„Der Spiegel“ sieht rot
Wie der deutsche Kaiser 1917 einmal eine Revolution kaufte …
Hätte, wäre, könnte, vermutlich, aller Wahrscheinlichkeit nach, bis heute weiß niemand – ein grandioses Beispiel bürgerlichen Schmierenjournalismus lieferte Redakteur Klaus Wiegrefe mit der Titelgeschichte: „Die gekaufte Revolution“ („Der Spiegel“ Nr. 50 vom 10. 12. 07). Allem Anschein nach treibt das wachsende Interesse an der Perspektive Sozialismus zu immer absurderen Behauptungen und Verdrehungen der historischen Tatsachen.
Wir erfahren, dass die Weltgeschichte vollkommen anders gelaufen wäre, wenn nicht der deutsche Kaiser Wilhelm den Revolutionär Lenin bezahlt hätte, denn dieser wäre ohne das deutsche Geld nie an die Macht gekommen!
Wir erfahren, dass eine „komplette Revolution etwa 134 Millionen Euro“ kostet. Wir erfahren, dass die Bolschewiki Rubelmünzen an Passanten verteilten, um sie zum Demonstrieren zu bringen. Wir erfahren, dass die Streiks in den russischen Munitionsfabriken auf die Vorstellungen eines windigen Geschäftemachers zurückgehen, der dafür vom deutschen Kriegsgegner Bares erhielt. Wir erfahren, wie man historische Abläufe durch anonyme Aussagen „einer Krankenschwester“ erklärt und ihnen „Beweiskraft“ durch die Berichte eines kaiserlichen Außenstaatssekretärs verleiht. Wir sollen die Schlussfolgerung ziehen: Die Oktoberrevolution von 1917 war ein Bluff, ein Betrug, ein von Geheimdiensten bezahltes Unternehmen! Um zwei Tatsachen rankt sich die neue Weltgeschichte des „Spiegel“:
- Im I.Weltkrieg wurde erstmals viel Geld für die psychologische Kriegführung ausgegeben – laut „Spiegel“ rund 75 Millionen Euro.
- Um aus dem Schweizer Exil nach Russland zurückzukommen, schloss Lenin mit Hilfe des Schweizer Sozialisten Fritz Platten ein Abkommen mit dem deutschen Gesandten über eine Zugreise durch Deutschland. Auf die Bewertung dieser Reise schrumpft der gesamte „Spiegel“-Artikel schließlich zusammen: „Sie allein rechtfertigt die These, dass die Bolschewiki ohne deutsche Hilfe nicht im Herbst 1917 an die Macht gelangt wären.“
Verschwörung und Intrige oder Massenaktion?
Im I.Weltkrieg (1914–1918) kämpften Deutschland und Österreich-Ungarn gegen Russland, Frankreich und England um die imperialistische Vorherrschaft. Über die Situation dabei urteilte das theoretische Organ der MLPD: „Die Deutschen und Österreicher waren nicht in der Lage, die psychologische Kriegführung zu zentralisieren und in einer Hand zu vereinigen … Die herrschenden Klassen in Deutschland waren sowohl in der psychologischen wie auch in der militärischen Kriegführung unterlegen.“ (REVOLUTIONÄRER WEG 22/1983, S. 70/71)
Offensichtlich dilettantisch und chaotisch liefen laut „Spiegel“ die Versuche, sich der inneren Feinde des russischen Kriegsgegners zu bedienen: „So ging ein Geldregen auf die zahlreichen Polit-Abenteurer nieder … Bis heute weiß niemand, wer die Gelder empfing … nur ein kleiner Teil landete nachweislich bei den Bolschewiki.“
Gut möglich, dass dem tatsächlich so war und die kaiserlichen Agenten in dem Interesse, ihre Kriegsgegner zu schwächen, auch mal die richtigen Revolutionäre bedachten. Das änderte jedoch nichts an der tatsächlichen Lage nach der bürgerlichen Februarrevolution (Februar 1917): „Im Russland des gestürzten Zaren befand sich in den Händen der Industriellen, Bankiers und Gutsbesitzer anscheinend alles: die unermesslichen Reichtümer und der Staatsapparat mit der vieltausendköpfigen Armee von Beamten … sie besaßen Hunderte Zeitungen, die in Riesenauflagen erschienen … Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten ebenfalls einen nicht geringen Einfluß auf die Geschicke des Landes: Sie gaben in den Sowjets den Ton an und bedienten sich ihres Apparats … sie wurden von breiten Kreisen der liberalen Intelligenz unterstützt; sie verfügten über Hunderte von Zeitungen … Den Bolschewiki, die mitten unter dem Volk tätig waren, verblieb nicht einmal ein geringer Teil dieser Möglichkeiten. In der Kasse des Zentralkomitees der Partei befanden sich selten einmal mehr als 3 000 Rubel. Die Kommunisten hatten weder den Apparat noch zahlreiche Zeitungen … Der Einfluß der Bolschewiki stieg trotzdem unaufhaltsam.“ („Skizzen zur Geschichte der Sowjetunion“, Beilage der Zeitschrift „Sowjetunion heute“ von 1961, S. 7/8)
Wie konnte das sein? Noch 90 Jahre später hat der „Spiegel“ das nicht begriffen oder will es nicht wahrhaben: Lenin und die Bolschewiki arbeiteten in und mit den Massen konsequent für deren Interessen nach Frieden und menschenwürdigen Lebensbedingungen. Sie organisierten eine Massenbewegung, die durch keinerlei Ränke und Intrigen, geschweige denn durch Korruption und Bestechung hätte erzeugt und zum Erfolg geführt werden können!
