Blaue Beilage

15 Jahre Große Proletarische Kulturrevolution

Blaue Beilage der Roten Fahne von 1981

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Die Millionenstadt Shanghai 1966: Überall diskutieren Menschen, Jugendliche belagern das Rathaus, Arbeiter streiken, diskutieren und besetzen die Büros von Zeitungen. Die Kulturrevolution in den ersten Monaten, scharfe Auseinandersetzungen – ein „Chaos“?

Nein, eine Revolution. Eine Revolution unter weitaus schwierigeren Bedingungen als der Kampf gegen die japanischen Imperialisten oder ihre chinesischen Mitläufer: Damals waren die Fronten klar gewesen, in der Kulturrevolution aber kamen die Kräfte, die zurück zu einem kapitalistischen Ausbeutersystem wollten, gerade mit revolutionären Sprüchen daher. Wieso gibt es im Sozialismus noch Klassenkämpfe, die so scharf ausgetragen werden?

Jan Myrdal, ein schwedischer Journalist, beschreibt die Entwicklung der neuen Bürokratie in seinem Buch „China – die Revolution geht weiter“:

Die Entwicklung verlief überall in China gleichartig. Die Kader fingen an, sich als Beamte zu fühlen, und redeten sich ein, daß das Volk ja doch nicht so viel verstünde. Die vor nicht langer Zeit gestürzte Grundbesitzerklasse gewann allmählich Beziehungen, heiratete in die Familien der Kader hinein, lachte freundlich und machte Verbeugungen. Ihre Kinder waren es, die höhere Schulen besuchten und bessere Zeugnisse erhielten, doch wenn die Rede auf den Klassenkampf kam, sagten die jungen Kader nur: 'Die Leute reden so viel.'(S. 45)

Besonders scharf stellte sich die Frage im Erziehungswesen: Die Arbeiter und Bauern schickten Kollegen zum Studium auf die Hochschule. Viele kamen gar nicht an, denn mit Beziehungen ergatterten immer noch meistens Bürgersöhne oder Kinder gewisser Funktionäre die wenigen Studienplätze. Zurück kamen die jungen Leute nicht als ausgebildete Kämpfer für den Sozialismus – sondern als eingebildete, ehrgeizige Spezialisten. „Die Schule besuchen, um sich einen Namen zu machen“, und: „Aus der Schule hervorgehen als Spezialist, als hochgestellte Persönlichkeit, die in der gesellschaftlichen Rangordnung hervorragende Ämter bekleiden und viel Geld verdienen wird“ – das war das Motto von Jiang Nanxing, dem Rektor der Pekinger Universität bis zur Kulturrevolution.

Wie sollte unter diesen Bedingungen der Sozialismus aufgebaut werden? Es war so, wie der REVOLUTIONÄRE WEG 19 schreibt: „Die sozialistische ökonomische Basis kann sich so lange nicht konsolidieren, wie im Überbau, in Verwaltung, Regierung und Partei, in Theater, Presse und Kultur nicht die Interessen der Arbeiter und Bauern die Politik bestimmen.“

Die „Basis“, das ist das sozialistische Eigentum. Doch ohne wirkliche Kontrolle der Arbeiter über alle Bereiche der Gesellschaft wird das ein leerer Spruch: Was nützt es, wenn am Fabriktor steht „Volkseigener Betrieb“ und drinnen herrscht ein bürokratischer Betriebsdirektor und jeder Arbeiter schafft nur für sich? Da mußte es früher oder später zu einem Zusammenstoß kommen. Mao Tsetung und viele Kommunisten in China wußten: Es nutzt nichts, einzelne Vertreter dieser revisionistischen Linie abzusetzen. Es kommt auf das Bewußtsein der großen Masse an.

1964 bereits spitzten sich die Widersprüche zu. Die Peking-Oper wurde aufs Korn genommen. Statt alter Kaiser und Könige sollen die Arbeiter, ihr Leben und ihr Kampf auf die Bühne. Dabei sollten die überlieferten künstlerischen Formen bewahrt und mit neuen Inhalten verbunden werden. Die moderne, revolutionäre Peking-Oper entstand.

Aber der Widerstand der Herrschaften mit Privilegien formierte sich.

Die Diskussion entzündete sich an dem Theaterstück „Hai Jui wird entlassen“. Verpackt in die historische Sage von den Beamten Hai Jui, der den Kaiser kritisiert und zu Unrecht entlassen wird, verfolgte der stellvertretende Bürgermeister von Peking, Wu Han, politische Ziele. Wu Han, ein Vertrauter des damaligen Staatspräsidenten Liu Shaoqi, hatte das Stück auf die Absetzung von Funktionären 1959 durch das Zentralkomitee der KP Chinas gemünzt.

