Frauen
Zum 80. Todestag von Clara Zetkin
Seit 1915 verband Clara Zetkin, die deutsche Kommunistin, die seit Ende 1931 in Moskau lebte, und Nadeshda Konstantinowna Krupskaja, Lenins Frau, eine enge Freundschaft.
Nach Lenins Tod im Januar 1924 kamen sich beide Frauen noch näher.
Sie veröffentlichten unter dem identischen Titel „Erinnerungen an Lenin“ ihr persönliches Bild von dem viel zu früh verstorbenen Parteigründer. Im gleichen Erholungsheim wie die Deutsche in Behandlung kümmerte sich Krupskaja intensiv um ihre kranke Genossin, übersetzte für sie und beschaffte Material für deren letzte Publikationen. Oft sprachen die beiden Freundinnen über den bedrohlichen Aufstieg des Faschismus in Deutschland und über das so sehnlich erhoffte Aufwachen der deutschen Arbeiterklasse.
Anfang August 1932 erhielt Zetkin einen Brief vom Zentralkomitee der KPD, in dem ein kühner Plan entwickelt wurde. Er sah vor, dass sie als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages die neue Sitzungsperiode eröffnen, die dort stark vertretenen Faschisten angreifen und unter den Abgeordneten der KPD und SPD für die Einheitsfront gegen die Faschisten werben sollte.
Krupskaja erinnerte sich, wie es war, als Zetkin den Brief las und ihre Entscheidung fällte:
„Niemand glaubte, dass sie (Zetkin) dazu imstande sein werde. Sie … konnte kaum noch das Bett verlassen, ihre Kräfte waren erschöpft, und sie litt unter ständiger Atemnot. Als ihr aber die Kommunistische Partei Deutschlands mitteilte, ihr Kommen wäre erwünscht, zögerte sie nicht einen Augenblick. Sie raffte ihre letzten Kräfte zusammen und reiste, mit Kampfer und anderen Stärkungsmitteln versehen, nach Deutschland.“
Diese besorgte ihr Sohn Maxim, der Arzt war, ebenfalls in Moskau lebte und sie auf der Reise begleitete. Stärkungsmittel menschlicher Art stellte Krupskaja zur Verfügung: Ihre Fürsorge für die Gebrechliche und Ermutigungen für ihre nicht ungefährliche Mission, denn die Faschisten hatten Drohungen gegen sie erhoben.
Nach einem gut durchdachten Plan reiste Zetkin Mitte August 1932 nach Berlin, legte aber die letzte Etappe von der polnischen Grenze in die Hauptstadt im Auto zurück. Die Faschisten lauerten vergeblich am Lehrter Bahnhof. Als dann noch am Tag vor ihrem Auftritt im Reichstag im Zentralorgan der KPD, „Rote Fahne“, ein Interview erschien, das auch als Sonderflugblatt der kommunistischen Reichstagsfraktion herauskam, war klar, dass die Faschisten diese Runde verloren hatten.
Aug in Aug mit den Faschisten
30. August 1932, 15 Uhr. In dem bis auf den letzten Platz gefüllten Reichstag wird die 75-jährige Alterspräsidentin von ihrem Sohn ans Rednerpult geleitet und eröffnet die neue Legislaturperiode. Unerschrocken greift sie den Faschismus an.
Sie nennt ihn eine Gewalt, die „mit Blut und Eisen alle klassenmäßigen Lebensäußerungen der Werktätigen vernichten soll“.
Kein einziges der 230 Braunhemden im Plenarsaal, die eine Partei repräsentieren, die im Juli des Jahres mit 37,3 Prozent der Stimmen die Reichstagswahl gewonnen hatte, wagt einen Zwischenruf.
Doch Zetkins Einsatz kann nicht verhindern, dass die Faschisten 1933 ihr Terrorregime errichten.
Dennoch ist sie nicht gebrochen, als sie nach einigen Tagen in einer sicheren Wohnung eines deutschen Genossen in die Klinik von Archangelskoje
zurückkehrt. Dort wird sie von Krupskaja und vielen anderen Genossen begeistert empfangen. Zetkins Ansehen im russischen Volk war schon immer groß, jetzt ist es noch größer.
