Referat

Referat

"Ein Adler war sie doch..." - Rosa Luxemburg - Umstritten wie streitbar – eine kritische biografische Skizze

Jedes Jahr, am zweiten Januarwochenende, ziehen zigtausende in Berlin nach Friedrichsfeld zur Ge­denkstätte der Sozialisten, die auch Rosa Luxemburg gewidmet ist. Das war in der DDR so und blieb für viele auch nach der Wiedervereinigung wichtige Tradition.

Von Anna Bartholomé
"Ein Adler war sie doch..." - Rosa Luxemburg - Umstritten wie streitbar – eine kritische biografische Skizze

Nach der Wiedervereinigung wurde dieses „stille Gedenken“ aber auch lautstark er­weitert: mit der europaweit größten Demonstration für den Sozialismus, geprägt be­sonders von jungen Leuten und linken Jugendverbänden. Polizeieinsätze in den ers­ten und Spaltungsversuche in den letzten Jahren sind kläglich abgeprallt.

Und immer im Zentrum: Lenin, Karl Liebknecht – und Rosa Luxemburg.

Irgendwann einmal wurde sie zur Ikone stilisiert.

Anders als in der DDR war es in Westdeutschland in den Zeiten des kalten Krieges still um sie geworden. Aber dann tauchte ihr Portrait 1968 in den Studentendemons­trationen wieder auf. In meinem ersten Tübinger Semester kaufte ich mir das Poster, Erklärung meiner Rebellion, mit der ich mir schon als Schülerin im heimatlichen Eifelstädtchen den Ruf einer „roten Anna“ eingehandelt hatte.

Das passte: schließlich war Rosa Luxemburg gegen den imperialistischen Krieg auf die Barrikaden gegangen, wie wir nun gegen den Vietnamkrieg demonstrierten. Da war eine Intellektuelle, die all ihre Fähigkeiten und Kenntnisse bedingungslos in den Dienst des Volkes stellte. Genau das, was wir auch tun wollten. Und nicht zuletzt er­schien sie als kraftvoll-lebendige Revolutionärin und verkörperte unsere Idee vom Sozialismus - das genaue Gegenbild zu diesen merkwürdig-marionettenhaft wirken­den grauen Männern, die von Ostberliner Betonbalustraden herab am 1. Mai ein fähnchenschwenkendes Volk huldvoll grüßten.

Aber dass die an ihrem Grabmal Kränze ablegten und ihre Nachfolger aus der Linkspartei es noch heute tun...

dass keine SPD-Geschichtsbroschüre erscheint, ohne dass sie als Ahnfrau rühmen­de Erwähnung findet - ...

ja, dass sie, die eines der Mordopfer des alten Antikommunismus ist, heute als Kronzeugin des modernen Antikommunismus bemüht wird, das passt nun ganz und gar nicht. Bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit wird ihr Satz von der »Freiheit des Andersdenkenden« bemüht - ausgerechnet von denjenigen, die mit Verfassungsschutzspitzeln alles was links oder gar kommunistisch ist, überwachen verleumden und ausgrenzen. Ein Paradox, das nicht logischer wird, wenn es immer wieder wiederholt wird.

Ich habe nicht den Anspruch, eine umfas­sende Wür­digung und Beurteilung Rosa Lu­xemburgs vorzule­gen. Aber ich will versuchen, sie aus der erdrücken­den Umarmung derjenigen zu holen, die sich in ihrem Glanz sonnen und zugleich das genaue Ge­genteil ihrer Ziele ver­folgen. Das erscheint dem ein oder anderen vielleicht pole­misch, aber ich halte es für notwendig, um ein paar An­stöße zum Nachdenken dar­über zu geben, was wir aus ihrem Lebenswerk - aus ihren Stärken, wie auch aus ih­ren Fehlern - ler­nen können.

Und ich denke, da gibt es eine Menge.

Rosa wurde als jüngstes von fünf Kindern einer Kaufmanns­familie in Zamocz gebo­ren. Das liegt in der Nähe von Lu­blin und gehört zum damals dem russischen Zaren­reich ein­verleibten Teil Polens. Schon ihr Geburtsdatum ist nicht unumstritten - wahr­scheinlich war es der 5. März 1871 - aber in den auf ihrem revolutionären Vagabun­denleben gele­gentlich ge­fälsch­ten Papieren ist auch einmal der 25. De­zember 1870 erwähnt, wie sie auch manchmal als Rosalie oder Rosalia fir­mierte und sich die Schreibweise des Nach­namens änder­te.

Wenige Jahre nach Rosas Geburt siedelte die Familie nach Warschau über, wohl auch um der Enge des kleinstädtischen Gettos zu entkommen. Die Luxemburgs wa­ren gläubige Juden, widersetzten sich aber orthodoxer Engstirnigkeit. So hat Rosa Luxemburg das Judentum immer als Religionszuge­hörigkeit respektiert, aber nicht als Nationali­tät aufgefasst, wiewohl sie die besondere Verfolgung der Juden be­reits als Zehnjährige hautnah bei einem Pogrom im War­schauer Getto erlebte und sie später ja auch in der Poli­tik den damals schon herrschenden Antisemitismus mit Be­schimpfungen als »jüdische Bolschewikin« zu spüren bekam.

Noch konnte sich niemand den millionenfachen, fabrikmäßigen Massenmord der Hit­lerfaschisten an den europäischen Jugend vorstellen. Und so hat sie die Verfolgung und Diskriminierung der Juden immer als eine von vielen verstanden und die Vor­stellung vom »auserwäh­lten Volk« zurückgewiesen.

1917 schrieb sie an ihre langjährige Freundin Mathilde Wurm: »Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putu­mayo, die Neger in Afrika mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. ... O diese 'erhabene Stille der Unendlichkeit'(1), in der so viele Schreie ungehört ver­hal­len, sie klingt in mir so stark, daß ich keinen Sonder­winkel im Herzen für das Getto habe: ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschen­tränen gibt.« (R.L Gesammelte Briefe, Bd.5, S.177)

Das bildungsbürgerliche, liberale Klima ihres Elternhau­ses - die Mutter begeisterte sich besonders für Schiller und klassische Musik - hat sie sicherlich geprägt und er­möglichte ihr eine damals für ein Mädchen sehr ungewöhn­liche höhere Schulbil­dung. Dabei waren die Luxem­burgs keineswegs reich. Rosa berichtete einmal, wie selbst das Bettzeug noch ins Pfandhaus geschleppt werden musste, weil sonst nichts Essbares mehr auf den Tisch gekommen wäre.

Als Fünfjährige erkrankte sie an einem Hüftleiden und war fast ein ganzes Jahr lang in Gips ans Bett gefesselt. Ihr hinkender Gang, ihre zarte Statur blieben ihr. Aber sie hat in dieser Zeit auch lesen und schreiben gelernt und - wohl vermittelt durch die Mutter - ihre Liebe zur Poesie entwickelt, ihre aufmerksame Beobachtungsgabe für die sie umgebenden Menschen und die Natur geschärft.

Schon als Jugendliche schloss sich Rosa einem oppositionel­len Schülerzirkel an. Das war für polnische Jugendliche damals nichts ungewöhnliches. Den Schülern war der Gebrauch der Muttersprache streng untersagt. Das durch die Lehrer erzwunge­ne Russisch trieb die jungen Polen in die Opposition und ließ sie auch gegen das dahinter stehende erzreaktio­näre russische Za­renregime rebellie­ren.

Über diese Schü­leropposition bekam Rosa Luxemburg zu den ersten soziali­stischen Arbeiterzir­keln Polens Kontakt. Damals entstand daraus die Partei »Proleta­riat«, die große Streiks mit organisier­te. Im Gegensatz zu anderen polni­schen Oppositions­gruppen, die in erster Linie für die natio­nale Unabhängigkeit Po­lens ein­traten, vertrat »Prole­ta­riat«, dass die Freiheit des polni­schen Volkes nur im Bünd­nis mit der russi­schen revolutionären Bewegung er­kämpft werden könne.

