Rote Fahne 08/2018
Friedrich Engels und der Traum vom Eigenheim
Die Lösung der Wohnungsfrage spielte in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine große Rolle. In seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ von 1872/73 setzte sich Friedrich Engels mit der Vorstellung des Anarchisten Proudhon und seiner Anhänger in Deutschland auseinander.
Dieser forderte, dass Mietwohnungen durch jährliche Abschlagszahlungen in den Besitz der Mieter übergehen, damit die Gesellschaft sich in eine „Gesamtheit unabhängiger freier Besitzer von Wohnungen“ umwandelt. Hier die Antwort von Friedrich Engels1
Nun denkt euch aber den schönen Zustand, wenn jeder Arbeiter, Kleinbürger und Bourgeois genötigt wird, durch jährliche Abzahlungen erst Teil-, dann ganzer Eigentümer seiner Wohnung zu werden! In den Industriebezirken Englands, wo es große Industrie, aber kleine Arbeiterhäuser gibt und jeder verheiratete Arbeiter ein Häuschen für sich bewohnt, hätte die Sache noch einen möglichen Sinn. Aber die kleine Industrie von Paris sowie der meisten großen Städte des Kontinents wird ergänzt durch große Häuser, in denen zehn, zwanzig, dreißig Familien zusammenwohnen.
Am Tage des weltbefreienden Dekrets, das die Ablösung der Mietwohnung proklamiert, arbeitet Peter in einer Maschinenfabrik in Berlin. Nach Ablauf eines Jahres ist er Eigentümer, meinetwegen des fünfzehnten Teiles seiner aus einer Kammer des fünften Stockes irgendwo am Hamburger Tor bestehenden Wohnung. Er verliert seine Arbeit und findet sich bald darauf in einer ähnlichen Wohnung, mit brillanter Aussicht auf den Hof, im dritten Stock am Pothof in Hannover, wo er nach fünfmonatigem Aufenthalte eben 1/36 des Eigentums erworben hat, als ein Strike ihn nach München verschlägt und ihn zwingt, sich durch elfmonatigen Aufenthalt genau 11/180 des Eigentumsrechts auf ein ziemlich dunkles Anwesen zu ebner Erde, hinter der Ober-Angergasse, aufzuladen. Fernere Umzüge, wie sie Arbeitern heute so oft vorkommen, hängen ihm ferner an: 7/360 einer nicht minder empfehlenswerten Wohnung in St. Gallen …
Was hat nun unser Peter von allen diesen Wohnungsanteilen? Wer gibt ihm den richtigen Wert dafür? Wo soll er den oder die Eigentümer der übrigen Anteile an seinen verschiedenen ehemaligen Wohnungen auftreiben? Und wie steht es erst um die Eigentumsverhältnisse eines beliebigen großen Hauses, dessen Stockwerke sage zwanzig Wohnungen enthalten und das, wenn die Ablösungsfrist abgelaufen und die Mietswohnung abgeschafft ist, vielleicht dreihundert Teileigentümern gehört, die in allen Weltgegenden zerstreut sind? …
Die ganze Vorstellung, daß der Arbeiter sich seine Wohnung kaufen soll, beruht wieder auf der schon hervorgehobenen Proudhonschen reaktionären Grundanschauung, daß die durch die moderne große Industrie geschaffenen Zustände krankhafte Auswüchse sind und die Gesellschaft gewaltsam – d. h. gegen die Strömung, der sie seit hundert Jahren folgt – einem Zustande entgegengeführt werden muß, in dem die alte stabile Handarbeit des einzelnen die Regel und der überhaupt nichts anderes ist als eine idealisierte Wiederherstellung des untergegangenen und noch untergehenden Kleingewerbsbetriebs. Sind die Arbeiter erst wieder in diese stabilen Zustände zurückgeworfen, ist der „soziale Wirbel“ erst glücklich beseitigt, so kann der Arbeiter natürlich auch wieder Eigentum an „Haus und Herd“ gebrauchen und die obige Ablösungstheorie erscheint weniger abgeschmackt. Nur vergißt Proudhon, daß, um dies fertigzubringen, er erst die Uhr der Weltgeschichte um hundert Jahre zurückstellen muß und daß er damit die heutigen Arbeiter wieder zu ebensolchen beschränkten, kriechenden, duckmäuserigen Sklavenseelen machen würde, wie ihre Ururgroßväter waren.