4. Der Übergang zum weltweiten Wirtschaftskrieg
Die NATO-Staaten belegten Russland mit der Kriegswaffe massiver Sanktionen. Dem ersten Sanktionspaket der EU vom 23. Februar folgten bis zum 3. Juni 2022 fünf weitere. Dazu kamen Sanktionen vieler einzelner Länder wie der USA, von Großbritannien, Kanada, Japan, der Schweiz usw.
Erstens richten sich Maßnahmen wie das Einfrieren von Vermögenswerten und Einreiseverbote gegen zunächst 1 091 Personen und 80 Organisationen, darunter Oligarchen oder der russische Außenminister Sergej Lawrow sowie Präsident Wladimir Putin.
Zweites Ziel sind Unternehmen und Banken: Unter anderem können Aktien russischer Staatsunternehmen nicht mehr in der EU gehandelt werden. Russische Banken, auch die russische Zentralbank, können in der EU kein Geld mehr verleihen oder leihen. Sieben große russische Banken sind aus dem Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen worden.
Drittens richten sich die Sanktionen gegen Importe und Exporte der russischen Wirtschaft. Die westlichen Staaten unter Führung der NATO stoppten die gerade fertiggestellte Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. Sie verboten auch den Import von russischer Kohle, die Tätigkeit von russischen und belarussischen Speditionen in der EU und das Einlaufen von Schiffen unter russischer Flagge in EU-Häfen. Weiter gibt es gezielte Ausfuhrverbote in hochtechnologische Bereiche Russlands im Umfang von 10 Milliarden Euro, erweiterte Einfuhrverbote und die Abkoppelung Russlands von öffentlichen Aufträgen und europäischen Geldern. Die EU beschloss mit dem sechsten Sanktionspaket ein Ölembargo, das allerdings nur für Öltanker und nicht für Pipelines gelten soll.
Die Sanktionen haben in ihrer Gesamtheit den Charakter eines weltweiten Wirtschaftskriegs angenommen mit entsprechenden Auswirkungen auf die politische Ökonomie des imperialistischen Weltsystems. Entgegen dem unsinnigen Versprechen, ökonomische Sanktionen könnten den Krieg stoppen, haben sie keinen unmittelbaren Einfluss auf den konkreten Verlauf des Kriegs.
Der Vorsitzende der CDU, Friedrich Merz, sieht den Zweck der Sanktionspolitik gegen Russland darin, »dem industriell-militärischen Komplex dieses Landes das Rückgrat zu brechen«[70].
Es geht strategisch also darum, Russlands Wirtschaft zu ruinieren und den weiteren Aufstieg Russlands als neuimperialistische Macht zu stoppen.
Unter der Bedingung der internationalisierten Produktion und aufgrund der Tatsache, dass sich 154 Länder der Welt – darunter große Länder wie China, Brasilien, Indien, Mexiko, Indonesien und sogar das NATO-Mitglied Türkei – bisher nicht an den Sanktionen beteiligen, kann die NATO ihre Ziele kaum erreichen. So werden die finanzpolitischen Sanktionen unter anderem durch die chinesische SWIFT-Alternative CIPS unterlaufen sowie durch das von Russland geschaffene SPFS-System, an das 400 russische Banken angeschlossen sind. Zum Beispiel hat Indien, das 80 Prozent seines Ölbedarfs importieren muss, im unmittelbaren Umfeld der Sanktionsbeschlüsse »die Einfuhr von mehr als drei Millionen Barrel Rohöl aus russischer Förderung« vereinbart.[71] Viele Länder in Asien, Afrika oder Lateinamerika handeln mit Russland als vermeintlichem Bündnispartner im Kampf gegen die neokoloniale Ausbeutung ihrer Länder durch die USA. Manche wollen auch ihre eigenen imperialistischen Ambitionen ausbauen.
Zudem gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den notwendig gewordenen Ersatzlieferanten für Energie nach Europa keineswegs problemlos. Kurz nachdem mit Katar alternative Gaslieferungen vereinbart worden waren, forderte das reaktionäre Emirat Abnahmegarantien für mindestens 20 Jahre zu unverschämten Preisen.[72] Bis dahin wollte Deutschland jedoch längst fast vollständig auf fossile Energien verzichten.