Die Verfolgung dieser Bewegung durch die zaristische Poli­zei war brutal. Kurz nach ihrem Abitur - das sie als beste Schülerin absolviert hatte - wofür ihr aber die Aner­kennung mit einer damals üblichen Goldmedaille wegen ihrer politischen Renitenz versagt blieb - musste auch Rosa knapp 18jährig flie­hen. Einer der wichtigsten Ar­beiterführer Polens, der Dachdecker Martin Kasparzak, soll ihre Flucht organisiert haben. Als Fluchthelfer soll ein katholi­scher Pfarrer fungiert haben, dem die beiden weisgemacht hatten, die junge Jüdin wolle zum katholischen Glauben übertreten und werde deshalb von ihrer orthodoxen Familie verstoßen. Auf einem Heuwagen ver­steckt, überquerte sie die Grenze. So jedenfalls wird die Geschichte überliefert.

Anfang 1889 kam Rosa Luxemburg nach Zürich. Die Ortswahl war nicht zufällig. In Zürich waren - anders als an den meisten europäischen Universitäten der damaligen Zeit - auch Frauen zum Studium zugelassen. Vor allem aber war die Stadt ein Zen­trum der politischen Emigranten aus ganz Euro­pa. In den von Schweizer Sozialisten unterstützten Arbeiterclubs - mit Bibliothek und Lesesaal ausgestattet - lernte sie deutsche So­zialisten kennen, besonders aber auch wich­tige Repräsen­tanten der polnischen und rus­sischen revolu­tionären Bewe­gung, darunter Plechanow, Axel­rod und Vera Sassulitsch.

1890 traf ein - traut man den Fotos - bemerkenswert schö­ner junger Mann mit feuri­gen Augen, ein gewisser Leo Jogi­ches in Zürich ein. Nur wenige Jahre älter als Rosa, hatte der junge Pole aus einer wohlhabenden Familie bereits umfangreichere Kennt­nisse des Marxismus als sie. Er war nach einer Ge­fängnis­stra­fe wegen seiner politi­schen Aktivitäten vor der zaristi­schen Polizei geflohen.

Leo Jogiches sollte ihre große Liebe werden. Eine poli­tisch ungeheuer fruchtbare Bezie­hung, aber auch voller Tragik und unerfüllter Sehn­süchte. Leo Jogiches tat sich offenbar schwer, die Rolle des bewunderten Lehrers, die er anfänglich für sie hatte, zu überwinden. Sie wünschte sich mehr emotionale Wärme und ein engeres Zusam­menleben.

Die große Zahl von Briefen Rosa Luxem­burgs an ihn - seine sind nicht erhalten ge­blieben - geben ein bewegen­des Zeug­nis von dieser tiefen - und konfliktreichen - Liebe. 17 Jahre später würde sich Rosa von ihm trennen - poli­tisch haben sie weiter zusammen­gearbeitet. Leo Jogiches gehört zu den weniger bekannten Gründern der KPD. Er über­nahm das Amt des Generalsekretärs der KPD nach dem Mord an Lu­xemburg und Lieb­knecht. Aber bereits wenige Wochen spä­ter - am 10. März 1919 wurde auch er verhaftet, schwer misshandelt und »auf der Flucht erschossen«.

An der Universität schrieb sich Rosa Luxemburg zunächst für die Naturwissenschaf­ten ein. Ihre Verbundenheit zur Natur blieb immer eine besondere. Sie hat ihr mit genauen Natur­beob­achtungen Gefäng­niszeiten ertragbar gemacht. Daraus schöpfte sie auch die Kraft, den Blick über die alltäglichen Schwierigkeiten hinaus zu heben.

So schreibt sie in einem ihrer Gefängnisbriefe an eine Genossin:

Vergessen Sie nicht, wenn sie noch so beschäftigt sind, den Kopf zu heben und einen Blick auf diese riesigen, silbernen Wolken zu werfen und auf den stillen, blauen Ozean, in dem sie schwimmen. Beachten Sie doch … den Glanz und die Herrlichkeit, die auf diesem Tag liegen; denn dieser Tag kommt nie nie wieder.“

Aber die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften hat auch ihr Verständnis für eine materialistische und dialektische Weltsicht geschärft.

Es gehört zu den grundlegendsten marxistischen Positionen, von der Einheit von Mensch und Natur auszugehen und heute sehen wir, dass diese existentielle Einheit durch eine drohende Umweltkatastrophe infrage gestellt wird.

Ob Rosa Luxemburg die Frühschiften von Marx zur Entfremdung – des Menschen von der Arbeit, von der Natur und auch vom Menschen selber – kannte, weiß ich nicht. Engels Schriften zur Dialektik der Natur waren damals noch nicht veröffentlicht.

Aber ihre Naturverbundenheit war nicht nur eine emotionale, sondern eine weltanschauliche Grundposition.

Und in einem 1916 ebenfalls aus dem Gefängnis an Luise Kautsky gerichteten Brief kritisiert sie deren Verzweiflung über die Entwicklung des Kriegs und das Verhalten der SPD-Führer:

»Dein Kopf ist voller Sorgen um die schiefgehende Weltge­schichte und Dein Herz voller Seufzer um die Erbärmlich­keit der - Scheidemann & Gen. … Dieses völlige Aufgehen im Jammer des Tages ist mir über­haupt unbegreiflich und unerträg­lich. ...

Und da ich nun von hohen und höchsten Dingen rede, noch eine Sache, die mir kei­ne Ruhe gibt: Die Sternenwelt scheint auch ohne mein Verschulden in Verwirrung geraten zu sein. Ich weiß nämlich nicht, ob Ihr vor lauter Sorgen um Scheidemann bemerkt habt, daß voriges Jahr eine epoche­machende Entdeckung gemacht worden ist: Der Engländer Walkey soll 'das Zentrum des Weltalls' entdeckt haben, und das wäre der Stern Kanopus ..., der 'nur' 500 Lichtjahre von uns entfernt und etwa 1 1/2 Millionen Mal größer ist als die Sonne. Diese Dimensionen imponieren mir nun gar nicht, ich bin abgebrüht. Aber eine andere Sorge habe ich: Ein Zentrum, um das sich 'alles' bewegt, verwandelt das Welt­all in eine Kugel. Nun finde ich es von vollen­deter Abge­schmacktheit, mir das Universum als eine Kugel - eine Art großen Kartof­felkloß oder Eisbombe - vorzustellen. Diese Symetrie der Figur ist gerade in diesem Fall, wo es 'ums Ganze' geht, eine ganz kleinbürgerliche, platte Vorstel­lung. Sodann aber geht doch dabei nicht mehr und nicht minder wie die Unendlichkeit des Uni­versums flöten. Denn eine 'kugelförmige Unendlichkeit' ist doch Blech. Und ich muß zu meinem geistigen Komfort unbedingt noch irgend etwas außer der menschlichen Dummheit als unendlich denken können!...« (R.L. Ges. Briefe, Bd.5, S.162ff)

Das lässt sich den Urknalltheoretikern ebenso wie den von zeitweiligen Niederlagen kleinmütig Gewordenen ins Gebet­buch schreiben!

Für ihre politischen Ziele erschien Rosa Luxemburg schließlich das naturwissen­schaftliche Studi­um doch als zu beschränkt. Darum sattelte sie zum Studium der Staatswis­senschaften und der National­öko­nomie um. Selbst konserva­tive Professo­ren er­kannten ihre außer­ordentliche Begabung, attestierten ihr Fleiß und Gründlich­keit. Sie hat neben den bürgerlichen Klassikern in dieser Zeit vor allem aber die Werke Marx' zur politi­schen Ökonomie stu­diert. Besonders gründlich befasste sie sich mit dessen Hauptwerk „Das Kapital“. In der Marx-Biografie von Franz Mehring wird sie später eine Zusammenfassung des zweiten Bandes beisteuern.

Mit einer umfangreichen Untersu­chung über die Indu­stria­lisie­rung Polens erwarb sie ihren Doktortitel. Sie und ihre Familie waren mächtig stolz darauf.

Unterdessen gingen die Auseinandersetzungen unter den Emi­granten über den rich­tigen Weg des Befreiungs­kampfs gerade auch für Polen in aller Heftigkeit weiter.

