Bald mit 99 in Rente?

Das Bild vom Rentenalter als „Ruhestand“ – heute stimmt es weniger denn je

Rentner bringen eine enorme gesellschaftliche Leistung. Sie unterstützen die Familien, damit Eltern – auch wenn sie Kinder haben – arbeiten können. Sie sind ehrenamtlich tätig, trainieren in Sportvereinen die Jugend, organisieren das Vereinsleben. Rentner machen einen Großteil der zehn Millionen freiwilligen Flüchtlingshelfer aus. Für das kulturelle Leben und gesellschaftliches Engagement wie zum Beispiel in den Gewerkschaften oder auch in der revolutionären Partei MLPD sind sie unverzichtbar.

Ein großer gesellschaftlicher Fortschritt: Die Menschen leben heute länger. Und auch im Alter – nach jahrzehntelangem Verkauf ihrer Arbeitskraft – können sie sich gesellschaftlich sinnvoll betätigen.

Ein Problem ist das nur für die Herrschenden. Seit Jahrzehnten wälzen diese die Finanzierung der Altersversorgung immer mehr auf die Masse der Werktätigen ab. Im Juli preschte das „Institut der Deutschen Wirtschaft“ (IW) vor mit der Forderung nach Erhöhung des Renteneintrittsalters auf bis zu 73 Jahre. Warum dann nicht gleich die Rente erst ab 99? Damit garantiert keiner mehr was davon hat …

Erdrückende „Bevölkerungspyramide“?

Zur Begründung dient ein weiteres Mal die Behauptung von der veränderten „Bevölkerungspyramide“. Dadurch gebe es „zu wenige junge Menschen, die für die Rente der vielen Älteren aufkommen“. Tatsächlich hat sich der Anteil der über 65-Jährigen in Deutschland von 9,4 Prozent 1950 auf 20,8 Prozent 2013 verdoppelt – und geburtenschwache Jahrgänge rücken nach. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt in Deutschland bei Männern 78 und bei Frauen 83 Jahre. 1950 lag sie noch bei 64 bzw. 68 Jahren. Das ist unter anderem Folge der Fortschritte der Medizin, einer teilweise gesünderen Lebensweise und einer Verringerung der unmittelbaren körperlichen Belastung bei der Arbeit.

Allerdings verbergen die Durchschnittszahlen auch eine gegensätzliche Entwicklung: So sinkt die Lebenserwartung insbesondere von Menschen, die großer Arbeitsbelastung, Schichtarbeit oder schädlichen Umwelteinflüssen wie Feinstaub unterliegen oder von den Hartz-Gesetzen in die Armut gedrückt werden.

Das rührt die Unternehmerverbände und ihre Institute wenig. „Weil die Menschen länger leben, sollen sie auch länger arbeiten“, so ihre Logik. Sie suggerieren, dass die „faulen“ Alten den „fleißigen“ Jüngeren auf der Tasche liegen – um Jung und Alt gegeneinander aufzubringen. Sie verschweigen dabei aber: Die Zahl der Erwerbstätigen hat sich seit 1955 verdoppelt und die Arbeitsproduktivität der Industriebeschäftigten seit 1991 verdreifacht. Dass die arbeitenden Menschen durchschnittlich länger leben, heißt noch lange nicht, dass sie die verschleißenden, oft krank machenden Arbeitsbedingungen in den Betrieben, länger aushalten können und wollen. Die chronische Krise der bürgerlichen Familienordnung mit tendenziell sinkenden Geburtenzahlen, die verschärfte kapitalistische Ausbeutung und zunehmende umweltbedingte Krankheiten – all dies haben die Herrschenden zu verantworten – nicht die Arbeiter, Jugendlichen oder Rentner.

Der wahre Reichtum einer Gesellschaft

Stefan Engel, Vorsitzender der MLPD, erklärte dazu 2013 in einem Vortrag zur Sozialpolitik: „… die Arbeiter (werden) immer produktiver, und deswegen ist es überhaupt kein Problem, dass eine geringere Zahl von Jüngeren einen gesellschaftlichen Reichtum produziert, der für alle reicht. So produziert ein Opel-Arbeiter einen Umsatz von 1,2 Millionen Euro im Jahr! Davon könnten 83 Rentner ein Jahr lang mit einer Rente von 1200 Euro im Monat finanziert werden! Es ist also dummes Zeug, wenn man den Leuten weismachen will, es gäbe in der Gesellschaft kein Geld für die Finanzierung der Renten!“

