Leseprobe
Vorwort
Der Sozialismus gewinnt wieder an Ansehen. Immer mehr Menschen kritisieren das kapitalistische System grundsätzlich und suchen nach einer gesellschaftlichen Alternative. Insbesondere die Industriearbeiter sehen, wie die Internationalisierung der kapitalistischen Produktion unter dem Diktat des Finanzkapitals zerstörerische Kräfte hervorbringt, die weder durch nationale Regierungen noch internationale Organisationen beherrscht werden können.Auf der anderen Seite erkennen immer mehr Belegschaften internationaler Konzerne, dass sie einem internationalen Industrieproletariat angehören und solidarisch über Ländergrenzen hinweg für ihre gemeinsamen Interessen kämpfen müssen. In solchen Kämpfen erfahren sie, dass sie die modernen Produktions-,Transport- und Kommunikationsmittel in Bewegung setzen – und nicht die Finanz-, Industrie- und Handelsmanager. Die materiellen Möglichkeiten und auch die Kräfte, Wissenschaft und Technik zur Lösung der brennenden Probleme der Menschheit anzuwenden, sind längst vorhanden. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen über eine Welt nachdenken, in der die weltweit produzierten Reichtümer den Arbeitenden zugute kommen und nicht wenigen Spekulanten; in der die großartigen wissenschaftlichen und technischen Fortschritte genutzt werden,Hunger und Not, kriegerische Konflikte und Umweltkatastrophen zum Nutzen aller zu überwinden. Umfragen belegen immer wieder: Eine wachsende Mehrheit der Bundesbürger »hält den Sozialismus für eine gute Idee, die bisher nur schlecht verwirklicht wurde«.
Tatsache ist aber auch, dass verlässliche Kenntnisse über den Sozialismus rar sind: sowohl über die Errungenschaften als auch über die Schwächen und Fehler bisheriger sozialistischer Gesellschaften. Jahrzehnte antikommunistischer Propaganda haben ihre Spuren hinterlassen. Auch auf politisch Interessierte wirken antikommunistische Vorurteile, die in den letzten Jahren wieder verstärkt verbreitet werden. Für bürgerliche Politiker, Geschichtswissenschaftler und Journalisten war Sozialismus schon immer ein Unheil oder gar ein Verbrechen. Die wachsende Zahl verfälschender, verleumderischer Artikel und Bücher, Filme und Dokumentationen über Stalin und den »Stalinismus« soll dem wachsenden Interesse am Sozialismus entgegenwirken. Doch immer mehr Menschen denken über den herrschenden Kapitalismus und Imperialismus hinaus, fragen nach dem Standpunkt und den Motiven der antikommunistischen so genannten »Spezialisten«. Sie wollen den historischen Tatsachen und Zusammenhängen auf den Grund gehen und sich ernsthaft mit dem Sozialismus beschäftigen.
Das ist auch unbedingt erforderlich. Ohne sicheres Wissen über die sozialistische Sowjetunion und über Stalin, der sie drei Jahrzehnte lang entscheidend beeinflusste, lässt sich das neue Interesse am Sozialismus nicht befriedigen. Ohne klare Urteile lässt sich kein neuer Aufschwung des Kampfes für eine sozialistische Zukunft in Gang setzen.
Dabei soll das neue Buch »Lehren aus dem sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion« helfen. Es ist ein Angebot an alle, die sich selbst ein Urteil bilden wollen: sowohl über den Sozialismus in der Sowjetunion als auch über die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD). Sie hat diese Erfahrungen kritisch ausgewertet und aus ihnen schöpferische Schlüsse für die heutigen und künftigen ideologischen, politischen und praktischen Auseinandersetzungen gezogen. Weil es viel Zeit erfordert, alles Wichtige in den 29 Veröffentlichungen der Partei nachzulesen, die zwischen 1969 und 2003 erschienen sind und Aussagen zum Sozialismus in der Sowjetunion enthalten, sind 218 Zitate in diesem Buch gesammelt. Sie wurden unter 23 Themen geordnet und mit kurzen Einleitungen versehen, damit die Leser leichter finden können, was sie interessiert.
Warum ist es so schwer, sich ein Bild vom Sozialismus in der Sowjetunion zu machen? Nicht allein die offen antikommunistischen Verleumdungen stehen dem im Weg. Es ist auch längst nicht alles Sozialismus, was als »Sozialismus« ausgegeben wird. Schon vor fast 40 Jahren hat die MLPD nachgewiesen, dass sich seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 der Charakter der Sowjetunion gewandelt hat. Aus dem sozialistischen Staat der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten wurde ein Staat, in dem eine neue Bourgeoisie aus führenden Funktionären der Partei, des Staates und der Wirtschaft herrschte. Es ist Demagogie, wenn innen- oder außenpolitische Entwicklungen in der Sowjetunion seit der Restauration des Kapitalismus als Beleg für das angebliche Fortbestehen von Ausbeutung und Unterdrückung im Sozialismus herangezogen werden.Vieles, was seitdem geschah, ist in der Tat zu verurteilen – aber als kapitalistisch oder imperialistisch und nicht als »sozialistisch«!
