Leseprobe
Richtiger Umgang mit Stalins Verdiensten und Fehlern
»Willi Dickhut bezog auch Stellung zur Stalinfrage:
›Die Revisionisten leugnen oder bagatellisieren die Verdienste Stalins und stellen die Fehler Stalins übermäßig heraus … In den theoretischen Arbeiten Stalins liegen ja gerade seine Verdienste, aber in der Praxis beging Stalin Fehler, die im Widerspruch zu seinen theoretischen Arbeiten standen. Wir müssen die Verdienste Stalins anerkennen, indem wir seine theoretischen Lehren studieren, verbreiten und in unserer täglichen Arbeit verwerten.
Seine Fehler, soweit sie unsere praktische Arbeit nicht berühren (Fehler gegenüber der KP Chinas, Fehler beim faschistischen Überfall auf die Sowjetunion 1941, Fehler in der Angelegenheit Kostoff/Bulgarien, Reyk/Ungarn, Slanski/Tschechoslowakei u. a.), brauchen wir nicht herauszustellen, weil sie unsere Praxis kaum beeinflussen. Anders ist es mit dem Hauptfehler Stalins: die Entwicklung der Bürokratie in der Sowjetunion, vor der Lenin immer gewarnt hat. Unter Stalin wurde das Parteimaximum (begrenztes Einkommen für Parteimitglieder) aufgehoben, wodurch die Bürokratie mit Parteibuch sich besonders entfalten konnte. Als sich die Widersprüche zwischen den Massen und der Bürokratie verschärften und Stalin die Gefahr erkannte, glaubte er die Widersprüche durch Maßnahmen von oben, durch den Staatssicherheitsdienst (der ja auch schon verbürokratisiert war), lösen zu können, anstatt die Massen zu mobilisieren und die Diktatur des Proletariats unmittelbar durch die Arbeiter zu verwirklichen. Statt Lösung der Widersprüche duckte sich zunächst die Bürokratie, um nach Stalins Tod durch Chruschtschow von allen Fesseln befreit zu werden. Die Bürokratie formierte sich nunmehr zur besonderen Klasse, die sich über die Massen stellte und die Restauration des Kapitalismus einleitete. Mit dieser Frage werden wir heute im Kampf gegen den Revisionismus immer wieder angesprochen, und darum ist dieser Fehler Stalins für unsere praktische Arbeit von Bedeutung.
Nicht richtig ist es, wenn die Genossen vom KAB (ML) die Verdienste und Fehler Stalins in Prozentzahlen ausdrücken. Dieser Schematismus ist deshalb falsch, weil die Auswirkung der Verdienste und Fehler Stalins eine Verschiebung erfahren hat. So wirkten sich die Fehler Stalins gegenüber der KP Chinas nicht so stark aus, weil die Partei unter Führung Mao Tsetungs durch zum Teil entgegengesetzte politische und militärische Maßnahmen eine verhängnisvolle Auswirkung der Fehler Stalins verhindert hat. Wie, wenn das nicht der Fall gewesen wäre? Umgekehrt wirkten sich die Fehler Stalins in der Frage der Bürokratie zu Lebzeiten Stalins noch nicht so schlimm aus, haben sich aber unter Chruschtschow verhängnisvoll für den Sozialismus ausgewirkt.
Das kann man überhaupt nicht prozentual werten. Bei der richtigen Lösung der Widersprüche zwischen den Massen und der Bürokratie, wie sie meisterhaft durch die Kulturrevolution in China vollzogen wurde, gäbe es heute noch den Sozialismus in der Sowjetunion, und der Revisionismus hätte sich nicht durchgesetzt. Die Stalinfrage ist meines Erachtens keine Hauptfrage in der MLBewegung. Wir wollen Stalin weder über- noch unterbewerten …‹«
Geschichte der MLPD, I. Teil, 1985, S. 225/226