Rote Fahne 23/2019
30 Jahre Mauerfall – Bilanz für die sozialistische Zukunft
Am 9. November 1989 – vor 30 Jahren – erzwang die demokratische Volksbewegung der DDR die Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze.
Kurze Zeit später stürzte das bürokratisch-kapitalistische Honecker-Regime. In Berlin werden aus diesem Anlass Open-Air-Ausstellungen, ein Mauerfall-Konzert und Gedenkveranstaltungen stattfinden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) lobt in seiner Leipziger Rede vom 9. Oktober 2019 das seitdem entstandene und angeblich „beste Deutschland ..., das es je gab“. Viele Menschen sind da anderer Meinung. Der Stolz auf die erkämpfte „Wende“ vermischt sich mit Empörung, wie ihre damalige Aufbruchstimmung von den Herrschenden der BRD instrumentalisiert und enttäuscht wurde. Die MLPD unterstützte 1989 den „Freiheitskampf der Werktätigen in der DDR“, mahnte angesichts der massiven Einflussnahme der westdeutschen Monopolparteien aber auch „äußerste Wachsamkeit“ an1. Heute versuchen die ultrareaktionären, faschistoiden Demagogen der AfD, die berechtigte Massenkritik an den gebrochenen Versprechungen und der Aufrechterhaltung der Spaltung in Ost und West für ihre Ziele zu missbrauchen. Zeit für eine Bilanz – aus und mit sozialistischer Perspektive ...
Die offizielle, antikommunistische Geschichtsschreibung diffamiert die gesamte Geschichte der DDR als sozialistischen „Unrechtsstaat“. Damit wird die DDR kategorisch mit der faschistischen Gewaltherrschaft des Hitler-Regimes gleichgesetzt, um jede differenzierte Analyse im Keim zu ersticken. Vor allem soll damit der Blick auf die entscheidende Ursache des Untergangs der DDR 1989/1990 versperrt werden. Es war eben nicht ein vom Volk abgehobener „realer Sozialismus“, der dazu führte, sondern der verhängnisvolle Verrat an den sozialistischen Prinzipien durch die führenden Funktionäre – bis hin zur Stasi-Diktatur unter Erich Honecker. Der Ausgangspunkt dafür lag schon viel früher.
In den Anfangsjahren der DDR herrschte noch großer Enthusiasmus beim Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Der Schriftsteller Stefan Heym schrieb: „Aber eins, was die amerikanische Armee nicht einmal versucht hatte, war in Ostdeutschland von den Sowjettruppen und von deutschen Sozialisten und Kommunisten … erreicht worden: Die Macht war den für den Nazismus und für den Krieg Verantwortlichen entrissen worden. Der Großgrundbesitz war enteignet und unter die Kleinbauern und Landarbeiter aufgeteilt; die Banken, die Bergwerke, die Großbetriebe gehörten den Kapitalisten nicht länger.“2
Was die Antikommunisten mit „Unfreiheit“ meinen
Es ist genau diese Enteignung und die damit einhergehende Unterdrückung der ehemaligen Ausbeuter durch den volksdemokratischen Staat, die die antikommunistischen Meinungsmacher bis heute als „Unfreiheit“ diffamieren. Einer von ihnen, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, betonte stets, dass „Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft“ zusammengehören3, sprich: die Freiheit der Kapitalisten zur politischen Unterdrückung und wirtschaftlichen Ausbeutung der arbeitenden Menschen. Die Arbeiter und breiten Massen in der DDR nahmen sich die Freiheit, damit Schluss zu machen und ihre Geschicke in die eigene Hand zu nehmen.