Das bedeutet keineswegs, dass vorher, in der sozialistischen Sowjetunion, Arbeiter und Bauern bereits wie im Paradies gelebt hätten. Auch zu Zeiten Lenins und Stalins mussten die Werktätigen große Schwierigkeiten meistern und Opfer bringen, um ihr Land aufzubauen und zu verteidigen. Dabei waren Fehler nicht zu vermeiden, selbst schwere Fehler nicht. Es wurden auch Verbrechen von kleinbürgerlichen Bürokraten begangen, die sich in der sozialistischen Gesellschaft infolge bürgerlicher Einflüsse entwickelt hatten. Das hat die MLPD nie verschwiegen, sondern im Gegenteil klar herausgearbeitet und offen kritisiert. In den ausgewählten Zitaten ist das leicht nachzuvollziehen. Wesentlich bleibt aber, dass es Fehler und Probleme auf dem sozialistischen Weg waren. Sie müssen nicht wiederholt werden, wenn ihre Erscheinungsformen und Ursachen erkannt sind.
Gerne verbreitet der moderne Antikommunismus die Vorstellung, der Sozialismus habe scheitern müssen, weil »die Menschen « zu egoistisch wären. Ernsthafte Beschäftigung mit der Geschichte der Sowjetunion verlangt genaueres Hinsehen. In den 1930er Jahren entstand aus Millionen Handwerkern, Bauern,Tagelöhnern, die zehn Jahre früher noch wie im Feudalismus gelebt hatten, eine zunehmend besser ausgebildete und organisierte Arbeiterklasse. Die vom Zarenreich unterdrückten Nationen befreiten sich und nahmen am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufschwung teil. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die sozialistische Sowjetunion einen von den meisten für undenkbar gehaltenen Wirtschaftsaufschwung zustande brachte. Die Arbeiter und Bauern der Sowjetunion bewältigten riesige Probleme und bauten ihren sozialistischen Staat auf. Das Volk, die Industrie und Landwirtschaft, die Armee dieses Staates erwiesen sich in den 1940er Jahren als stärker als die stärkste und technisch am besten ausgerüstete Armee Europas, die Wehrmacht des faschistischen Deutschlands und seiner Verbündeten. Die sozialistische Sowjetunion unter Führung Stalins wurde die entscheidende Kraft für den Sieg im II.Weltkrieg.
Tatsache ist allerdings auch, dass die Sowjetunion in den 1950er Jahren kleinbürgerlichen und bürgerlichen Einflüssen aus dem Inneren erlag, Angriffen auf den Sozialismus, die von der Führung der Kommunistischen Partei selbst ausgingen. Chruschtschow und die Schicht kleinbürgerlicher Bürokraten, deren Führer er geworden war, verzerrten den Marxismus-Leninismus, um ihre Durchsetzung kapitalistischer Prinzipien zu rechtfertigen. Sie schalteten alle Kommunisten aus, die am Sozialismus festhalten wollten und deshalb dem Revisionismus Widerstand leisteten. Der Sozialismus in der Sowjetunion ist nicht »gescheitert«, sondern – weil es noch nicht genügend Erfahrungen gab – durch einen Staatsstreich, in einer weitgehend »friedlichen Konterrevolution« überwunden worden.
Die MLPD hat diese Erfahrungen ausgewertet, hat analysiert, woher dem Sozialismus die Hauptgefahr droht. In den vier Jahrzehnten seit 1969 entstand Stück für Stück eine immer vollständigere Kritik an der kleinbürgerlich-revisionistischen Denkweise, an Ideologie und Politik des Revisionismus, der Grundlage der Restauration des Kapitalismus in sozialistischen Ländern.Willi Dickhut entwickelte die Lehre von der Denkweise. Sie erklärte zum ersten Mal, weshalb und wie Revolutionäre vom sozialistischen auf den kapitalistischen Weg abdrifteten und auf welche Weise eine solche Entwicklung kontrolliert und verhindert werden kann. Oft lässt sich zuerst an Veränderungen der Lebens- und Arbeitsweise der Funktionäre erkennen, dass ihre proletarische Denkweise von der kleinbürgerlichen Denkweise verdrängt wird: dass sie ein Machtgefühl und einen bürokratischen Arbeitsstil entwickeln, sich von den Massen entfernen und bürgerliche Privilegien beanspruchen.Was Lenin schon in der Sowjetunion forderte, die Kontrolle der leitenden Funktionäre durch die revolutionären Massen und durch eine besondere Zentrale Kontrollkommission, das hat die MLPD zu einem System der Selbstkontrolle der Partei weiterentwickelt.
Diese Schlussfolgerungen sind im Programm und im theoretischen Organ der MLPD nachzulesen und in ihrer erfolgreichen praktischen Verwirklichung nachzuprüfen. Sie geben Mut und Zuversicht, sich für einen neuen Aufschwung des Kampfes um den echten Sozialismus zu engagieren. Nach der nächsten sozialistischen Revolution, die internationalen Charakter haben wird, werden sich die siegreichen Revolutionäre nicht allein gegen die offenen Feinde im In- und Ausland wappnen, sondern von Anfang an mit einem System der Selbstkontrolle der sozialistischen Gesellschaft dafür kämpfen, dass die leitenden Funktionäre in Partei, Staat und Wirtschaft auf dem sozialistischen Weg bleiben. So werden sie verhindern, dass noch einmal der Sozialismus gestürzt wird und eine neue Bourgeoisie Ausbeutung und Unterdrückung wiederherstellt. Sozialismus ist die einzige Alternative zur kapitalistischen Barbarei. Die diesem Buch zu entnehmenden »Lehren aus dem sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion« sind Argumente, sich für den Sozialismus einzusetzen und die MLPD zu stärken: die Partei, die diese Lehren erarbeitet hat und in ihrer politischen Praxis in Deutschland anwendet.
Stefan Engel
September 2008