anreizes wurden Erwartungen geweckt, die jedoch durch ihre Nichterfüllung die Widersprüche erheblich verschärften. Es kam wie es kommen musste. Es entwickelte sich eine dramatische Fluchtbewegung. 1960 flohen 199.188 Menschen und bis zum Mauerbau 1961 nochmals 155.400 in die BRD. 50 % dieser Flüchtlinge waren unter 25 Jahre alt und rissen große Lücken in Wirtschaft und Verwaltung.
Im Oktober 1967 bewertete die marxistisch-leninistische Zeitschrift „Spartacus“, die von revolutionären Genossen der KPD illegal herausgegeben wurde, die Lage in der DDR: „Der große Abfluss arbeitsfähiger Bevölkerung bewirkte eine Umschichtung der gesamten Bevölkerungsstruktur zum Nachteil der DDR und führte in letzter Konsequenz zu einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage. Die Revisionisten drohten in den eigenen Schlingen gefangen zu werden. Sie sahen nur noch einen Ausweg, den Bau der Mauer.“ (DDR Aktuell Nr.1 S. 48, Broschüre der MLPD )
Die Mauer wurde am 13. August errichtet und im offiziellen Sprachgebrauch auch noch demagogisch als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet. Natürlich gab es revanchistische Bestrebungen des BRD-Imperialismus, Zersetzungsarbeit usw. und auch die volkswirtschaftlichen Verluste der DDR unter den Bedingungen der offenen Grenze und durch Flüchtlinge waren bittere Realität. Mit revanchistischen Bestrebungen, bürgerlicher Zersetzungsarbeit und faschistischer Hetze wird man aber auch mit der höchsten Mauer der Welt nicht fertig. Da gibt es nur einen Weg: im Vertrauen auf die breiten Massen den Kampf um die Denkweise im Massenumfang zu entfalten und ihr sozialistisches Bewusstsein zu entwickeln.
Dazu war aber die SED- Führung mit ihrer kleinbürgerlich-revisionistischen Denkweise weder willens noch in der Lage. Sie hatte sich längst 1956 der Revision des Marxismus-Leninismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU kritiklos angeschlossen und in der DDR einen bürokratischen Kapitalismus restauriert. Dieser erfuhr mit dem Bau der Mauer seinen offensichtlichen Bankrott.
Sie haben Recht, wenn sie schreiben, dass die Westmächte damals zwar öffentlich den Bau der Mauer verurteilten ihn aber „gestatteten“. In der Broschüre DDR-Aktuell haben wir geschrieben:
„Die Entscheidung zum Bau der Mauer fiel jedoch nicht allein in Ostberlin. Gedeckt durch eine Konferenz der Staats- und Parteichefs der RGW-Länder in Moskau vom 3. bis 5. August 1961 sowie eine Absprache zwischen Chruschtschow und dem US-Präsidenten Kennedy in Wien griffen die Bürokraten zum Mittel der gewaltsamen Lösung ihrer Probleme. Sie vertieften damit die Spaltung der deutschen Nation.“ (ebenda S. 49)
Ich hoffe damit ihre Fragen beantwortet zu haben.
Mit solidarischen Grüßen
Gabi Fechtner