Karl Marx spricht in diesem Zusammenhang von der „verfügbare(n) Zeit als Maß des Reichtums“ einer Gesellschaft („Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, S. 595 f.). Im Kapitalismus muss der Arbeiter die „freie Zeit“ während seines Berufslebens und im Alter stets den Kapitalisten abringen. „Daher das ökonomische Paradoxon, dass das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit (die moderne Industrie – Anm. d. Red.) in das unfehlbare Mittel umschlägt, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln.“ (Karl Marx, „Das Kapital“, Bd. 1, S. 427)

Im Sozialismus/Kommunismus steht nicht der Profit im Mittelpunkt. Der mit moderner Technologie und in Einheit mit der Natur geschaffene gesellschaftliche Reichtum kommt der Gesellschaft ungeteilt zugute. Karl Marx spricht weitsichtig davon: „Der wahre Reichtum ist ‚disposable time‘, freie Zeit für ihre (der Arbeiter – Anm. d. Red.) Entwicklung.“ Das sei die „Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 23, S. 246). So stehen sich die politische Ökonomie des Kapitalismus und die politische Ökonomie des Sozialismus diametral gegenüber. Im Berufsleben wie auch in der „dritten Lebensdekade“, dem Alter.

Um zu verhindern, dass die Menschen sich tiefer mit der marxistisch-leninistischen Wissenschaft der Arbeiterbewegung befassen, schürt die antikommunistische Propaganda heute Vorbehalte gegen den angeblich „unproduktiven“, „innovationsfeindlichen“ Sozialismus, der mit seinen umfassenden staatlichen Leistungen jede „individuelle Initiative“ ersticke. Dabei wird die Zeit des sozialistischen Aufbaus in den früheren Ostblockländern und in China mit dem bürokratischen Kapitalismus nach dem Verrat am Sozialismus seit 1956 bzw. 1976 (in China) gleichgesetzt. Zu den unvergänglichen Erfolgen der früheren sozialistischen Länder gehörte nicht nur ein umfassendes Sozialsystem mit Renten, die aus dem gesellschaftlichen Reichtum finanziert wurden. Gefördert wurde auch das soziale, kulturelle und gesellschaftliche Engagement der Älteren als Betreuer der Kinder, Lehrer der Jugend und begehrte Berater in den Betrieben.

Rentenabbau – „Chefsache“ des internationalen Finanzkapitals

Eine ganz andere Entwicklung schlägt die kapitalistische Gesellschaft heute weltweit ein. Die schrittweise Auflösung der paritätischen Rentenversicherung als Teil der Sozialversicherungen im Interesse des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals begann in den 1990er-Jahren. Sie wurde 1998 in Deutschland vom Monopolverband BDI konzipiert – und von den jeweiligen Bundesregierungen als Geschäftsführungen des internationalen Finanzkapitals in den jeweiligen „Rentenreformen“ umgesetzt (siehe Studienhinweis S. 21). Sie zielen allesamt auf Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Absenkung des Rentenniveaus, Streichung von Leistungen – wie REHA-Maßnahmen – und Verpflichtung der Werktätigen zur privaten Zusatzversicherung. Obwohl längst klar ist: Immer weniger Arbeiterinnen und Arbeiter können sich das von ihren Löhnen überhaupt noch leisten.

Private Altersversicherungen wie die „Riester-Rente“ geraten infolge der Null-Zins-Politik der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank zum Flopp. Teils wird weniger als die eingezahlte Summe an die Versicherten ausgezahlt. Ein Geschäft ist das vor allem für die Versicherungskonzerne.

Gerade Jüngere beschwichtigen sich manchmal damit, bis zur Rente sei es ja noch lange hin, und die paar Jahre mehr bis zur Rente schaffe man auch noch. Tatsächlich sind bereits heute 22 Prozent der 60- bis 64-Jährigen in Deutschland in Frühverrentung oder im Vorruhestand. Für die meisten Werktätigen bedeutet die Erhöhung des Rentenalters deshalb faktisch eine drastische Rentenkürzung. Mit der Folge, dass nach Rentenbeginn rund 800.000 Menschen in Deutschland weiterarbeiten müssen, weil die Rente hinten und vorne nicht reicht.

Steter Tropfen höhlt den Stein ...

Die internationalen Monopole verfolgen den Abbau der gesetzlichen Rentenversicherungen weltweit. Die Methoden sind allerdings unterschiedlich. Dem unter dem Diktat der EU und vor allem Deutschlands stehenden Griechenland wurden brachial Einschnitte in die gesetzliche Rente diktiert – und dies zur Bedingung der sogenannten „Rettungspakete“ gemacht. Wer in Frankreich mit 27 Jahren die erste Arbeitsstelle hat, muss bis 69 arbeiten, um die erforderlichen 42 Versicherungsjahre zusammenzubekommen. In Deutschland gehen Monopole und Regierung nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“ vor. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit von 65 auf 67 wird Jahr für Jahr monatsweise durchgesetzt. Schon dies hat seit 2007 zu massenhaften gewerkschaftlichen Protesten geführt gegen die damalige Große Koali­tion unter Merkel und Müntefering sowie die folgende CDU/CSU/FDP-Koalition: Viele Gewerkschafter hätten sich wirksame politische Streiks dagegen gewünscht.