Eine Gruppe polnischer Intellektueller hatte sich von »Proletariat« abgewandt - sie erklärten die Vor­stellung für hinfällig, im Bündnis mit der russischen Arbeiterbewe­gung den Kampf auch für die nationale Befrei­ung der Polen füh­ren zu können. Es gebe in Russland solche revolutionären Kräfte nicht, dafür sei die russische Arbeiter­klasse viel zu rückständig. Darum müsse zuerst die Ab­trennung von Russland er­kämpft werden. Erst dann könne vom gemeinsamen Kampf um den Sozia­lismus wieder die Rede sein.

In der Auseinandersetzung mit diesen kleinbürgerlich-na­tionali­stischen Kräften ver­fochten Luxemburg und Jogiches einen internationalistischen Standpunkt. Sie beton­ten die Ein­heit mit der russischen Arbeiterbewegung, sahen in der ökonomisch star­ken Durchdringung der russischen mit der polnischen Industrialisie­rung eine Grund­lage dafür.

Allerdings entwickelte Rosa Luxemburg dabei umgekehrt eine sektiererische Vorstel­lung. Sie lehnte den Kampf um die nationale Unabhängigkeit Polens ganz ab. Ganz offenbar unter­schätzte sie, welch tiefe Verletzungen die jahrhun­dertelange nationa­le Unterdrückung bei großen Teilen der polnischen Bevölkerung hinterlassen hatte. Den berechtigten Widerspruch gegen den russischen Zarismus überließ sie so den Nationalisten verschiedener Couleur, ja man konnte sie so gar als Helfershelferin der russischen Großmachtpolitik hinstellen.

Lenin hat Rosa Luxemburg in dieser - auch auf verschiede­nen internationalen Sozia­listenkongressen ausgefochtenen und nie wirklich geklärten - Frage in ihrem interna­tionalistischen Ansinnen gegen die kleinbürgerli­chen Nationali­sten unterstützt und sie doch auch scharf kriti­siert. »Das eben ist der Kernpunkt des lächer­lichen Fehlers Rosa Lu­xemburgs (...): daß man aus Furcht, dem bür­gerlichen Nationalismus der unterdrück­ten Nationen in die Hände zu arbeiten, nicht nur dem bür­gerli­chen, son­dern sogar dem erzreaktionären Nationalismus der unterdrücken­den Nation in die Hände arbeitet.« (Lenin, Ges. Werke, Bd.19, S.540)

Dass der richtige Umgang mit dieser Frage kein historisch »abgehaktes« Problem ist, macht die gegen­wärtige Entwicklung deutlich, wo beson­ders in Ost­europa, aber selbst in Spanien, Belgien usw die natio­nale Frage eine Wiederbelebung erfährt. Wie kom­pli­ziert und brisant diese Sache ist, macht auch ein Hinweis auf den kurdischen Befreiungs­kampf deutlich.

Lenin hat die Anerkennung des Selbstbestim­mungsrechts der Nationen bis hin zum Recht auf staatliche Lostrennung einmal mit dem Scheidungsrecht verglichen. Weil wir das Recht auf Scheidung einfordern, heißt das nicht, dass wir jedem die Pflicht zur Scheidung auferlegen - aber das Recht auf Scheidung ohne materielle Nachteile ist ein Garant dafür, dass das Zusammen­leben auf wirklich frei­wil­liger Basis über­haupt möglich ist.

Rosa Luxemburg hat diese Dialektik nie tiefgehend verstanden. Noch nach der Oktober­revo­lu­tion kriti­sierte sie die Position der Bolschewiki um Le­nin, die die Anerkennung des nationalen Selbstbestim­mungs­rechts der zahl­reichen vom Za­rismus unterjochten Völker als Voraus­setzung für den Zusammenschluss erkannten. Das hatte Konsequenzen bis in die jüngste Geschichte Polens, wo beispielsweise die bürgerlichen Nationalisten auch aufgrund solcher linker Fehler der Revolutionäre großen Einfluss behalten konnten.

1897 hatte Rosa Luxemburg ihr Studium beendet. Sie siedel­te nach Deutschland um, um dort in der sozialdemokrati­schen Partei - der damals größten revolutionären Organisa­tion Europas - zu arbeiten. Um einen »Heimatschein« zu bekommen, ging sie eine Scheinehe mit Gustav Lübeck ein, dem Sohn einer Sozialistenfamilie, die sie in Zürich ken­nengelernt hatte.

Von den deutschen Genossen war sie zunächst gern gesehen als Agitatorin unter den polnischen Arbeitern in Posen und Ober­schlesien, machte sich aber bald schon als Redakteu­rin von Parteizeitungen in Dresden und Leipzig einen Na­men.

In dieser Zeit begann in Deutschland eine heftige Debatte um die Grundlagen der sozialistischen Arbeiterbewegung, die durch einen der führenden SPD-Köpfe, Eduard Bernstein mit Angriffen auf den Marxismus eröffnet worden war.

Unter dem Titel »Probleme des Sozialismus« vertrat Bernstein in einer Artikelserie die Auffassung, angesichts eines immer stärker werdenden Kapitalismus könnten die Rechte der Arbeiter auch unter Aufgabe des sozialisti­schen Ziels Stück für Stück erreicht werden. Seine Revi­sion des Marxismus gipfelte in dem Satz: »Das Endziel, was immer es sei, ist mir nichts, die Bewegung alles.«

Rosa Luxemburg erkannte schärfer als die damaligen Partei­führer, Wilhelm Lieb­knecht und August Bebel, die Gefährlichkeit dieser mit viel marxistischem Vokabular verbrämten Angriffe.

Es gehörte auch persönlicher Mut dazu, als gerade einmal 28jährige, kaum in Deutschland eingelebte Genossin, gegen den allseits geschätzten Cheftheoretiker der SPD ins Feld zu ziehen. Aber wenn sie einmal von einer Sache überzeugt war, schreckte sie offenbar nichts.

In ihrer 1899 veröffentlichten Schrift »Sozialreform oder Revolution?« formulierte sie ihren auf zahlreichen Partei­tagen und in Zeitungsartikeln dargelegten Standpunkt:

»Sozialreform oder Revolution? Kann denn die Sozialdemo­kratie gegen die Sozial­reform sein? (...) Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeiten­den Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrich­tungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der poli­tischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuar­beiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialre­form und der sozialen Revolution ein unzertrenn­licher Zusammen­hang, indem ihr der Kampf um die Sozialre­form das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist....

(Bernsteins) ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umge­kehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. ... Da aber das sozialistische Endziel das einzige entschei­dende Moment ist, das die sozialdemo­kratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerli­chen Radika­lismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbe­wegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapi­talistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage 'Sozialreform oder Revolution?' im Bern­steinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage: Sein oder Nichtsein?«

(R.L. Ges. Werke, Bd1/1, S.370f)

Den heute führenden Vertretern der Linkspartei sind sicher diese Positionen nicht unbekannt. Ihre ganze Politik aber - ob den diversen Regierungskoalitio­nen, in Parlamenten oder in ihren Grundsatz­papieren - spricht diesem lebens­länglich von Rosa Luxemburg verfochtenen Standpunkt Hohn und würden einem Bernstein alle Ehre machen. Das gilt übrigens ganz besonders für Sahra Wagenknecht, die sich so gerne als wiedergeborene Rosa Luxemburg stylt und in Talkshows hofieren lässt.

Sie geht ja mittlerweile so weit, dass sie Ludwig Erhard mit seinem Slogan vom „Wohlstand für alle“ - im Kapitalismus wohlgemerkt – zum vorbild erklärt.

Gerade angesichts unserer heutigen Erfahrungen mit der Restaura­tion des Kapitalismus in den ehemals sozialistischen Ländern und der fatalen Rolle der klein­bürgerlichen Denkweise in den Reihen der ehemals revolutionären Parteien, ist die Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs interessant: »Die durch Bernstein theoretisch formulierte opportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes, als eine unbewußte Bestrebung, den zur Partei herübergekommenen klein-bürgerlichen Elementen die Oberhand zu sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln. Die Frage von der Sozialre­form und der Revolution, vom Endziel und der Bewegung ist von anderer Seite die Frage vom kleinbürgerlichen oder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung.