Entgegen allen vollmundigen Absichtserklärungen westlicher Regierungen tragen die russischen Massen die Haupt-last der imperialistischen Sanktionspolitik – und eben nicht die hauptverantwortlichen Kriegstreiber und Oligarchen. Allein in Moskau verloren 200 000 Beschäftigte ihre Arbeitsplätze, weil ausländische Firmen ihren Betrieb eingestellt haben und internationale Versorgungsketten weitgehend gekappt sind. Bereits im März 2022 stieg die Inflation in Russland auf 17,3 Prozent.[73]
Russland, bis 2021 beliebter Handelspartner Deutschlands und Lieferant von 55 Prozent des deutschen Gasverbrauchs, lieferte noch Mitte April 2022 täglich Erdgas mit einer Kapazität von circa 2 400 Gigawattstunden. Außerdem bezog Deutschland rund 50 Prozent seiner Importkohle und rund 35 Prozent seines Erdöls aus Russland.[74]
Vor allem die deutschen Energie-, Chemie- und Stahlkonzerne, die bisher besonders von den wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland profitieren, wollen die Sanktionen nicht bis zum Äußersten treiben. BASF-Chef Martin Brudermüller warnte die deutsche Bundesregierung eindringlich davor, sich auf einen Stopp russischer Gaslieferungen einzulassen: Eine solche Maßnahme »könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen und unseren Wohlstand zerstören«.[75]
Entgegen der bürgerlichen Propaganda von der großen Einheit der NATO und der EU wies der Chef des Monopolverbands der deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, bereits am 7. März 2022 die Forderung der US-Regierung nach einer Abkoppelung der deutschen Wirtschaft von China und Russland brüsk zurück:
»Wir waren und werden nicht Befehlsempfänger der amerikanischen Regierung. … (Putins) Verbrechen sind nicht das Aus von globalem Handel und globaler Arbeitsteilung. Austausch, nicht Abschottung bleibt unser Prinzip.«[76]
Bundeskanzler Scholz schließt sich der Drohung an, dass ein Gasembargo »von einem Tag auf den anderen … unser Land und ganz Europa in eine Rezession … stürzen« würde.[77] Die Angst vor politischen Massenprotesten und vor der Entwicklung des proletarischen Klassenkampfs gegen die Abwälzung der Krisen- und Kriegslasten auf den Rücken der Massen ist eine Triebfeder des Krisenmanagements der Bundesregierung.
Doch mit dem spätestens Ende April beschlossenen Strategiewechsel der NATO ließ auch die Bundesregierung bis dahin vorhandene Hemmungen fallen. Sie bürdete die Kriegs- und Krisenlasten immer offener den Massen auf. Allein die durch die Sanktionspolitik angeheizte Spekulation mit Lebensmitteln, Rohstoffen aller Art und Energieprodukten treibt die Inflation gewaltig in die Höhe. Die von der Ampel-Koalition beschlossenen sogenannten »Entlastungspakete« für einen Teil der Bevölkerung sind nur eine kurzfristige Dämpfung. Zynisch rechtfertigt Vize-Kanzler Robert Habeck das Ölembargo gegen Russland mit den Worten:
»Das … wird eine Zumutung bedeuten. … wenn nachher die Preise nach oben gehen. … das ist der Preis, der getragen werden kann und … muss.«[78]
Die Propaganda für Klassenzusammenarbeit und Verzicht wurde wesentlicher Bestandteil der psychologischen Kriegführung. Das Internetportal Telepolis deckte auf:
»Die Behauptung, die Inflation sei das Produkt des Ukraine-Krieges, ist also schlicht eine Falschmeldung. Es fällt ja auch gleich auf, dass durch den Krieg noch keine Ernte in der Ukraine oder Russland ausgefallen ist … Auch Gas und Öl fließt zu den vereinbarten Preisen aus Russland nach Westen. … (Die) Preisbildung … wird eben nicht, wie meist unterstellt, durch die derzeitigen Kosten bestimmt, sondern richtet sich auf zukünftige Gewinnerwartungen.«[79]
Folgerichtig schwärmt die Zeitschrift WirtschaftsWoche am 18. Mai 2022:
»Der Markt für Rohöl ist … auch ideal geeignet, um Geld anzulegen. … Wer zum Beispiel in den vergangenen zwölf Monaten … auf Öl gesetzt hat, konnte seinen Einsatz gemessen am Preis für ein Fass Rohöl fast verdoppeln.«[80] Das konterkariert natürlich die Wirkung der Sanktionen. So rechnet Russland in diesem Jahr trotz der Embargos mit zusätzlich 13,7 Milliarden Euro für den Export von fossilen Brennstoffen.[81]