1.1. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt
Der Zusammenbruch der sozialimperialistischen Supermacht Sowjetunion und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 1990/1991 führte zu einem einheitlichen Weltmarkt. Das zog die Neuorganisation der internationalen kapitalistischen Produktion nach sich. Dieser Prozess der wirtschaftlichen und politischen Neuordnung der Welt wälzte das gesamte bisherige imperialistische Weltsystem um.[7] Alle imperialistischen Länder und die führenden internationalen Monopole der Welt konkurrierten erbittert um die Vorherrschaft auf dem neu entstandenen Weltmarkt.
Inzwischen hatten sich in China und einigen bevölkerungsreichen ehemals neokolonial abhängigen Ländern einheimische Monopole und staatsmonopolistische Strukturen herausgebildet. Sie führten zur Entstehung einer Reihe neuimperialistischer Länder. Bereits im Jahr 2017 gab es mindestens 14 neuimperialistische Länder, in ihnen lebte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.[8] Sie machten den USA, Japan und den Staaten der EU zunehmend Absatzmärkte und Einflussgebiete streitig. Einige dieser Länder bauten eine regionale imperialistische Vormachtstellung auf. Dazu gehören Indien, die Türkei, Russland, Südafrika, Saudi-Arabien und Brasilien. Sie verfolgen Visionen eigener imperialistischer Vorherrschaft, entwickeln schnell wachsende militärische Machtapparate und bilden weltweit ideologisch-politische Machtzentren zur Manipulation der öffentlichen Meinung heraus. Das ging mit einer gefährlichen Rechtsentwicklung der Regierungen aller imperialistischen Länder einher, deren vorläufiger Höhepunkt in den Jahren 2010 bis 2020 die US-Präsidentschaft des Faschisten Donald Trump war.
Der Internationalisierung von Produktion und Handel folgte die Internationalisierung des Klassenkampfs und der sozialen Bewegungen. Es entstand ein wachsendes internationales Industrieproletariat mit inzwischen circa 746 Millionen[9] Industriearbeiterinnen und Industriearbeitern. Dieses stand fortan an der Spitze weltweit bedeutender Streiks und Klassenauseinandersetzungen. Auch die kämpferische Frauen-, Jugend- und Umweltbewegung nahm länderübergreifend einen neuen Aufschwung und der Kampf um demokratische Rechte und Freiheiten entfaltete sich.
Der zwischenimperialistische Konkurrenzkampf verschärfte sich nach 2020 drastisch, vor allem mit der 2018 begonnenen Weltwirtschafts- und Finanzkrise in Wechselwirkung mit der verheerenden Corona-Pandemie. Als zuvor einzige Supermacht waren die USA ökonomisch und politisch deutlich zurückgefallen. China stieg dagegen zu einer ökonomischen Supermacht auf und war im Begriff, die USA vom Spitzenplatz abzulösen. Auch auf politischem und militärischem Gebiet drängt China zu dieser Rolle. Darauf zielt sein seit 2013 verfolgtes Mammutprojekt einer »Neuen Seidenstraße«. Der Konkurrenzkampf zwischen den USA und China dominiert inzwischen allgemein die zwischenimperialistischen Widersprüche, die sich zugleich multipolar[10] entfalten. Auch der imperialistische Block der EU positioniert sich mehr und mehr in Konkurrenz zu den USA, aber auch zu China. Innerhalb Europas ringen die EU und Russland um politische Vormacht.
Russland gründet sein besonderes Profil als neuimperialistische Macht einerseits auf dem gigantischen Reichtum vor allem an fossilen Rohstoffen. Zum anderen bewahrt es seine aus Zeiten der sozialimperialistischen Sowjetunion verbliebene militärische Stärke als eine der beiden größten Atommächte der Welt. Seit 2008 baute es diese weiter aus. Im Gegensatz dazu ist Russland nach wie vor ökonomisch schwach. Seine Industrieproduktion betrug 2020 weniger als die Hälfte der Deutschlands. Den russischen Imperialisten ist bewusst, dass ihr Wunschtraum von einer großrussischen Supermacht nur durch die Einverleibung des Potenzials ehemaliger Sowjetrepubliken wahr werden kann. Bereits 1997 hatte der ehemalige US-Sicherheitsberater Brzezinski dazu geschrieben: »Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.«[11]
Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist die Ukraine ein Brennpunkt des zwischenimperialistischen Machtkampfs. Sowohl die USA und die EU als auch Russland fokussieren die strategische Ausdehnung ihrer europäischen Einflussgebiete auf die Ukraine.