Deshalb liegt es gerade im Interesse der proletarischen Masse der Partei, sich mit der gegenwärtigen theoretischen Auseinanderset­zung mit dem Opportunismus aufs lebhafteste und aufs eingehendste zu befassen. Solange die theoreti­sche Erkenntnis bloß Privilegium einer Handvoll 'Akademi­ker' in der Partei bleibt, droht ihr immer die Gefahr, auf Abwege zu geraten. Erst wenn die große Arbeiter­masse selbst die scharfe, zuverlässige Waffe des wissenschaflti­chen Sozialismus in die Hand genommen hat, dann werden alle kleinbürgerli­chen Anwandlungen, alle opportunisti­schen Strömungen im Sande verlaufen. Dann ist auch die Bewegung auf sicherem, festen Boden gestellt. 'Die Menge tut es.'« (ebenda, S.371)

Das tiefe Vertrauen in die Arbeiterklasse, das aus Rosas Worten spricht, hat sie auch in den schwärzesten Momenten ihrer politischen Arbeit nicht verlassen.

Historisch soll­te sich allerdings zeigen, dass der Einfluss der kleinbür­gerli­chen Denk­weise nicht nur bei Menschen anderer Klassenherkunft wirkt, sondern innerhalb der Arbeiterbewegung zum Fall­strick werden kann. Heute haben wir es mit einem System der kleinbürgerlichen Denkweise zu tun, das nicht zuletzt über die bürgerlichen Massenmedien auch auf die Arbeiterbewegung und besonders auf die Jugend einwirkt. Davon abschließen kann sich niemand – es kommt darauf an, damit fertig zu werden, die proletarische Denkweise im Kampf gegen die kleinbürgerliche immer wieder zu stärken.

Rosa Luxemburg sah durchaus solche Tendenzen innerhalb der Partei, verhöhnte die Be­amtenmen­talität der mit Parlamentsposten und Gewerk­schaftsfunktio­nen ausgestatteten führenden Schicht der SPD und goss beißenden Spott über die Spießerge­sellschaften, die sie dort immer wieder antraf.

Sie forderte zunächst den Ausschluss Bernsteins aus der SPD, setzte sich aber gegen die versöhnlerische Haltung der SPD-Füh­rung damit nicht durch. Ja, im Interesse von Wahlkämpfen und tagespoliti­schen Aufgaben wurde diese Grundsatzdebatte in der SPD immer wieder hintangestellt.

Dass sie sich mit dem Nichtausschluss Bernsteins und seiner Anhänger abfand, zeigte aber womöglich auch bereits ein mangeln­des Verständnis von der Notwendigkeit der Einheit­lich­keit der Partei in ideologisch-politischen Fragen - und die daraus sich ergebenden organisatorischen Schlussfolgerungen -, worüber es mit Lenin ebenfalls heftige Ausein­andersetzun­gen gab. Sie warf ihm in seinen Vorstellungen vom Aufbau der Partei »Ultrazentralismus« vor. Er machte hingegen deutlich, dass einerseits unter den Verhältnissen der Ille­galität in Russland zweifellos die Möglich­keiten zur demo­kratischen Debatte eingeschränkt seien, dass aber der Demo­kratische Zentralismus ein notwendiges Prinzip für eine Kampfpartei ist, das tatsächliche Demokratie in ganz ande­rer Weise ermöglicht, als die scheinbar offener demokrati­sche Forma­tion der damaligen deutschen Sozialdemokratie, wo zwar alle möglichen Strömungen existierten - aber letzten Endes einige führende Köpfe in undemokratischer Weise den Kurs bestimmten.

Wer aber aus Rosa Luxemburg aufgrund dieser Differenzen die Verfechterin pluralistischer Parteikon­zepte ma­cht, wie es heute die Linkspartei sein möchte, oder ihr die Ver­teidi­gung einer allg­meinen »Freiheit der Kri­tik« innerhalb der Partei unter­stel­lt, der muss sie ver­fälschen und ihre Aussagen aus dem Zusam­menhang reißen.

Da war sie klarer, als es manche ihrer Pseudofreunde wohl gerne hören. So schrieb sie 1899 zur Frage der »Frei­heit der Kritik und der Wissenschaft«:

»Es gibt gewiß keine Partei, für die die freie und unauf­hörliche Selbstkritik in diesem Maße eine Lebensbedingung wäre wie für die Sozialdemokratie. Da wir mit der Entwick­lung der Gesellschaft fortschreiten müssen, so ist ein beständiger Umwandlungsprozeß auch in unserer Kampfesweise die Vorbedingung unseres Wachstums, dieser ist aber nicht anders als durch die unaufhörliche Kritik unseres theoreti­schen Besitzstandes zu erreichen. Nur ist aber dabei fol­gendes als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Selbst­kritik in unserer Partei erfüllt bloß dann ihren Zweck, der Entwicklung zu dienen, und ist demgemäß bloß dann zu begrüßen, wenn sie sich eben auf der Linie unseres Kampfes bewegt. (...)

Würden wir mit gleicher 'Freude' jede 'Kri­tik' aufnehmen, die, die uns zum Ziel vorwärts­bringt, wie die, die uns vom Ziel ab - und überhaupt auf ein ganz ande­res Feld zieht, so wären wir nicht eine zielsichere Kampf­par­tei, sondern eine Gesellschaft von Schwätzern, die mit großem Lärm ins Feld hinausgerückt ist, ohne selbst recht zu wissen, wohin es gehen will, und bereit, auf jeden 'Ratschlag' hin die ganze Marschroute zu ändern oder überhaupt zurückzukehren und sich 'schlafen zu legen.'« (R.L. Ges.Werke, Bd.1/1, S.527)

Im Gegensatz zu der allmählich mehr und mehr verbürger­lichenden SPD-Führung erkannte Rosa Luxemburg die große Bedeutung der ersten russischen Revolution von 1905. Sie rei­ste nach War­schau, um an der Orga­nisation der Massen­kämpfe unmittelbar teilneh­men zu kön­nen, wurde aber ver­haftet und konnte erst durch eine von der SPD-Spitze ge­stellte Kaution wieder auf freien Fuß gelangen - was sie furchtbar ärgerte.

Als die russische Revolution niedergeschlagen wurde, ver­suchte sie mit Arbeiten über die Bedeutung von Massen­streiks Lehren für die Arbeiterbewegung in Deutschland zu ziehen. Berechtigt kritisierte sie die parlamentarischen Illusionen der rechten SPD-Führer – stellte dem aber undialektisch den Massenstreik als höchste revolutionäre Kampfform gegenüber. Mit dem Massenstreik allein aber kann die Machtfrage nicht gelöst werden – das sollte ihre eigene Lebensgeschichte tragishc beweisen.

1907 war sie als Dozentin für politische Ökonomie an die Zentrale Parteischule der SPD in Berlin berufen worden. Dort saßen keine Gymnasia­sten, sondern Arbeiter, Gewerkschafter, Menschen, für die die Beschäftigung mit theore­tischen Fragen Neuland war. Es gibt eine Reihe von Berichten ehe­maliger Schüler. Sie alle betonen den Gegensatz, den Rosas Unterricht auch im Verhältnis zu dem anderer Parteilehrer darstellte. Nicht nur mit ihrem enormen histo­rischen und kulturel­len Kenntnis­reichtum fesselte sie ihre Schüler. Kenn­zeichnend war ihre Methode: »Sie stellte Fragen und fragte immer weiter« berichtet eine ihrer Schülerinnen - kurz sie forderte jeden Schüler zum selbständigen Denken, zur eigenständigen Orientierung heraus.