Vor allem zielt die Salamitaktik bei der Rente mit 67 auf Spaltung ab: Die heute Älteren trifft es weniger, dafür die zukünftigen Generationen, die sich noch nicht so viele Gedanken darüber machen. Wichtig ist deshalb die Auseinandersetzung darum, sich nicht von der unmittelbaren Betroffenheit leiten zu lassen, sondern von den Zukunfts- und Klasseninteressen aller Arbeiter. Jung und Alt müssen gemeinsam kämpfen!

Rente als Wahlkampfthema

Mit den Forderungen aus dem Unternehmerlager wird auch eine Drohkulisse aufgebaut, um den Ausbau der privaten Vorsorge zu forcieren. Die Unternehmerverbände wissen: Eine noch weitergehende Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist politisch nicht so einfach durchzusetzen. Zumal die amtierende Große Koalition zuletzt selbst bei der Rente mit 67 zurückrudern musste. Mit verschiedenen Zugeständnissen wie der „Rente mit 63“ und der „Mütterrente“ wollten sie die Folgen abdämpfen.

Die wachsende Ablehnung der rentenpolitischen Verschlechterungen ist auch ein Grund dafür, warum die im Bundestag vertretenen Parteien ein Jahr vor der Bundestagswahl 2017 die Rente als Wahlkampfthema entdeckt haben. Sie fürchten die politische Sprengkraft ihrer Rentenbeschlüsse und tragen einen Reformplan nach dem anderen vor. Ihre Zugeständnisse und Versprechungen werfen aber nur ein Schlaglicht auf das grundlegende Problem: die wachsende Altersarmut.

Systemfrage grundsätzlich aufwerfen

Die Forderungen der MLPD zur Rentenfrage gehen konsequent von den Interessen der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aus. Sie sind gegen die internationalen Übermonopole gerichtet – und haben Perspektive. Rentenzahlungen sind vom Standpunkt der marxistischen politischen Ökonomie keine Almosen. Auch die Unternehmerbeiträge sind Lohnbestandteile. Weil sie genauso wie die direkt ausbezahlten Löhne der Lebenserhaltung der Arbeiter und Angestellten bzw. Rentner dienen. Deshalb ist es vollständig richtig, darauf zu bestehen: Auch die heute von den Versicherten entrichteten Rentenbeiträge sind direkt von den Kapitalisten zu zahlen. Das ist ein Kontrastprogramm zu allen reformistischen Konzepten in der Rentenpolitik, die lediglich auf eine Umverteilung der Finanzierung zwischen verschiedenen Teilen der Masse der Bevölkerung orientieren. Im Entwurf des überarbeiteten Parteiprogramms der MLPD, das sie gegenwärtig in der Vorbereitung ihres X. Parteitags berät, werden folgende Forderungen zur Rentenfrage aufgestellt:

- Herabsetzung des Rentenalters auf 60 Jahre für Männer, auf 55 Jahre für Frauen bei vollem Rentenausgleich!

- Volle Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge durch die Kapitalisten! ...

- Einbeziehung der alten, kranken und behinderten Menschen in das gesellschaftliche Leben und volle Übernahme ihrer Pflegekosten durch Monopole und Staat!

Weltweit schlägt dem internationalen Finanzkapital und seinem Rentenabbau Widerstand entgegen. Kämpfe werden in Dutzenden von Ländern geführt (siehe S. 23). In Frankreich beteiligten sich Millionen Menschen seit 2010 an großen Streiks und Demonstrationen gegen die Rentenpläne der Sarkozy- und Hollande-Regierung. Das ist die Grundlage für den nötigen länderübergreifenden Kampf gegen die internationalen Monopole. Der aktive Volkswiderstand für den Erhalt und den Ausbau sozialer Errungenschaften muss sich mit den Arbeiterkämpfen hin zur Arbeiteroffensive verbinden. Ein reichhaltiges, menschenwürdiges Leben für die Masse der älteren Menschen – verbunden mit ihrer aktiven Einbeziehung in gesellschaftliche Aufgaben – wird es erst im Sozialismus geben. Dessen Leitlinie ist die Befriedigung der sich stets verändernden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen in Einheit mit der Natur. Das erfordert, auf revolutionärem Wege das imperialistische Weltsystem zu überwinden. Die beste Stärkung dieser Richtung ist, sich – egal in welchem Alter – in der MLPD und im Jugendverband REBELL zu organisieren.