Der Mann den er da als mutigen „Hai Jui“ verklärte, forderte die Rückkehr zu kapitalistischen Methoden in der Wirtschaft. Und der selbstgefällige „Kaiser“ sollte niemand anderer sein als Mao Tsetung.

In Shanghai gab es heiße Diskussionen um eine Kritik an dem Stück, die Jao Wenyuan, ein junges Parteimitglied, verfaßt hatte: Er nannte den politischen Inhalt beim Namen. Doch zunächst verhinderten einflußreiche Freunde von Wu Han und Liu Shaoqi die Veröffentlichung.

Ein Komitee für die Kulturrevolution wurde eingesetzt. Ausgerechnet der Pekinger Bürgermeister Peng Dschen sollte die Kritik an dem Machwerk seines Stellvertreters organisieren. Schon hier zeigte sich, daß es selbst im Zentralkomitee Leute gab, die zurück wollten zu den alten, kapitalistischen Zuständen. Nicht offen, aber insgeheim.

An einem Theaterstück brachen also die Widersprüche offen auf. Mit dem „Rundschreiben vom 16. Mai 1966“ kritisierte das ZK der KP Chinas die „Thesen über die Kulturrevolution“, die Peng Dschen eigenmächtig herausgegeben hatte:

  • Die „Thesen“ wollten aus der Kritik an dem „Hai Jui“-Stück und der ganzen Kulturrevolution eine „akademische Diskussion“ machen. Die Kritik an dem politischen Inhalt sollte verboten werden.
  • Die „Thesen“ lenkten vom Klassencharakter der Auseinandersetzung ab: bürgerliche Meinung, sozialistische Meinung, alles sollte gleichberechtigt nebeneinander stehen. Doch es ging ja um mehr: Um die Frage, ob das alte Ausbeutersystem wieder errichtet wird.
  • Schließlich stemmten sich die „Thesen“ mit aller Kraft gegen die umfassende Kritik durch die Massen. Den Rebellen, die die Zugeständnisse an den Universitäten und Schulen bekämpften, sollten alle möglichen Verbote und Beschränkungen auferlegt werden.

In dem Rundschreiben des Zentralkomitees wird klar und deutlich die politische Absicht genannt, die die „Thesen“ verbergen wollten: „Die Repräsentanten der Bourgeoisie, die sich in die Partei, in die Regierung, in die Armee und in die verschiedenen Bereiche der Kultur eingeschlichen haben, sind ein Häuflein von konterrevolutionären Revisionisten; sie werden, sobald die Zeit dafür reif ist, die politische Macht an sich reißen und die Diktatur des Proletariats in die Diktatur der Bourgeoisie umwandeln.“

Der Startschuss für die Massenkritik an den bürgerlichen Ansichten war gefallen. Beide Dokumente, das Rundschreiben des Zentralkomitees und Peng Dschens „Thesen“, wurden in der Partei zur Diskussion gestellt. Was sich an falschen Ansichten, an Fehlern und an Kritik in den Jahren seit dem Großen Sprung angestaut hatte, das prallte nun mit aller Schärfe aufeinander.

Mit einzelnen Kritiken und Verbesserungsvorschlägen war es nicht mehr getan. Zu sehr hatten sich die „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“ von den Interessen des Volkes entfernt.

Nun beginnt die Massenkritik, die revolutionäre Aktion auf der Straße, mit Demonstrationen und Wandzeitungen. Die Kulturrevolution sollte den ganzen Bereich des Erziehungswesens, der Literatur, Betriebsorganisation, also des „Überbaus“ umwälzen.

In Peking begann es am 1. Juni in der Universität mit der Erstellung von großen Wandzeitungen (Dazibaos) .

Sollen wir nur den ausländischen Größen alles nachbeten – oder auf die eigene Kraft, auf die Erfahrungen der Arbeiter vertrauen?“ und Keine unnützen Prüfungen, die Arbeiter und Bauern von den Hochschulen ausschließen!“ So griffen die Studenten die akademischen Größen an.

Auch Mao Tsetung schrieb am 1. August in Peking ein Dazibao unter der Überschrift „Das Hauptquartier bombardieren“. Gegen die einflußreichen bürgerlichen Autoritäten in der Partei sollte sich die Kritik richten.