Dass bei ihr Denken, Fühlen und Handeln eins waren - das ließ sie so überzeugend wirken. Das spürten ihre Schüler, das spürt auch jeder, der heute ihre Briefe und Artikel ließt, wenn auf den ersten Blick die Sprache auch ungewohnt erscheinen mag. Den Maßstab hatte sie selbst einmal in einem Aufsatz über die sozialkritische russi­sche Literatur benannt: »Ergreifen und er­schüttern kann nur, wer selber ergriffen und erschüttert ist.« (R.L. Ges.Werke, Bd.4 S.308)

Sie hatte große Träume und ließ sie sich zu keinem Zeit­punkt verbieten. Eine abge­hobene Schwärme­rin war sie deshalb noch lange nicht. Unermüdlich reiste sie durch ganz Deutschland, besonders in Zeiten, wo es innerhalb der Partei Dinge zu klären gab und sie die Mitglieder und Wähler in die Diskussion einbeziehen wollte. In Tanz- wie Wirtshaussälen trat sie auf, ohne Mikros und technische Anlagen, versteht sich

»Rosa Luxemburg war eine hinreißende Rednerin«, heißt es im Bericht eines Zeitzeugen. »Doch nie machten rhetorische Mittel ihr Glück. Sparsam in großen Worten und Gesten, wirkte sie allein durch den Inhalt ihrer Reden, und nur die silberhelle, volltönende melodische Stimme, die ohne Anstrengung einen großen Saal füllte, kam ihr zur Hilfe. Sie sprach stets frei. Am liebsten ging sie beim Reden lässig auf der Tribüne auf und ab, weil sie sich so dem Hörer näher fühlte. Nach wenigen Sätzen hatte sie mit den Menschen Kontakt und nahm sie dann ganz in den Bann.« (Paul Fröhlich zitiert in rororo-bild-monographie Rosa Luxemburg S.146)

Besonders in der Zeit als Parteilehrerin hat sie auch theo­retische Arbeiten ver­öf­fentlicht. Über ihre Arbeiten zur ökonomischen Entwicklung vom Kapitalismus zum Imperialismus gab es - wieder einmal - Auseinandersetzungen mit Lenin, der ihre eine mangelnde dialektische Durchdringung der komplizierten neuen Entwicklungen des Kapitalismus hin zum Imperialismus nachwies.

Weitgehend einig waren sich die beiden allerdings in der Beurteilung der politischen Entwicklung und der Aufgaben, die sich daraus für die revolutionäre Bewegung ergaben. Die relativ abge­schlossene Aufteilung der Welt unter die großen Kolo­nialmächte geriet in Widerspruch zu der ungleichmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung der imperialistischen Mächte. Insbesondere der deutsche Imperia­lismus überflügelte in kurzer Zeit seine französischen, briti­schen und russi­schen Konkurren­ten und trachtete nun danach, »seinen An­teil« am großen Kuchen der Ausplünderung anderer Länder und Völker zu ergattern. Die Kriegsgefahr wurde immer spürbarer, ein gewaltiges Wettrüsten setzte ein.

Die Stellung zu Krieg und Militarismus wurde zur entschei­denden Frage in der internationalen Arbeiterbewegung. Auf Kongressen der II. Internationale, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien, kämpften die Inter­na­tionalisten um Lenin, Liebknecht und Luxemburg um Weichenstel­lun­gen für den Zusammen­schluss der Arbeiter gegen das Kriegs­treiben ihrer jeweiligen Regierungen. Resolu­tionen mit solchem Inhalt wurden auch noch bis kurz vor dem Ausbruch des Krieges verabschiedet. Aber um parlamentarischer Positio­nen willen, aus Furcht, als »Vaterlandsverräter« dazustehen, ließen sich die Parteiführungen auf immer neue Kuhhändel ein.

In der deutschen Sozialdemokratie hatte Rosa Luxemburg auf dem linken Parteiflügel Verbündete in dem verzweifelten Ringen gefun­den, die organisierte Kraft der SPD für den Kampf um den Frieden zu gewinnen: das war der um viele Jahre ältere sozialistische Literaturkritiker und Historiker, Franz Mehring. Da war Karl Lieb­knecht, der Sohn des Parteigründers Wil­helm Liebknecht, Rechtsan­walt und Reichstagsabgeordneter. Dieser war als Parlamentsabgeordneter in der breiten Bevölkerung wesentlich bekannter als Rosa Luxemburg. Seine Schriften und Prozesse gegen den Militarismus und die von den Konzernen des militärsch-industriellen Komplexes voran getriebene Hochrüstung brachten ihm besonders unter der Jugend eine große Verankerung.

Zu diesen „Linken“ gehörte auch Clara Zetkin, mit der Rosa Luxemburg eine tiefe Freund­schaft verband. In ihren Briefen tauschte sie sich mit der um einige Jahre älteren Freundin über alle Fragen aus. Die Politik, die Kunst, die Litera­tur, die Liebe - das Leben eben.

Clara Zetkin hatte ja selbst eine ungewöhnliche Biografie. Als junge Volksschullehrerin war sie ihrem ersten Mann, einem russi­schen Revolu­tionär, ins Pariser Exil gefolgt, hatte nach dessen frühem Tod die beiden Söhne Kostja und Maxim allein aufgezogen, später eine langjäh­rige Lebensgemeinschaft mit einem viel jünge­ren Maler, Friedrich Zundel, gepflegt. Anders als Rosa Luxemburg hatte sie umfangreich theoretisch und praktisch in der sozialistischen Frauenbewegung gearbeitet. Sie war aber kei­neswegs nur die »Fachfrau« für Frauenfragen in der SPD, sondern hat sich im Kampf gegen den Verrat der sozialdemokrati­schen Füh­rung, wie später beim Aufbau der KPD große Ver­dienste erworben.

Und obwohl die Sympathien großer Teile der Parteimitglie­der, ganz besonders der Jugend und der Industriearbeiter­schaft diesen Linken in der SPD gehörten, konnten sie den in den Abgrund fahrenden Zug nicht aufhalten.

Als sich im Sommer 1914 die Gefahr eines imperialistischen Krieges immer deutlicher abzeichnete, kapitulierten die SPD-Führer - wie ihre Gesinnungsgenossen in Frankreich und England. Die II. Internationale erklärte ihren Bankrott. Die SPD unter­stützte mit ihrer starken Parlaments­fraktion die Bewil­ligung von Kriegskrediten.

Selbst der entschiedene Kriegs­gegner und Repräsentant der Parteilin­ken im Parlament, Karl Liebknecht, unterwarf sich bei der ersten Abstimmung am 4. August 1914 der Parteidiszi­plin. Erst bei einer weiteren Abstimmung am 2.12.1914 - der Krieg war bereits losgebrochen - stimmte er als ein­ziger Abgeordneter gegen die Bewilligung weiterer Kriegs­kredite. Begründungen für die Zustimmung zum Kriegskurs des Kaiser­reichs gab es viele: es gehe nur um die Verteidigung des Vaterlandes - das behaupteten jedenfalls die Herrschenden. Direkt auf die Anhängerschaft der SPD gemünzt war die Behauptung, der Krieg gegen Russland sei fortschrittlich, weil sonst die Gefahr bestehe, vom bar­barisch-rückständigen Zarismus überrannt zu werden. Das sei es schon wert einen »Burg­frieden« zu schließen. Dagegen bestanden Luxemburg und Liebknecht auf der Losung »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen«!

»Krieg dem Kriege!« - diesen zentralen Gedanken Rosa Luxemburgs haben heute auch die vergessen, die unter dem Vorwand der »humanitären Hilfe« für Kriegseinsätze der Bundeswehr beispielsweise in Afghanistan eintreten.

In diesen Positionen war Rosa Luxemburg klar – aber weiter zu denken, dem Krieg die Vorbereitung der sozialistischen Revolution entgegenzustellen, das fiel ihr schwer. Im Gegensatz zu Lenin in Russland zögerte sie lange, den nach dem Verrat der SPD-Führung notwendigen Schritt zur organisierten Lostrennung und zum Aufbau einer neuen revolutionä­ren Partei zu vollziehen.

Das war historisch gesehen ihr wohl schwerwie­gend­ster Fehler.

