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Mao Tsetungs Kritik an Stalins »Metaphysik«
»Diese Auffassung [von der Einheit der Gegensätze – die Hrsg.] wurde 1956 von Mao Tsetung in einer Rede auf einer Konferenz der Parteikomiteesekretäre der KP Chinas kritisiert:
›Stalin war stark in Metaphysik befangen, und er lehrte viele, sich der Metaphysik hinzugeben. In der Geschichte der KPdSU(B), Kurzer Lehrgang sagt er, daß die marxistische dialektische Methode durch vier Grundzüge charakterisiert wird. In Punkt a) spricht er vom Zusammenhang der Dinge derart, als ob die Dinge, welche sie auch immer seien, ohne jeden Grund miteinander zusammenhingen. Welche Dinge hängen denn eigentlich miteinander zusammen? Die zwei gegensätzlichen Seiten einer Erscheinung. Jedes Phänomen hat zwei Seiten, die in Gegensatz zueinander stehen. In Punkt d) spricht er von den inneren Widersprüchen der Dinge. Dabei behandelt er nur den Kampf der Gegensätze, ohne auf ihre Einheit einzugehen. Dem Grundgesetz der Dialektik zufolge, dem Gesetz der Einheit der Gegensätze, liegen die zwei gegensätzlichen Seiten im Kampf miteinander und bilden zugleich eine Einheit, schließen einander aus und hängen zugleich zusammen, und unter bestimmten Bedingungen verwandeln sie sich ineinander.
Stalins Standpunkt findet sich in dem in der Sowjetunion zusammengestellten Kleinen philosophischen Wörterbuch (vierte Auflage) unter dem Stichwort ›Identität‹. Dort wird ausgeführt: ›Es kann keine Identität geben zwischen Krieg und Frieden, Bourgeoisie und Proletariat, Leben und Tod und anderen derartigen Phänomenen, denn sie stehen in einem grundsätzlichen Gegensatz zueinander und schließen einander aus.‹ Mit anderen Worten, zwischen diesen fundamental entgegengesetzten Erscheinungen existiere keine Identität im Sinne des Marxismus; im Gegenteil, sie schlössen einander aus, hingen nicht miteinander zusammen und könnten nicht unter bestimmten Bedingungen ineinander übergehen. Diese Darstellungsweise ist grundfalsch …
Stalin war unfähig, den Zusammenhang zwischen dem Kampf und der Einheit der Gegensätze zu sehen. Manche Leute in der Sowjetunion sind so metaphysisch und so erstarrt in ihrem Denken, daß sie meinen, ein Ding sei entweder so oder so, und die Einheit der Gegensätze nicht anerkennen. Daher machen sie in der Politik Fehler.‹
(Mao Tsetung,Ausgewählte Werke, Bd.V, S. 415/416)
Diese Kritik Mao Tsetungs ist insofern richtig, als Stalin in seiner Schrift ›Über dialektischen und historischen Materialismus‹ die Frage der Einheit der Gegensätze nicht unmittelbar anspricht,was in diesem Zusammenhang nötig gewesen wäre. Sie ist ebenfalls berechtigt, wenn sie Abweichungen in der Sowjetunion kritisiert, die aber nicht von Stalin selbst getragen oder hingenommen wurden. Die Kritik Mao Tsetungs ist aber unberechtigt, wenn er sie auf Stalin und seine theoretische und praktische Arbeit insgesamt ausdehnt.«
Die dialektische Einheit von Theorie und Praxis – Revolutionärer Weg 24, 1988, S. 83–85