„Antideutsch“ oder internationalistisch: Provokationen und der Streit um die Wiedervereinigung Deutschlands
Aus der Roten Fahne 39/2010: Der Artikel „Antideutsch oder internationalistisch“ in der „Roten Fahne“ 34/2010, S.12/13 hat einige Diskussionen, Hinweise und Nachfragen ausgelöst. Insbesondere in den großstädtischen Ballungszentren hat die Strömung der sogenannten „Antideut- schen“ eine bestimmte Präsenz. Provokationen, Spaltung von Demonstrationen und massenfeindliches Sektierertum ärgern Antifaschisten unter anderem in München, Berlin, Leipzig, Dres- den, Köln oder Hamburg.
Zum Beispiel Bochum
Schon seit einigen Jahren arbeiten „antideutsche“ Gruppen an der Ruhr Universität Bochum unter dem Namen „Linke Liste“. Als sie im Mai eine Propagandaveranstaltung unter dem Titel „Antisemitismus von links“ mit dem Wiener Judaistik-Professor Dr. Thomas Haury durchführten, wurde für die Einladung dazu auch der Name des in Bochum anerkannten antifaschistischen Bündnisses „Bochum gegen Rechts“ ohne dessen Einverständnis benutzt. Dieter Gallach, langjähriger Aktivist bei „Bochum gegen rechts“ und
Die Bevölkerung der DDR hat ganz wichtige Erfahrungen mit dem System des bürokratischen Kapitalismus in der DDR und mit der Wirklichkeit des westdeutschen Kapitalismus gemacht – die wiedervereinigte Arbeiterklasse in Deutschland hat dadurch einen Schatz für den Kampf um die Selbstbefreiung und den Aufbau des echten Sozialismus! Bild: Montagsdemo in Magdeburg, 2004 rf-foto |
Vorstandsmitglied der Gesellschaft für wissenschaftliche Studien zur Arbeiterbewegung e.V., berichtet: „Auf einmal erschien unser Bündnis auf dieser Einladung. Natürlich ohne dass wir gefragt wurden. Ich habe dagegen zu Beginn der Veranstaltung im Namen des Bündnisses protestiert. Ich habe selber Stellung bezogen zu den antikommunistischen Ausführungen von Dr. Haury zum angeblichen ,Antisemitismus von links’. Eine sachliche Diskussion war aber nicht möglich. Bevor ich zu Ende gesprochen hatte: Rufe, Pfeifen, Verleumdung. Ein unmöglicher Stil.“ Christoph Schweitzer, ebenfalls aus Bochum vom Verlag Neuer Weg, schreibt in einem (nicht veröffentlichten) Beitrag zum Internationalen Seminar anlässlich „25 Jahre MLPD“ im Jahr 2007: „2003 waren 17 Millionen am gleichen Tag weltweit auf der Straße gegen den drohenden Irakkrieg. Im Durchschnitt fand im letzten Jahr in Deutschland täglich mehr als eine Demonstration gegen Faschisten statt. Um solche Bewegungen zu zersetzen und sie vor allem davon abzuhalten, das Übel an der Wurzel zu packen, besteht eine Methode der bürgerlichen Propaganda darin, die ,Antideutschen‘ hoch zu puschen. Die Logik der ,Antideutschen’: Da zum Hitlerfaschismus der Antisemitismus gehörte, erklären sie diese Besonderheit zum Wesen des Faschismus, sogar zum Wesen des Imperialismus. Faschisten griffen bekanntlich viele Formen und Begriffe der Arbeiterbewegung auf und verkehrten sie ins Gegenteil. Wer heute den Begriff ,Volk’ im Gegensatz zur Monopolherrschaft verwendet, ist aber in den Augen der ,Antideutschen’ ein Faschist, jeder fahnenschwenkende Fußballfan ist ihnen verdächtig.“ Folgerichtig startete die „Linke Liste“ der Antideutschen in Bochum auch aktuell eine Hetzkampagne gegen die „Soziale Liste“ in Bochum, an der auch MLPD-Mitglieder mitarbeiten, die sich auch in der Montagsdemonstrationsbewegung beteiligt und aktive antifaschistische Arbeit macht.