Bereits 1914 hatte Kostja Zetkin, der Sohn Claras, mit dem Rosa Luxemburg zu dieser Zeit eine Lie­besbeziehung verband, die Frage aufgeworfen, ob es nicht richtig wäre, aus der SPD auszutreten. Aber Rosa erschien diese Vorstellung noch undenk­bar: »Die ganze Welt ist plötzlich ein Irrenhaus geworden. Über Dein 'Austreten aus der Partei' habe ich gelacht. Du gro­ßes Kind, willst du vielleicht aus der Menschheit auch 'austreten'? Über geschichtliche Erscheinungen von diesem Maßstab vergeht einem jeder Ärger, und es bleibt nur Platz für kühle Überlegungen und hartnäckiges Handeln. In eini­gen Monaten, wenn Hunger kommt, wird sich das Blatt all­mählich wenden. Bleib frisch und heiter wie ich.« (R.L. Gesammelte Briefe, Band 5, S.7/8)

Die Bourgeoisie wusste um die Gefährlichkeit der Revolutio­näre. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden eingeker­kert und blieben es fast während des ganzen Krieges. Müh­selig - und immer noch ohne klares Organisationskonzept - sammelten sie die Kräfte im »Spartakusbund«, der als Stim­me der Internationalisten und konsequenten Kriegsgegner sich noch als Gruppierung innerhalb der SPD hielt.

Aus dieser Gefängniszeit sind eine Vielzahl von Briefen erhalten, die ihre vielschichtige Persönlichkeit dokumentieren. Obwohl physisch und psychisch gebeu­telt, sorgt sie sich oft mehr um die da draußen als um sich selbst.

Heftig setzt sie sich mit dem Verrat der SPD-Führung ausein­ander. Der Freundin, Mathilde Wurm, die mit einem führenden SPDler verheiratet ist, schreibt sie am 28.Dezember 1916 aus ihrem Gefängnis, der Festung Wronke:

»Meine liebe Tilde!

Ich will Deinen Weihnachtsbrief gleich beantworten, solan­ge ich noch in dem frischen Zorn bin, den er in mir erregt hat. Ja, Dein Brief hat mich fuchsteufelswild gemacht, ... Dieser heulmeieri­sche Ton, dieses Ach und Weh über die 'Enttäuschungen', die Ihr erlebt habt - angeblich an ande­ren, statt nur selbst in den Spiegel zu blicken, um der Menschheit ganzen Jammer in treffen­stem Konterfei zu er­blicken! Und 'wir' bedeutet jetzt in Deinem Munde Deine sumpfige Froschgesellschaft, während es Dir früher, wenn Du mit mir zusammen warst, meine Gesellschaft bedeutete.

Dann wart, ich werde Dich per 'Ihr' behandeln.

Ihr seid mir 'zu wenig draufgeherisch', meinst Du melan­cholisch. 'Zu wenig' ist gut! Ihr seid überhaupt nicht 'geherisch', sondern 'kriecherisch'. ... Das 'Draufgänger­tum' würde Euch schon passen, meinst Du, bloß wird man dafür ins Loch gesteckt und 'nutzt dann wenig'. Ach, Ihr elende Kleinkrämerseelen, ...

Was mich anbetrifft, so bin ich in der letzten Zeit, wenn ich schon nie weich war, hart geworden wie geschliffener Stahl und werde nunmehr weder politisch noch im persönli­chen Umgang auch die ge­ringste Konzession machen. ...

Hast Du jetzt genug zum Neujahrsgruß? Dann sieh, daß Du Mensch bleibst. Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt: fest und klar und heiter sein, ja heiter trotz und alledem, denn das Heulen ist Geschäft der Schwä­che. Mensch sein, heißt sein ganzes Leben 'auf des Schick­sals große Waage' freudig hinwerfen, wenn's sein muß, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke freuen, ach ich weiß keine Rezepte zu schreiben, wie man Mensch sein soll, ich weiß nur, wie man's ist,...« (R.L. Ges. Briefe Bd.5, S.150f)

Rosa Luxemburg konnte wohl eine Furie sein, aufbrausend, scharfzüngig und verletzend - gelegentlich auch arrogant. Aber zugleich war sie von tiefer Selbst­losigkeit und Warmherzig­keit geprägt - besonders im Umgang mit einfachen Menschen. So schreibt sie wenige Wochen nach diesem Brief an Marta Rosenbaum, eine Genossin, die sie im Gefängnis besucht hatte:

»... Man muß überhaupt nie vergessen gut zu sein, denn Güte ist im Verkehr mit Menschen viel wichtiger als Stren­ge. Erinnern Sie mich oft daran, denn ich neige zur Stren­ge, leider - freilich nur im politischen Verkehr. In per­sönlichen Verhältnissen weiß ich mich von Härte frei und neige am meisten dazu, lieben zu können und alles zu ver­stehen. ... Ich will an Ihrem Gram und an Ihrer Last teil­nehmen; es ist mir ein Bedürfnis, Sie nicht allein leiden zu sehen. Und vielleicht kann ich Sie durch meine Kraft und Liebe ein bißchen stützen und schützen. Und nun haben Sie vielen, vielen Dank für die schönen Stunden, die ich Ihnen hier verdanke, für die Wärme, die Sie mir gebracht haben, und dafür daß sie so schöne Hände haben, die ich jedesmal mit Freude betrachte. ...« (R.L. Ges. Briefe S.174f)

Auch wenn sie ständig um 'Heiterkeit' kämpft und größte Disziplin an den Tag legt, ihr geht es gesundheitlich in diesen Gefängnis­jahren teilweise sehr schlecht und sie hat wohl selber mit depressiven Stimmungen zu kämpfen. Sie sieht sich zur Untätigkeit gezwungen, draußen tobt der Krieg, verblutet die Jugend. Als Hans Diefenbach fällt, ein junger Arzt, mit dem sie eine innige Liebebeziehung verbindet, schreibt sie an Luise Kautsky:

»Liebste!

Dank Dir für Deine paar Worte, die mich beschämt haben, weil ich Dir ja die schreckliche Nachricht so kurz und unumwunden geschrieben hatte. Aber ich erhielt sie ebenso und fand: in einem solchen Fall ist Kürze und Offenheit noch das Barmherzigste, wie bei einer schweren Operation. Ich finde auch keine Worte darüber. ... Es ist mir wie ein mitten im Satz verstummtes Wort, wie ein plötzlich abgerissener Akkord, den ich noch immer höre.

Wir hatten tausend Pläne für die Zeit nach dem Kriege, wir wollten 'das Leben genießen', reisen, gute Bücher lesen, den Frühling bewundern wie noch nie ... Ich begreife es nicht: Ist das möglich? Wie eine abgerissene und zertretene Blume...

Liebste, behalte den Kopf oben. Man muß stolz bleiben und nichts zeigen. Wir müssen uns nur etwas mehr zusammenschließen, damit es 'wärmer' wird. Ich umarme Dich und Hans in treuester Liebe. Deine R.« (R.L. Ges. Briefe, Band 5, S.320)

Aus den Bruchstücken an Informationen, die sie über die internationale politische Entwick­lung erhält, versucht sie sich ein Bild zu machen, eigene Standpunkte zu formulieren. Die Nachrichten über die Oktoberrevo­lution 1917 in Russland begeistern sie. Sie erkennt sofort ihre enorme historische Bedeutung. Noch im Gefängnis arbeitet sie an einem Referat »Zur russischen Revolution«. Es geht ihr vor allem um einen Appell an die deutsche Arbeiterbe­wegung, ernst zu machen mit der Revolution, um die Genossen in Russland nicht alleine dastehen zu lassen. Wie alle Sozialisten ihrer Zeit ging sie von einer Weltrevolution aus und rechnete nicht mit der Möglichkeit, dass ein Land alleine gezwungen sein könnte, den Sozialismus aufzubauen.

