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2.2. Veränderte Zielsetzung der NATO im Ukrainekrieg

Der erfolgreiche Widerstand der ukrainischen Truppen gegen die Einnahme Kiews durch die russischen Invasoren änderte die strategische Zielsetzung der NATO bei ihrer Unterstützung der Ukraine auf Druck des US-Imperialismus: vom anfänglichen »Stopp der Kriegshandlungen« hin zum »Sieg über die russischen Invasoren«. Auf einem gemeinsam mit US-Außenminister Antony Blinken eilends organisierten Treffen mit Wolodymyr Selenskyj am 24. April 2022 in Kiew proklamierte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin:

»Sie können gewinnen, wenn sie die richtige Ausrüstung und die richtige Unterstützung haben … Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.«[36]

Natürlich wünschen die Massen der Welt zu Recht, dass so etwas wie der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine nie wieder stattfindet. Doch was nun offenbar wurde, war das eigentliche, nur humanitär verpackte Ziel der NATO: die strategische Schwächung des neuimperialistischen Russlands und damit auch von dessen »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« mit China. Diese Ziele sind aber ohne massive Aufrüstung der ukrainischen Armee durch Lieferungen von schweren Waffen der NATO, Ausbildung der ukrainischen Armee in NATO-Ländern und letztlich ohne ihr unmittelbares Eingreifen nicht möglich. Der Überfall Russlands auf die Ukraine brachte dem US-Imperialismus die gewünschte Konstellation, seine eigene Strategie durchzusetzen und die EU-Imperialisten auf seinen aggressiven Kriegskurs zu trimmen.

Die maßgeblichen Kräfte des deutschen Monopolkapitals gaben ihre anfängliche Strategie – Begrenzung und schnellstmögliche Beendigung des Kriegs – auf und entschieden sich für die Unterstützung des verschärften Kriegskurses der USA und der NATO. Am 28. April 2022 beschloss der Deutsche Bundestag in einer »ganz großen Koalition« die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.[37] Damit bekam die Beteiligung Deutschlands am Ukrainekrieg eine neue Qualität.

Als Antwort auf die Lieferung schwerer Waffen der NATO an die Ukraine erklärte Russland diese prompt zu Angriffszielen der russischen Armee.[38]

Russland drohte mit taktischen Atomwaffen. Deren Einsatz war schon bewusst einkalkuliert im russischen nationalen Sicherheitskonzept aus dem Jahr 2000, das die »Festigung der Position Russlands als Großmacht« festschrieb.[39] NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bereitete die Kündigung der NATO-Russland-Grundakte vor, in der sich die NATO unter anderem verpflichtet hatte, keine Atomwaffen in Osteuropa zu stationieren.

Es ist eine heuchlerische Lüge, wenn NATO und Bundesregierung bis in den Mai 2022 beteuerten, sie wollten keinesfalls Kriegspartei werden. Im Gegensatz dazu betonte ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags bereits am 16. März 2022 in verschwurbeltem Juristendeutsch, dass die mit Waffenlieferungen verbundene Ausbilderfunktion völkerrechtlich als Kriegseintritt bewertet werden könne, denn

»wenn … auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.«[40]

Eine Ausbildung von 18 ukrainischen Besatzungen an der Offensivwaffe Panzerhaubitze 2000 begann die Bundeswehr offiziell am 11. Mai 2022 in Idar-Oberstein/Deutschland.[41] Die NATO lastet die Verantwortung für eine mögliche Eskalation zu einem atomaren Weltkrieg schon jetzt Russland an, aber die Änderung der Strategie des erweiterten NATO-Bündnisses bereitet mutwillig die Ausdehnung des Kriegs zu einem Dritten Weltkrieg vor. Die Beteiligten an einem solchen Konflikt können dessen Eigendynamik nicht mehr kon­trollieren, sie müssen mit allen Optionen rechnen – bis hin zum verheerenden Schlagabtausch mit atomaren, biologischen und chemischen Waffen.