In dem ihr noch verbleibenden Jahr bis zu ihrem Tode kämpfte die greise, fast vollständig erblindete Revolutionärin unverdrossen darum, ihre Pflichten im internationalistischen Kampf wie bisher zu erfüllen. Gleichzeitig war sie bis zuletzt bemüht, weiterhin in Deutschland zu wirken.
Im Dezember 1932 empfing sie die Schriftstellerin Lenka von Koerber, die seinerzeit damit befasst war, ein Buch über den sowjetischen Strafvollzug fertig zu stellen, zu einem Gespräch. Sie erhoffte sich von der Publikation, ein Fenster zum Sozialismus zu öffnen und wichtige Impulse für die Diskussion des Strafvollzugs in Deutschland geben zu können.¹
Am 8. 3. 1933 wurde Zetkin der Lenin-Orden verliehen, der höchste Orden der Sowjetunion. Ihre Dankesrede enthält eine der wenigen Würdigungen
Stalins aus ihrer Feder, drückt aber zugleich auch ihre Distanz zu ihm aus. Zunächst stellte sie die „unvergleichlichen und unvergänglichen historischen
Leistungen“ von Marx, Engels und Lenin heraus. Dann forderte sie, „die überragende Betätigung ihrer nahen und nächsten Schüler und Mitarbeitenden“ im Rahmen einer „Geschichte der Menschheitsbefreiung“ zu verzeichnen. Dabei würdigte sie Stalin dann aber als „den hervorragenden Leiter des Sowjetstaates, der mit bewunderungswürdiger Energie und Treue seine ganze Kraft daransetzte, dass der sozialistische Aufbau, das teure Vermächtnis
der drei großen Führer, verwirklicht wird“.²
Eine ehrliche Bilanz
Am 20. Juni 1933 starb Clara Zetkin, 76 Jahre alt, in Archangelskoje.
Zwei Tage später trugen führende Genossen der KPD und KPdSU die Urne mit ihrer Asche zur letzten Ruhestätte für verdiente Revolutionäre an der Kreml-Mauer, wo in vielen Sprachen Abschied genommen wurde von der großen Kämpferin. Als Krupskaja an der Reihe war, sagte sie unter anderem: „Für unsere Generation, die soviel gelernt hat von der deutschen Arbeiterbewegung, war der Name Zetkin ein Banner. Wladimir Iljitsch liebte Clara ganz besonders, und er liebte es, mit ihr von ‚Herz zu Herz‘ zu sprechen.“³
In ihrem Nachruf vom Juni 1933 würdigte Krupskaja die Verstorbene auch als „tapfere Kämpferin gegen jeden Opportunismus“.
Sie habe es verstanden, die „Reste des Sozialdemokratismus trotz ihrer jahrzehntelangen (Verankerung in den … – Anm. des Autors) Traditionen
der deutschen Sozialdemokratie nacheinander zu überwinden“.⁴
Bis ins hohe Alter hinein habe sie sich der Kritik Lenins gestellt und nach Gesprächen mit ihm manch falsche Ansicht revidiert. Abschied
nehmend von der Verstorbenen, wünschte sich Krupskaja für ihre Genossen und für sich, „unsere Pflicht vor der internationalen Arbeiterklasse so zu erfüllen, wie sie Clara Zetkin erfüllte“. Womit wohl auch ihre unerbittliche Haltung zum Opportunismus gemeint war. In deutlicher Abgrenzung von einem ein Jahr vorher verfassten Artikel über Zetkin 1932 sprach Krupskaja in ihrem Nachruf aber auch davon, dass die Verstorbene „dem Charakter des Zeitalters und dem Einfluss der deutschen Sozialdemokratie Tribut gezahlt“ habe.⁵
Sie und die anderen Linken in der SPD hätten die „Fetischisierung der Parteieinheit“ ausgerechnet in dem Moment
praktiziert, „als diese Partei (die SPD – Anm. des Autors) aufhörte, der Sache der Revolution zu dienen“.⁶
Es sei unnötig, dies an Zetkins Grab zu verheimlichen. Dieser Bilanz ihres Kampfes gegen den Opportunismus hätte Zetkin gewiss nicht widersprochen.