Sie sah die immensen Probleme, vor denen die russischen Genossen aufgrund des Versagens der deutschen Sozialdemokratie standen. Sie zweifelte am Erfolg der Bolschewiki und skizzierte einen umfangreichen Katalog von Kritikpunkten: an der Politik gegenüber den Bauern, in der Nationalitätenfrage - und in der Handhabung der Demokratie. Wieso man das Parlament boykottiere, für das man doch zuvor gekämpft habe, leuchtete ihr nicht ein. Das Funktionieren eines Rätesystems wollte ihr nicht in den Kopf. Vor allem aber fürchtete sie, dass durch die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit im nachrevolutionä­ren Rußland die Entfaltung der Meinungsbildung unter den Massen gehemmt werde. Aus einer Randnotiz zu diesem Manuskript stammt ihr wohl meistzitierter Satz: »Freiheit ist immer Freiheit der Anders­denkenden.« (ebenda, S.359)

Bei aller Schärfe ihrer Kritik lässt sie aber an der prinzipiellen Solidarität mit den Bolschewiki keinen Zweifel und fordert energisch ihre Unterstützung durch die deutsche Arbeiterbewe­gung: »Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschicht­liche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem 'Bolschewismus'.« (ebenda, S.365)

Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis hat Rosa Luxemburg es abgelehnt, diese Schrift zu veröffentlichen. Gegenüber Clara Zetkin und Leo Jogiches erklärte sie, aufgrund besserer Informationen vieles heute anders zu sehen.

Auch darin zeigt sich ihre außergewöhnliche Persönlichkeit: Rosa Luxemburg hat nie gezögert, einmal für falsch erkannte Auffassungen auch zu korrigieren. Bei Kritik an anderen - ganz besonders auch an Freunden - kannte sie kein Pardon - aber sie hatte auch keinerlei Dünkel, wenn es um eine Selbstkritik ging. Sie wollte sich an eine umfangreichere Ausarbeitung zur russischen Revolution machen. Ihr blieb dazu keine Zeit mehr.

Erst drei Jahre nach ihrem Tod hat der damals bereits aus der KPD ausgeschlossene Paul Levi das Manuskript ohne Zustimmung von Clara Zetkin - die Rosas Nachlaß verwaltete - ver­öffentlicht.

Clara Zetkin hat dazu ausführlich Stellung genommen: »Es ist sehr wertvoll und verdient ernsteste, nachdenkende Aufmerksamkeit, was Rosa Luxemburg in der Nachlaßbroschüre kritisch und fragend über die bolschewistische Politik bei der Durchführung der proletari­schen Diktatur äußert. Nicht daß es meiner Meinung nach in allen Punkten zutreffend wäre. Seine Bedeutung beruht in anderem. Rosa Luxemburg weist hier eindring­lich hin auf vielverschlungene Probleme und riesige Schwierigkei­ten, die dem Proletariat erst nach seinem ersten entscheidenden Siege - die Eroberung der politischen Macht - entgegentreten, auf ungeheure Verantwortlichkeiten, die ihm dann mit seiner Diktatur zufallen. (...) Die proletarische Diktatur ist mithin wohl ein Höhepunkt, jedoch nicht der Abschluß der Klassenkämpfe eines Landes. Und Diktatur, Herrschaftsgewalt der einen über die anderen, besagt unter Umständen Einschränkungen, ja Aufhebung der persönlichen und politischen Rechtsgarantien für die Feinde der geltenden Ordnung, (...)

Die Ausübung der Diktatur selbst ist eines der schwersten Probleme, das vom Proletariat in der Übergangszeit zum Kommunis­mus bewältigt werden muß. (...) Das Proletariat wird durch seine Diktatur vor diese und andere Fragen gleicher Natur gestellt. Sie alle treten aber nicht als abstrakte, akademische Preisfragen auf, über die man gemütsruhig diskutiert, (...).« (Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, S.400 ff)

Dass der Kampf um die Denkweise zum entscheidenden Feld im Klassenkampf beim Aufbau des Sozialismus werden würde - ein Kampf der nur in freier kritisch-selbstkritischer Atmosphäre geführt werden kann - das hat die historische Entwicklung gezeigt. Lenin kam diesem Gedanken bereits sehr nahe. Unsere Kritik an stalin ist vor allem, dass er diese Frage gering geschätzt hat – wobei wir die historischen Umstände der massiven Bedrohung des ersten sozialistischen Landes durch innere und äußere Feinde allerdings unbedingt in Rechnung stellen.

Lenin war es auch, der Rosa Luxemburg gegen die Angriffe falscher Freunde in Schutz nahm. Ende 1922 schrieb er zu den Levi-Veröffentlichungen:

»Paul Levi will sich jetzt bei der Bourgeoisie - und folglich bei der II. und zweieinhalbten Internationale, ihren Agenten - dadurch besonders verdient machen, daß er gerade diejenigen Werke Rosa Luxemburgs neu herausgibt, in denen sie unrecht hatte. Wir antworten darauf mit ein paar Zeilen aus einer trefflichen russischen Fabel: Wohl traf's sich, daß des Adlers Flug ihn niedriger, als Hühner fliegen, trug, doch fliegen Hühner nie auf Adlershöh'n. Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechonow, Vandervelde, Kautsky u.a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst nach der Entlassung aus dem Gefängnis Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte). Aber trotz aller dieser ihrer Fehler war sie und bleibt sie ein Adler; und nicht nur die Erinnerung an sie wird den Kommunisten der ganzen Welt immer teuer sein, sondern ihre Biografie und die vollständige Ausgabe ihrer Werke (...) werden eine sehr nützliche Lehre sein bei der Erziehung vieler Generationen von Kommunisten der ganzen Welt. ... Auf dem Hinterhof der Arbeiterbewe­gung aber, zwischen den Misthaufen, werden Hühner vom Schlage Paul Levis, Scheide­manns, Kautskys und dieser ganzen Sippschaft selbstver­ständlich über die Fehler der großen Kommunistin in ganz besondere Verzückung geraten. Jedem das Seine.« (Lenin, Ges. Werke, Bd.33, S.194 f)

Die revolutionäre Situation war in Deutschland bereits heran gereift, als Rosa Luxemburg am 9. November 1918 aus der Haft entlassen wurde. Das Kriegselend hatte die Menschen soweit gebracht, dass sie nicht mehr in der alten Weise leben wollten - das Beispiel der russischen Revolution - die ja auch mit dem Krieg Schluss gemacht hatte - zeigte ihnen, dass sie es auch nicht mussten. Längst war es Rosa Luxemburg bewusst, welche Achilles­ferse für die revolutionäre Bewegung das Fehlen einer gut durchorganisierten, politisch klar orientierten Partei war. Vergebens war die Hoffnung gewesen, die SPD ließe sich eines besseren belehren und die Mitgliedschaft werde sich über die Führung hinwegsetzen. Bitter rächte sich auch die von Rosa Luxemburg nahegelegte Vorstellung, wonach sich die Massen spontan ihre Organisationsformen im Kampf schaffen könnten. Nun warf Rosa Luxemburg ihre Kräfte auf die Gründung der KPD, die zum Jahreswechsel 1918/19 zustande kam. Um einen ent­scheidenden Einfluss auf die revolu­tionäre Bewegung zu bekommen, war es zu spät.

Für mich war - vor mittlerweile über 40 Jahren - die Beschäftigung mit diesem Kapitel der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ein wichtiger Anstoß für die Entscheidung, beim rechtzeitigen Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei mitzumachen. In den Menschen steckt - wo nicht durch barbarische Verhältnisse bereits abgetötet - ein unbändiger Wille nach Freiheit und Gerechtigkeit. Situationen, in denen sich breite Bevölkerungsteile nicht mit Verelendung, Unterdrückung und Ausplünderung abfinden wollen, wird es immer wieder geben.

Das erleben wir in der Zeit der tiefsten Weltwirtschafts- und Finanzkrise mehr denn je. Der so genannte arabische Frühling, die Massenproteste in der Türkei sind dazu nur Stichworte. Aber ob solche Bewegungen für Freiheit und Demokratie nicht wieder erstckt oder von reaktionären regelrecht missbraucht werden können wie gegenwärtig in syrien oder der Ukraine, das hängt nicht zuletzt davon ob, ob da eine Partei ist, mit einem klaren Programm, mit einer großen Zahl von selbständig denkenden und handelnden, politisch »mit allen Wassern gewaschenen«, sprich erfahrenen Genossinnen und Genossen. Das hängt womöglich noch mehr davon, ob die breite Bevölkerung selber in einem ganzen Netzwerk von Selbstorganisationen politische Erfahrungen sammeln konnte, die sie zur Kritik und Kontrolle befähigt. Und wenn wir von der MLPD von der proletarischen Denkweise als Grundlage des Aufbaus einer Partei neuen Typs sprechen, meint das nicht zuletzt, dass das ganze Unternehmen davon abhängt, ob ein tiefes von gegenseitigem Lernen geprägtes Vertrauensverhältnis zwischen dieser Partei und den Massen besteht. Auch wenn heute allein schon aufgrund des Einflusses der Massenme­dien und eines regelrechten Systems der kleinbürgerlichen Denkweise eine revolutionäre Situation nicht überraschend wie ein Vulkanausbruch kommen wird - die gegenwärtige tiefste Weltwirtschaftskrise in der 200hundertjährigen Geschichte des Kapitalismus birgt das Potential für eine revolutionäre Weltkrise. Darum muss der Parteiaufbau heute vorangebracht werden - das jedenfalls ist für mich eine wesentliche Lehre aus Rosas Leben.