Hoffnungsvolle Ansätze verraten
Gleichzeitig begann bei den verantwortlichen Funktionären in Staat, Partei, Wirtschaft und Kultur ein schleichender Prozess der Veränderung der Denk- und Lebensweise – von einer proletarischen zu einer kleinbürgerlichen Denk- und Lebensweise. In einem Video-Statement führt Stefan Engel, einer der drei Spitzenkandidaten der Internationalistischen Liste / MLPD in Thüringen, dazu aus: „Das Hauptproblem der DDR von Anfang an war eine Führung, die sehr misstrauisch war in die deutsche Bevölkerung. Sie vermuteten hinter jedem Widerspruch einen Faschisten oder Reaktionär. So haben sie sich auch nicht richtig mit den Massen verbunden und nicht gehört, wenn die Leute mal sagten: ‚So geht das nicht‘.“ Mit dem hohen Einsatz rechtfertigten die Funktionäre schrittweise zunehmende Privilegien. Administrative Maßnahmen, wie von oben verfügte Erhöhungen der Arbeitsnormen, verdrängten immer mehr die geduldige Überzeugungsarbeit. Ausgehend vom 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahr 1956, der die sozialistischen Prinzipien in wesentlichen Punkten revidierte, kam es in der DDR – wie in allen anderen RGW-Ländern4 – zur Machtergreifung einer neuen bürokratischen Kapitalistenklasse. Sie war nun wieder „frei“, die Arbeiter auszubeuten, wenn auch nicht auf privatkapitalistische Weise, sondern gemeinschaftlich durch alle Bürokraten – aufgeteilt nach deren Rangordnung in der Nomenklatura5.
Schon seit den 1970er-Jahren haben die MLPD und ihre Vorläuferorganisationen diese Entwicklung gründlich ausgewertet und Schlussfolgerungen gezogen für einen neuen Anlauf im Kampf für den Sozialismus. Aufgrund der äußerst eingeschränkten demokratischen Rechte in der bürokratisch-kapitalistischen DDR war es allerdings vor 1989 weder möglich, die Analyse der Restauration des Kapitalismus dort massenhaft zu verbreiten, noch den Aufbau der dort strikt verbotenen MLPD auf Ostdeutschland auszuweiten.
„Friedliche Revolution“?
Wenn Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede ausdrücklich den Geist der „friedlichen Revolution“ von 1989 würdigt, lenkt er davon ab, dass es sich beim Untergang der DDR keineswegs um einen „Systemwechsel“ handelte, sondern um den Untergang eines schwächeren kapitalistischen Konkurrenten: „Der wachsende technologische und wirtschaftliche Rückfall gegenüber dem Westen geriet in der DDR in den 1980er-Jahren in immer heftigeren Widerspruch zur Aufrechterhaltung der sozialen Errungenschaften.“6 Steinmeier will aber auch um jeden Preis vermeiden, dass die Menschen in Deutschland aus der Erfahrung, selbst scheinbar unumstößliche gesellschaftliche Verhältnisse verändern zu können, Schlussfolgerungen für eine wirkliche Revolution ziehen.
Zeigte sich doch damals, dass weder die Betrugsfassade scheinsozialistischer Phrasen noch die zunehmende Massenbespitzelung und -unterdrückung durch das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) die Unzufriedenheit aufhalten konnten. 1989 entwickelte sich zunächst eine wachsende Fluchtwelle – sowohl aufgrund der Entmündigung und Bevormundung durch die SED als auch genährt durch Illusionen über die bürgerliche Demokratie im Westen. Ebenfalls unter dem Eindruck dieser Fluchtwelle entfaltete sich ab September 1989 eine rasch ausbreitende, demokratische Volksbewegung. Demonstrierten Anfang September noch einige Hunderte in Leipzig, waren es am 9. Oktober bereits 70.000. Zugleich breiteten sich die Demonstrationen auf immer mehr Städte aus. Sie forderten wirtschaftliche und politische Reformen, Reisefreiheit und den Rücktritt der Regierung Honecker. Auch durch die Drohung einer militärischen Niederschlagung ließen sich die Menschen immer weniger abhalten. Die Ablösung Honeckers am 18. Oktober 1989, nach Absprache mit der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow, beflügelte die Proteste eher noch. Die „neue“ SED-Führung um Egon Krenz trat die Flucht nach vorne an, öffnete die Grenze zur BRD und kündigte „freie Wahlen“ an.