Nur „linke Verirrungen“?
Dass der umgekehrte Nationalismus der "Antideutschen" eine reaktionäre weltanschauliche Quelle hat, sieht heute auch Jürgen Elsässer, einer der maßgeblichen journalistischen Protagonisten der Bewegung in den 1990er-Jahren so. Er schreibt im Vorwort zu dem im August 2010 erschienenen Buch „GAZA – Die Kriegsverbrechen Israels“ von Andrea Ricci (Kai Homilius Verlag, Berlin, ISBN: 978-3-89706-413-3) unter dem Stichwort „Linke Verirrungen“: „Der Einfluss der pro-israelischen Strömung in der Linken ist undenkbar ohne den Aufstieg der antideutschen Bewegung – sozusagen der letzten Sumpfblüte aus dem Biotop der Achtundsechziger. Am Enstehen der Antideutschen hatte ich keinen kleinen Anteil, versuchte aber immer, ihre bösartige Mutation zum Bellizismus zu stoppen ...“ Zurecht weist auch Elsässer darauf hin, dass diese Strömung und ihre journalistischen Stimmen wie „Konkret“, „jungle world“ und „bahamas“ in den 1990er-Jahren noch eine kaum hörbare Minderheit bildeten. Erst nach dem 11. September 2001, als Bush seinen „New War“ gegen die „Schurkenstaaten“ dieser Welt ausrief, begann auch der Aufstieg der „Antideutschen“ aus dem Blätterwald der Szene in die bundesrepublikanische Medienöffentlichkeit. Dennoch hält Elsässer noch heute den Auftakt zur „antideutschen“ Bewegung für „einen vernünftigen Ausgangspunkt“. „Wir waren gegen die Wiedervereinigung, griffen Günter Grass’ Diktum ,Deutschland denken, heißt Auschwitz denken’ auf und fürchteten die Neubildung der großen Zentralmacht im Herzen Europas, die für Weltkrieg und Judenmord im 20. Jahrhundert verantwortlich gewesen war.“
Demonstration „gegen die Wiedervereinigung“ am 12. Mai 1990 inFrankfurt/Main. Die Demonstrantin zeigt die bekannte – und verbotene – Textzeile von Slime. Die Gleichsetzung des heutigen BRD-Imperialismus mit dem Faschismus ist bis heute ein Irrtum unter einigen Antifaschisten. rf-foto |
Vernünftig?
Auch die westdeutschen Marxisten-Leninisten mussten sich 1989/90 erst eine dialektische Betrachtung der Wiedervereinigung erkämpfen. Auch wenn vom Standpunkt des BRD-Imperialismus die DDR einverleibt wurde, war die Wiedervereinigung vom Standpunkt der Massen ein Ergebnis der demokratischen Volksbewegung und des berechtigten Wunsches, die vom westlichen Imperialismus verschuldete Teilung zu überwinden. Vom Standpunkt der Einheit der Arbeiterklasse in Deutschland war es erstmals wieder möglich, gemeinsame Organisationen der Gewerkschaften, Jugendverbände und anderer Selbstorganissationen aufzubauen. Vom Standpunkt des Kampfes für den Sozialismus wurde es jetzt möglich, die Erfahrungen mit dem hochentwickelten Imperialismus der BRD, dem bürokratischen Kapitalismus der DDR und den vorhergehenden hoffnungsvollen Ansätzen zum sozialistischen Aufbau im Osten Deutschlands in einer revolutionären Partei zu verarbeiten. Das Projekt der „Antideutschen“ als Zerfallsprodukt der kleinbürgerlichen marxistischleninistischen-Bewegung war von Anfang an eine ideologische, politische und organisatorische Gegenkonzeption zum Aufbau der vereinigten revolutionären Partei der Arbeiterklasse. (dw) Der Artikel wird fortgesetzt. Im 3. Teil soll es vor allem darum gehen, wie die Islamophobie in die antideutsche Bewegung Eingang fand und aus welchen materiellen und personsellen Quellen sich ihr medialer „Aufstieg“ seit 2001 speist. Wer dazu Hinweise und Informationen hat, ist gerne eingeladen, diese an die Redaktion mitzuteilen.