Zum Jahreswechsel 1918/1919 stand die revolutionäre Massenbewegung ohne eine solche Organisation da. Luxemburg und besonders Liebknecht hatten als Persönlichkeiten größtes Ansehen bei den aufgewühlten Massen im ganzen Land. Aber die Partei verfügte kaum über organisierte Möglichkeiten, die Auseinandersetzung wirklich landesweit zu beeinflussen. Die »Rote Fahne«, von Rosa Luxemburg geleitet und zum Zentralorgan der jungen KPD gemacht, konnte nicht überall hin trans­portiert werden. In wesentlichen Fragen der Politik - so der Frage der Teilnahme an den bevorstehenden Wahlen - konnten sich Luxemburg und Liebknecht gegen eine sektiererische Boykott-Haltung nicht durchsetzen. Als es in Berlin in den ersten Januartagen nach systematischen Provokatio­nen der SPD-Verantwortlichen zu bewaffneten Rebellionen von Arbeitern kam und diese als »Sparta­kusaufstand« tituliert wurden, war ihr klar, dass dieser Aufstand zum Scheitern verurteilt war - aber sie stellte sich solidarisch auf die Seite der hoffnungslos Kämpfenden...

Die SPD-Führung indes ging ihren Weg weiter, sie stellte inzwischen die Regierung und verbündete sich nun offen mit der Bourgeoisie, um ein sozialistisches Deutschland unter allen Umständen zu verhin­dern. Keine Intrige war zu schäbig, um den Einfluss der Revolutio­näre in den Arbeiter- und Soldatenräten zu untergraben. Keine Verleumdung zu schmutzig, um gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu hetzen.

Der Kaiser hatte abdanken müssen, der deutsche Imperialismus hatte den Krieg verloren - aber die Reaktion sam­melte ihre Kräfte auch militärisch erneut in Freikorpstruppen. Im Januar 1919 trafen sich in Berlin 50 Großindustrielle, um die weitere Entwicklung zu beraten. Sie beschlossen unter anderem, die Gründung einer »antibolschewistischen Liga« zu unterstützen - eine Vorläufer­organisation der späteren Nazipartei. Hugo Stin­nes, ein führender Monopolvertreter sorgte für die Finan­zierung dieser Mörderbande mit der damals ungeheuerlichen Summe von 500 Millionen Mark. Kurz darauf tauchten überall von angeblichen »Frontsoldaten« unterzeichnete Flugblätter auf mit den Sätzen: »Arbeiter! Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Rettet es! Es wird nicht bedroht von außen, sondern von innen: Von der Spartacusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben!«

Ständig auf der Flucht, aber verpflichtet als klärende und mahnende Stimme der aufgewühlten Arbeiterschaft eine Orientierung zu geben, werden Liebknecht und Luxemburg durch Berlin gehetzt. Ihnen ist klar, in welcher Gefahr sie schweben.

Am Abend des 15. Januar 1919 hat ein Trupp der »Bürgerwehr Wilmersdorf« die beiden in der Wohnung einer befreundeten Familie aufgespürt.

Der Anführer der Wilmersdorfer Menschenhäscher weiß nicht so recht, was nun mit seinen Geiseln anzufangen sei. Er ruft in der Reichskanzlei an. Dort sitzt die von der SPD gestellte neue Regierung: Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Otto Landsberg und Gustav Noske. Die nachfragenden Anrufer werden aber von Vorzimmerherren der neuen Regierenden abgewimmelt und wenden sich nun an ihre militärische Führung: sie hat sich im feinen Hotel Eden versammelt, angeführt von einem Hauptmann Papst.

Die Auslieferung an diese Herrschaften ist das Todesurteil für die beiden Revolutionäre. Der mit ihnen verhaftete, aber unerkannt gebliebene Wilhelm Pieck kann fliehen und später wichtige Tathergänge aufdecken... planmäßige, brutale Meuchelmorde, kaltblütig exekutiert.

Es wird später auch einen Prozess um diese Lynchjustiz geben. Aber er wird - dank tatkräftiger Mithilfe ehemaliger Parteigenossen der beiden Opfer - im Sande verlaufen.

Karl Liebknechts Leiche findet sich am nächsten Morgen in einem Berliner Leichen­schauhaus. Seine Beerdigung wird zur Massendemon­stration. Von Rosa Luxemburg gibt es zunächst keine Spur.

Am 31. Mai 1919 wird im Landwehrkanal eine bereits weitgehend verweste weibliche Leiche gefunden. Mathilde Jacob, die langjäh­rige Freundin und Sekretärin identifiziert Rosa an einem Stück Samtstoff und einem kleinen goldenen Anhänger...

Es wird, wenn heute von Rosa Luxemburg die Rede ist, kaum mehr von ihren politischen Standpunkten - den vorwärtsweisenden, wie den fehlerbehafteten - gesprochen. Als Märtyrerin wird sie verehrt, als Pazifistin verkehrt. Ihre persönlichen Lebensauf­fassungen werden hervorgehoben, diskutiert, ob sie nun als Feministin eingestuft werden kann oder nicht. Auch die von der Herausgeberin ihrer Briefe, Annelies Laschitza verfasste Biografie trägt den modischen Titel »Im Lebensrausch - trotz alledem«.

Andererseits gab es in der früheren DDR und teilweise heute noch in der internationalen marxistisch-leninistischen Bewegung eine einseitige und völlig überspitzte Kritik an Rosa Luxemburg, wo sie wegen ihrer späten Trennung von der SPD als Revisionistin oder wegen ihrer Debatten mit Lenin gar als Trotzkistin verdammt wird. Das ist nicht nur eine ahistorische Verunglimpfung dieser glühenden Revolutionärin. Es überschätzt zugleich die reale Rolle, die sie als Journalistin und Parteischullehrerin aber nicht einmal führendes Mitglied der Partie spielen konnte.

Bei der süßlichen Beschönigungen, wie bei den unsinnigen Kritiken geht meiner Meinung nach genau das unter, was eigentlich an dieser Frau noch immer fasziniert und weshalb sie – durchaus ähnlich wie Che Guevara immer noch ein Vorbild für die Jugend ist: da war eine »ganz normale Frau«, sicherlich besonders klug, besonders empfindsam, besonders lebendig, aber eben mit Stärken und Schwächen, Sehnsüchten und Wünschen, Höhen und Tiefen kennend - aber das war gerade kein Gegensatz zu ihrer Bereitschaft sich als Revolutionärin »voll in die Waagschale des Schicksals zu werfen«, sich ganz für die Befreiung der Menschheit ohne Zögern einzusetzen.

Das spricht auch aus einem ihrer allerletzten Briefe an Clara Zetkin:

»Liebste Klara!

Ich war so glücklich über die Nachricht, daß es Dir besser geht. Ein schwerer Stein fiel mir vom Herzen, und ich konnte nochmal so frisch an die Arbeit gehen. Jetzt warte ich wieder sehnlichst auf Nachrichten, wie es Dir weiter geht.

Die Arbeit hier entwickelt sich famos. ...

Ich selbst bin so im Trubel, daß ich keine Zeit habe zu denken, wie es mir geht. 'C'est la révolution'. Wenn ich Dich nur gesund weiß, dann geht es mir glänzend.

Tausend Grüße für Euch alle in Eile.

Ich umarme Dich herzlichst Deine RL«. (R.L., Ges. Briefe, Bd.5, S.423f)