Doch trotz all dem rebellischem Geist, der die Massen ergriff, verfolgte diese Bewegung keine revolutionären Ziele. Sie stellte in ihrer Mehrheit das System des bürokratischen Kapitalismus nicht infrage, sondern wollte es reformieren. Viele Vertreter der christlichen, sozialdemokratischen und ökologischen Oppositionsgruppen der DDR hatten sich an den Protesten 1989 beteiligt. Nicht wenige von ihnen gelangten dann aber auch schnell in auskömmliche Posten im westlichen Politikbetrieb, bis hin zu Ministerämtern. Auch für viele „Wendehälse“ aus der bürokratisch-kapitalistischen Führung der DDR war es kein Problem, Posten in Wirtschaft und Staatsapparat der ebenfalls kapitalistischen BRD zu übernehmen.
Die Wiedervereinigung, die dem Mauerfall und dem Sturz Honeckers folgte, war ein wichtiger Erfolg des Kampfs der Massen. Allerdings war er in dieser Form nur möglich, weil die sozialimperialistische Sowjetunion aufgrund der veränderten Weltlage zu diesem Zeitpunkt kein Interesse an einer gewaltsamen Niederschlagung der Massenproteste in der DDR hatte. Die Wiedervereinigung entsprach dem tiefen Wunsch der Massen in Ost- und Westdeutschland.
Nicht zuletzt ermöglichte sie, die MLPD als gesamtdeutsche revolutionäre Partei weiter aufzubauen und die Arbeitereinheit in ganz Deutschland zu verwirklichen. Mit ihrer systematischen Kleinarbeit trug die MLPD dazu bei, dass die mutige Einstellung der demokratischen Volksbewegung und ihre positiven Errungenschaften in das Klassenbewusstsein aller Arbeiter Eingang fanden. 2004 gingen Zigtausende in der Tradition der Montagsdemonstrationen der DDR gegen die geplanten Hartz-Gesetze auf die Straße unter der Losung: „Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir“.
„Zusammenhalt“ – mit wem?
Die Wiedervereinigung hatte jedoch einen Doppelcharakter, weil sie auf dem Boden der kapitalistischen Verhältnisse stattfand: „Da die Wiedervereinigung nicht unter sozialistischem Vorzeichen stattfand, wurde es dem westdeutschen Monopolkapital möglich, die DDR in ihre wirtschaftliche und politische Macht einzuverleiben.“7 Darüber täuschten die Kohl-Regierung und alle westdeutschen Monopolparteien die Massen mit großen Versprechungen vom „Aufbau Ost“ und „blühenden Landschaften“ hinweg. Doch ihre Hoffnungen auf soziale Besserstellung, ihr Wunsch nach Demokratie und Freiheit wurden im Interesse der Diktatur der Monopole bitter verraten. Weit mehr als 2,5 Millionen Arbeitsplätze wurden vernichtet durch die Ausschlachtung der DDR-Wirtschaft. Bis heute werden zur Spaltung der Werktätigen in Ost- und Westdeutschland bewusst niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten und niedrigere Renten aufrechterhalten.
