Leserecho

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Über Demokratie und Diktatur im Sozialismus

Spannendes Leserecho auf einen „Rote-Fahne“-Artikel über den Sozialismus in der Sowjetunion

Von Jörg Weidemann
Über Demokratie und Diktatur im Sozialismus
Aus Rote Fahne 51/2011

Zu dem Artikel „Demokratie und Diktatur im Sozialismus“ in „Rote Fahne“ 45/2011 (S. 9) und einem Leserbrief dazu in „Rote Fahne“ 46/2011 (S. 29) hat sich eine lebhafte Diskussion entwickelt, die wir auszugsweise dokumentieren.

Vielen Dank für den Leserbrief zu meinem Artikel „Demokratie und Diktatur im Sozialismus“. Es ist gut, wenn über den Sozialismus und seine Erfahrungen und Zukunft eine wachsende Diskussion entsteht.

Du schreibst, dass der Artikel „das politische System der UdSSR zur Zeit Lenins und Stalins beschönigt.“ Weiter heißt es in deinem Leserbrief: „Um die politischen und sozialen Fortschritte … wurde immer gekämpft und es wurde auch viel erreicht, aber die innen- und außenpolitischen Verhältnisse (Bürgerkrieg, heftige Klassenkämpfe, II. Weltkrieg) ließen es nie zu, die Ziele tatsächlich zu erreichen.“ Und an anderer Stelle: „Aber es war nicht so, wie ihr schreibt: sie verwirklichten … eine neue Art von Demokratie.“

Du wirfst damit eine spannende Frage auf: Inwiefern lassen sich programmatische Erklärungen und theoretische Voraussagen über den Sozialismus auch unter den widrigsten Umständen verwirklichen?

Tatsächlich erfolgte der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion in einem Kampf auf Leben und Tod gegen die imperialistische Einkreisung. Es mussten Zugeständnisse und Kompromisse gemacht werden. Der junge sozialistische Staat hatte wenig Zeit, ausgiebig neue Formen des demokratischen Zusammenlebens zu erproben. Am wenigsten war das möglich unter der Bedingung der Besetzung eines riesigen Teils des Landes nach dem faschistischen Überfall im Juni 1941.

Dennoch kann man nicht sagen, dass deshalb die Ziele (der sozialistischen Demokratie) nie erreicht wurden. Ohne die Initiative und Schöpferkraft der Massen in den sowjetischen Republiken wäre die Sowjetunion unter den faschistischen Schlägen zusammengebrochen. Es wäre aber idealistisch, sich die Entfaltung der Demokratie so vorzustellen, dass über die Militärstrategie und -taktik breite Debatten und Abstimmungen erfolgten könnten. Es gab unter der eingeschränkten Publizität auch Fälle, wo Sowjetbürger diese als Deckung für Verbrechen nutzten und sich einer Verantwortung entziehen konnten. Der Antikommunismus schlachtet das heute demagogisch aus, um es dem „politischen System“ anzulasten.

Ohne die sozialistische Demokratie und die zentralistische Führung hätte die Sowjetunion weder den Bürgerkrieg, geschweige denn den II. Weltkrieg gewonnen. Die Basis für die sozialistische Demokratie war ein hohes Bewusstsein, vor allem unter den Industriearbeitern und Kollektivbauern.
Die flexible Verwirklichung der Prinzipien zeichnet den Marxismus-Leninismus aus: Er ist in der Gestaltung seiner Prinzipien nicht dogmatisch, sondern schöpferisch. Er stellt in Rechnung, dass das reale Leben in seiner Vielfalt niemals theoretisch exakt vorausberechenbar ist. In diesem Punkt sind Zweifel an Lenin und Stalin und dem proletarischen Charakter der sozialistischen Demokratie in der Sowjetunion nicht angebracht.

Im Gegenteil, trotz dieser widrigsten Umstände sprechen wir davon, dass „den Volksmassen, die unter Führung der Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution gesiegt hatten, … die neue Gesellschaftsordnung ein in der Geschichte der Menschheit noch nie erlebtes Maß an Freiheit und Demokratie (bot) sowie an Möglichkeiten, sich an den Staatsangelegenheiten zu beteiligen.“ („Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“, S. 82/83)
Du schüttest das Kind mit dem Bade aus, wenn du mit dem Hinweis auf den heftigen Kampf und die großen Schwierigkeiten durch die politischen Verhältnisse der Zeit in Frage stellst, dass es sich um eine „neue Art von Demokratie“ handelte. Welch eine andere wäre es dann? Auch du gehst davon aus, dass es in einer Klassengesellschaft keine illusionäre, über den Klassen stehende Demokratie geben kann. Und du gehst davon aus, dass unter Lenin und Stalin die Diktatur des Proletariats herrschte. Dann gab es aber auch eine sozialistische Demokratie. Diktatur des Proletariats und sozialistische Demokratie sind keine entgegengesetzten Pole, sondern bedingen sich gegenseitig und werden in der sozialistischen Gesellschaft identisch. Diktatur des Proletariats ist ohne breiteste Demokratie für die Massen undenkbar und andersherum.

So waren z. B. die demokratischen Rechte für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie die Großgrundbesitzer (Kulaken) eingeschränkt. Die demokratischen Rechte und Freiheiten wurden nicht nur von außen und von den alten Machthabern, sondern auch von Bürokraten mit dem Parteibuch, Karrieristen, Schmarotzern und Emporkömmlingen innerhalb der sozialistischen Verwaltung und den Betrieben attackiert.

Politische und demokratische Rechte und Freiheiten waren geknüpft an die Festigung der sozialistischen Gesellschaft. Das Ganze war ein Prozess, der sich höherentwickelte. So wurden bestimmte Einschränkungen demokratischer Rechte für die Familienangehörigen von Großgrundbesitzern später aufgehoben. Gleichzeitig gab es ungeheure Fortschritte, zum Beispiel ein gleichberechtigtes Wahlrecht für Frauen, den Zugang zu den Medien für die Arbeiterklasse, das ganze Ausmaß der Hebung des Kulturniveaus, damit die Leute überhaupt lesen können, um zu entscheiden. Während in der Sowjetunion zum Beispiel breit über die neue Verfassung beraten wurde, wurden im kapitalistischen Ausland die Arbeiter ihrer elementarsten demokratischen Rechte beraubt (Spanien, Italien oder Deutschland).

Ich bin auch nicht der Meinung, dass wir bei jeder positiven Darstellung der sozialistischen Errungenschaften immer gleich ein skeptizistisches großes ABER … dahintersetzen müssen. (…)


Herzliche Grüße!
Jörg Weidemann