Am 8. August 1966 veröffentlichte das ZK der KP Chinas den Beschluß über die Große Proletarische Kulturrevolution. In 16 Punkten werden die Massen der Arbeiter und armen Bauern sowie der Soldaten zur Kulturrevolution aufgerufen. In dem Rundschreiben heißt es:

Die Große Proletarische Kulturrevolution, die sich jetzt entfaltet, ist eine große Revolution, die die Seele der Menschen berührt, und stellt in der Entwicklung der sozialistischen Revolution unseres Landes ein neues Stadium dar, das noch tiefer und weiter als das vorangegangene ist. (…) Obwohl die Bourgeoisie gestürzt worden ist, versucht sie immer noch, die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Sitten und Gebräuche der Ausbeuterklasse zu verwenden, um die Massen zu korrumpieren, ihre Herzen zu gewinnen und das Ziel der Restauration mit allen Kräften zu erreichen. (…) Da die Kulturrevolution eine Revolution ist, stößt sie unvermeidlich auf Widerstand. Dieser kommt hauptsächlich von jenen Machthabern, die sich in die Partei eingeschlichen haben und den kapitalistischen Weg gehen. (…) Der Ausgang dieser großen Kulturrevolution wird davon bestimmt sein, ob die Parteiführung es wagt oder nicht, kühn die Massen zu mobilisieren.“

Überall schließen sich nun die Jugendlichen zu „Roten Garden“ zusammen. Sie ziehen aufs Land, sie diskutieren mit Arbeitern in den Fabriken und Bauern auf dem Feld – während sie selbst an der Arbeit teilnehmen. Chinas Jugend greift den Aufruf Mao Tsetungs und der KP Chinas begeistert auf. Sie wird zur treibenden Kraft gegen die überkommenen Vorurteile, gegen bürokratische Strömungen und die Wiederherstellung des Ausbeutersystems.

Im August kommen Rote Garden aus Peking nach Shanghai. Die Revisionisten versuchen alles mögliche, um sie als „wilde Gruppen“ in schlechten Ruf zu bringen und zu isolieren. Am 31. August begibt sich eine Delegation der Pekinger Roten Garden zur Shanghaier Stadtverwaltung, wird dort aber nicht empfangen. Daraufhin besetzen die Roten Garden bis zum 4. September die Umgebung des Rathauses.

Wir versuchten, mit den Leuten zu sprechen und verteilten die 16-Punkte-Erklärung vom 8. August. Die meisten Leute konnten es nicht verstehen, daß die Stadtverwaltung uns nicht empfangen hatte. Einmal kamen Anhänger von Liu und wollten uns vertreiben. Wir hielten aber zusammen und wehrten uns. Da gab es dann manche blutige Nase.“

Den Pekinger Roten Garden gelang es, Kontakt mit Jugendlichen herzustellen und Kontakte zu Arbeitern zu knüpfen. Als die Agenten Lius merkten, daß der Einfluß der Roten Garden wuchs und ihre Hetze nicht so erfolgreich war, wie sie hofften, riefen sie die Arbeiter Shanghais zum offenen Kampf gegen die Studenten und Schüler auf. Aber mit diesen Manövern hatten sie die Arbeiter unterschätzt. Die waren sehr wohl in der Lage, zwischen schwarz und weiß, richtig und falsch, zwischen ihren Interessen und denen von Chen, Liu und Deng zu unterscheiden.

Die Rebellion der Shanghaier Arbeiter nahm in der Textilindustrie ihren Anfang, genauer gesagt, ging sie von der Fabrik Nr. 17 aus: „Wieso sollen wir gegen die Schüler und Studenten vorgehen? Ich kann nichts falsches in ihren Handlungen erkennen. – Es soll sich aber um Aufrührer handeln, die der Volksrepublik viel Schaden zufügen. – Meine Schwester erzählte mir, daß sie gesehen hat, wie es vor dem Rathaus zu Schlägereien gekommen ist. Wir müssen die Stadtverwaltung auffordern uns zu sagen, was los war. Außerdem sollten wir uns selbst mit den Roten Garden unterhalten. – Ja, wir müssen prüfen, wer hier den richtigen Weg und wer den kapitalistischen Weg geht.“

Im November 1966 gründeten die Shanghaier Arbeiter das „Hauptquartier der revolutionären Arbeiterrebellen Shanghais“. Lassen wir Huang, Verantwortlicher für die Revolutionskomitees der Stadt Shanghai berichten:

In den Wohnhäusern, in den Familien, in den Autobussen – überall geriet man aneinander. Der Verkehr war von Trupps, die sich auf der Straße bildeten, blockiert. Bei den Trolleybussen, die die Arbeiter auf dem Heimweg benutzten, konnte es passieren, daß der Fahrer anhielt, um sich selbst an den Diskussionen seiner Fahrgäste zu beteiligen. An den Fabriktoren stritt man sich. Bis zwei Uhr morgens war die ganze Stadt auf den Beinen; die Nacht schlug man sich mit Debatten um die Ohren, kein Mensch ging mehr schlafen. Der Kampf setzte sich in den Familien fort – zwischen Vater und Sohn, Mann und Frau. Wenn Sie mich fragen, ob man sich auch schlug, dann würde ich sagen: Nein, aber es war so, daß manchmal auch Eheleute nach vielstündigen Diskussion eine Zeit lang nicht mehr miteinander sprachen. Die Stadt stand Kopf, die Transporte waren blockiert, der Hafen lag für eine Weile still, die elektrische Versorgung war unterbrochen. Die Feinde der Revolution, die zeitweise die Kommandohebel der Stadt in der Hand hielten, sorgten dafür, daß es drunter und drüber ging.“

Die beiden Agenten Lius in Shanghai, Chen und Cao, kamen jetzt mit der „ökonomistischen Welle“, um die Arbeiterrebellen zu behindern und die Revolution aufzuhalten:

Liebe Genossen, nach gründlicher Untersuchung ist die Stadtverwaltung zu der Ansicht gekommen, daß wir euch rückwirkend für eure guten Leistungen eine Sonderprämie auszahlen werden. In Zukunft werden wir die Erfüllung des Planes und deren Überschreitung durch besondere Prämien belohnen. Auch werden besonders fleißige Arbeiter Extraprämien bekommen, damit sie weiterhin so fleißig arbeiten werden.“ Sie wiegelten sogar Arbeiter zu Streiks auf.

Dann aber begannen die Diskussionen erst: „Sollen wir unsere Gesellschaft auf Bestechung aufbauen?“ fragten die Arbeiterrebellen. „Seid ihr nicht zu stolz, daß ihr für ein paar Yuan mehr die Macht aus der Hand gebt?“ „Aber man muß auch leben!“ „Erinnert euch an das alte Ausbeutersystem – konntet ihr da leben?“

Schließlich beendeten die Streikenden ihre Aktion und vereinten sich mit den Rebellen.

Nun wurde immer deutlicher, daß es an der Zeit war, Chen und Cao aus ihren Machtpositionen zu entfernen. Im Januar 1967 konnten die Arbeiter die beiden Shanghaier Zeitungen erobern. Die Zeitungen enthüllten die vorgefallenen Sabotageakte. Um die Macht noch weiter auszubauen, gründeten die Arbeiterrebellen im Februar die „Revolutionskomitees von Shanghai“.

Die Revolutionskomitees stützten sich auf die Dreierverbindung von revolutionären Kadern, den Massen und der Volksbefreiungsarmee. Diese Dreierverbindungen entstanden auf allen Ebenen, in den Fabriken und Verwaltungen des Landes. Die Arbeiter setzten mit den Revolutionskomitees die alten Bürokraten und die „Machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen wollten“ ab, sie übernahmen selbst die Führung der Fabriken und Verwaltungen.

Im Beschluß über die „Proletarische Kulturrevolution“ heißt es dazu:

Es ist notwendig, ein allgemeines Wahlsystem ähnlich dem in der Pariser Kommune einzuführen, nach dem die Mitglieder der Kulturrevolutionsgruppen und -komitees und die Delegierten zu den Kulturrevolutionskongressen gewählt werden. Die Kandidatenlisten sollen nach gründlicher Erörterung von den revolutionären Massen aufgestellt und die Wahl soll vorgenommen werden, nachdem die Listen von den Massen wieder und wieder erörtert worden sind.

Die Massen sind berechtigt, die Mitglieder der Kulturrevolutionsgruppen und -komitees und die Delegierten zu den Kulturrevolutionskongressen jederzeit zu kritisieren. Wenn sich die Mitglieder oder Delegierten als unfähig erweisen, können Sie nach Erörterung von den Massen durch Wahl ersetzt oder abberufen werden.“ (Dokumente der Großen Proletarischen Kulturrevolution, S. 165)

Nach etwas mehr als einem Jahr war Liu Shaoqi, oberster Vertreter der revisionistischen Linie in der Partei und seine Kumpane so weit bloßgestellt, daß das Zentralkomitee ihn absetzte und aus der Partei ausschloß. Doch die Diskussionen liefen weiter. Schließlich ging es nicht allein darum, Leuten wie Liu oder Deng Xiaoping das Handwerk zu legen.

Die Menschen wollten weiterkommen. Sie wollen kritisch und selbstkritisch ihr Leben gestalten. Sie wollen die gewaltige Kraft freisetzen, die in den Erfahrungen der Arbeiter und Bauern steckt. Sie wollen nicht zuletzt bei sich selbst aufräumen mit dem alten kapitalistischen Bewußtsein.