Es waren drei grundlegende Bedingungen, die den Sieg der Oktoberrevolution ermöglichten: Die Schwäche des russischen Kapitalismus, der durch seine späte Entwicklung und die Unfähigkeit der Bourgeoisie zu einem halbkolonialen Land herabgesunken war; die Stärke der von Lenin geführten revolutionären Arbeiterpartei und ihre erfolgreiche Bündnispolitik mit den armen und mittleren Bauern!
Die Wirkung der Lenin’schen Politik
Die erste Rede, die Lenin nach der erfolgreichen Revolution und der Eroberung der politischen Macht in Russland am 6. November 1917 hielt, war das Dekret über den Frieden. Frankreich und England als ehemalige Verbündete des Zaren weigerten sich jedoch, Friedensverhandlungen mit der revolutionären russischen Regierung unter Lenin aufzunehmen. Deutschland wäre bereit gewesen, mit Frankreich und England einen Friedensvertrag zu schließen, wenn es „im Osten entschädigt“ worden wäre – aber darauf konnten sich die imperialistischen Gegner nicht einigen. Daraufhin nahm das deutsche Kaiserreich, das einen Teil des russischen Territoriums besetzt hatte, Friedensverhandlungen mit Russland auf.
Die von Lenin geführte Regierung musste in den Verhandlungen von Brest-Litowsk große Zugeständnisse machen: „Für die Arbeiterklasse und die Bauernschaft ergab sich die Notwendigkeit, auf schwere Friedensbedingungen einzugehen, vor dem damals gefährlichsten Räuber, dem deutschen Imperialismus, zurückzuweichen, um eine Atempause zu erhalten, die Sowjetmacht zu festigen und eine neue, die Rote Armee, zu schaffen, die fähig wäre, das Land vor dem Überfall der Feinde zu schützen.“ („Geschichte der KPdSU (B)“, Berlin 1950, S. 269) Die Deutschen brachen Anfang 1918 den Waffenstillstand und besetzten weitere Gebiete, um noch größere Zugeständnisse zu erringen – Lettland, Estland und Polen fielen Deutschland zu, die Ukraine wurde in einen deutschen Vasallenstaat verwandelt – eine wahrhaft deutliche Unterstützung des deutschen Kaisers für die Bolschewiki!
Nicht nur die opportunistischen und kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki fielen daraufhin über Lenin her, auch der von den Bolschewiki für die Verhandlungen beauftragte Trotzki widersetzte sich den Parteibeschlüssen und richtete so großen Schaden an. Dennoch wurde die deutsche Offensive zur Geburtsstunde der Roten Armee und bewirkte in der Folge einen weiteren Aufschwung der Revolution. In seiner Verteidigung des Friedensvertrags stellte Lenin außerdem heraus: „Die große Anziehungskraft der russischen Revolution fand ihren Ausdruck in einer grandiosen Aktion der deutschen Arbeiter – der ersten während des Krieges. Sie reagierten auf die Brester Verhandlungen mit einem kolossalen Streik in Berlin und anderen Industriezentren. Diese Aktion des Proletariats in einem vom Taumel des Nationalismus erfassten und vom Gift des Chauvinismus verseuchten Lande ist eine Tatsache von erstrangiger Wichtigkeit …“ (Lenin, Werke, Bd. 27, S. 548/549)
Und das ist ja dem „Spiegel“ erst recht nicht begreiflich: Die Rückwirkung der Lenin’schen Politik und der internationale Zusammenhalt der revolutionären Arbeiter!
Wem nützt es?
Aus Lenin einen Agenten des deutschen Kaiserreichs zu machen, der mit ausländischer Hilfe an die Macht kam, ist eine Geschichte von so unterirdisch schlechtem Niveau, dass man sich nur darüber wundern kann, welche abstrusen und abartigen Theorien die bürgerliche Propaganda heute verbreitet. Ganz abgesehen davon, dass Lenin auch andere Wege gefunden hätte, um zurückzukehren oder mit anderen Methoden die Bolschewiki zu führen – der geniale Coup dieser Reise ist nur für Möchtegern- Historiker wie dem Redakteur Wiegrefe etwas Sensationelles: Fritz Platten selbst verfasste darüber die Broschüre „Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen“. Schon vorher war sie 1937 in Moskau von der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in dem Buch „Geschichte des Bürgerkriegs in der UdSSR“ der internationalen Arbeiteröffentlichkeit bekannt gemacht worden.