Steinmeier gibt sich in seiner Jubiläumsrede besorgt. Auch er treffe „immer wieder auf Menschen, denen wenig nach Feiern zumute ist, viel weniger noch als bei manch früherem Jubiläum“. Er höre von einer „wachsenden Kluft, längst nicht nur zwischen Ost und West, … auch … zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich“. Man spürt förmlich die Furcht vor der verschärften Polarisierung und vor dem fortschrittlichen Stimmungsumschwung. Die wachsenden Klassengegensätze können nur mit dem Kapitalismus zusammen revolutionär überwunden werden. Steinmeiers Appelle zu mehr „Zusammenhalt“ zielen vor allem darauf ab, die scheiternde Klassenzusammenarbeitspolitik zu beleben. Er empfiehlt neue „Runde Tische“ statt „Dauerempörung“. Etwa so wie bei der „Kohlekommission“, die sich ganz im Interesse der Energiekonzerne auf einen verwaschenen und viel zu späten Ausstieg aus der Kohleverbrennung einigte? Die Empörung über solche Betrugsmanöver ist vollständig berechtigt. Sie reicht allerdings nicht, um die komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Das setzt Klarheit, Bewusstheit und Organisiertheit voraus. Und Zusammenhalt braucht es dazu, doch auf eine andere Art, als sie Steinmeier vorschwebt: zwischen den Arbeitern und den breiten Massen in Ost und West – gegen die Diktatur der Monopole! Die verschärfte Rechtsentwicklung der Regierung und der bürgerlichen Parteien sowie das verstärkte Aufkommen faschistoider und faschistischer Parteien ist auch mit einem verstärkt offen aggressiven Antikommunismus verbunden, für den der moderne Antikommunismus den Weg geebnet hat.
AfD – Protestpartei des Ostens?
Es ist kein Zufall, dass die ultrareaktionäre, faschistoide AfD die östlichen Bundesländer ins Zentrum ihrer Demagogie stellt und dass diese Versuche von bürgerlichen Politikern und Medien insgesamt systematisch aufgewertet werden. Der demagogische Wahlkampfslogan des faschistischen Vorsitzenden der AfD Thüringen, Björn Höcke, von einer „Wende 2.0“, der „Vollendung der friedlichen Revolution“, setzt raffiniert an solchen Gefühlen vieler Menschen an. Kaum war die Thüringen-Wahl vorbei, bekundete Höcke seine Bereitschaft zur staatstragenden Regierungsverantwortung. Das ist das genaue Gegenteil von „Revolution“! Höckes recycelte CSU-Losung „Freiheit statt Sozialismus“ zeigt schon eher, wofür er steht. Auch er will die Freiheit des kapitalistischen Systems um jeden Preis verteidigen: zur Ausplünderung ganzer Völker, zur Führung imperialistischer Kriege und zur systematischen Zerstörung der Umwelt. Allerdings noch aggressiver als ein Joachim Gauck – indem er einer faschistischen Diktatur den Weg bereitet.
Wie auch die Linkspartei „abschwört“
Als Eintrittskarte für das Amt des thüringischen Ministerpräsidenten unterschrieb Bodo Ramelow in der Präambel des Koalitionsvertrags von 2014, dass die DDR in der Konsequenz ein „Unrechtsstaat“ gewesen sei. Später rückte er davon ab: „Die DDR ist kein Rechtsstaat gewesen, sie war eine Diktatur“.8 Die Frage ist allerdings, wessen Diktatur? War es eine Diktatur der Arbeiterklasse, in der die breiten Massen die Kapitalisten und Bürokraten kontrollieren, wie im echten Sozialismus, oder war es eine Diktatur von kapitalistischen Bürokraten, die sich mit sozialistischen Phrasen tarnten? Ramelow drückt sich genauso um eine kritisch-selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte der DDR wie die gesamte Führung der Linkspartei.
MLPD – Partei der Arbeitereinheit in Ost und West
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte brannte vielen, Jüngeren und Älteren, während des Landtagswahlkampfs in Thüringen auf den Nägeln. Geführt hat diese Diskussion allein die MLPD. Dabei stößt die dialektisch-materialistische und differenzierte Analyse der MLPD auf wachsendes Interesse.
Mit ihrer Konzentration auf den Wahlkampf in Thüringen hat die MLPD in Zigtausenden Gesprächen unter den Menschen eine bewusstseinsbildende Arbeit geleistet – und so Menschen wieder eine sozialistische Zukunftsperspektive nahegebracht oder gegeben. Wenn sich immer mehr Menschen in der MLPD und im REBELL organisieren – dann hat das wirklich Perspektive.