Die Türkei – ein neuimperialistisches Land

Die MLPD kennzeichnet Länder wie die sogenannten BRICS1 oder MIST-Länder2 als neuimperialistisch auf verschiedenen Entwicklungsstufen.

Die meisten waren vormals neokolonial abhängige Länder, die vor allem um ihre nationale Unabhängigkeit kämpften. Die Beurteilung des Charakters eines Landes hat weitgehende Konsequenzen für die Strategie und Taktik der revolutionären und Arbeiterbewegung. In neokolonial abhängigen Ländern steht der Kampf um die nationale Unabhängigkeit und eine neudemokratische Ordnung als Bestandteil der Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution im Mittelpunkt. In imperialistischen Ländern geht es unmittelbar um die Durchführung der proletarischen Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Darum kommt der Diskussion darüber so große Bedeutung zu. Sie wird momentan auch um die Kennzeichnung der Politik der Türkei geführt.

Lenin betonte, dass sich das imperialistische Weltsystem im ständigen Wandel befindet: „Am schnellsten wächst der Kapitalismus in den Kolonien und den überseeischen Ländern. Unter diesen Ländern entstehen neue imperialistische Mächte (Japan). Der Kampf der Weltimperialismen verschärft sich.“3

Die internationalen Monopole fluteten nach 1990 und besonders in der Weltwirtschafts- und Finanzkrise von 2008 bis 2014 bevölkerungsreiche neokoloniale Länder mit Kapital. Darunter war auch die Türkei mit ihren 76 Millionen Einwohnern, einem großen Binnenmarkt und einer entwickelten Infrastruktur. Sie bauten dort große Produktions- und Handelszentren auf. Bis 2007 stiegen die jährlichen ausländischen Direktinvestitionen von weniger als einer halben Milliarde auf über 21 Milliarden US-Dollar, und sie wuchsen bis 2014 weiter um insgesamt 90 Milliarden US-Dollar. Automobilkonzerne wie Toyota, Daimler oder Ford errichteten Großbetriebe. Viele Elektronik-Firmen investierten in der Türkei. Metro eröffnete reihenweise Großhandelsmärkte.

Über die Herausbildung des Imperialismus schrieb Lenin: „Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole.“4

Durch die Gründung von „gemischten Beteiligungen“ und durch zig Milliarden-Kredite an türkische Unternehmen verschmolz das internationale Finanzkapital, vor allem aus der EU und insbesondere aus Deutschland, zunehmend mit der erstarkenden Großbourgeoisie der Türkei. Dabei entstanden auch selbständige türkische Monopole, wie die Automobilhersteller Tofaş und Karsan, die Turkish Airlines oder auch türkische Großbanken. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erhöhte sich sprunghaft von 151 im Jahr 1990 auf 800 Milliarden US-Dollar im Jahr 2014.

In diesem Prozess veränderte sich die Klassenstruktur des Landes sehr weitgehend. Noch im Jahr 1990 lieferten die 45 Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft etwa 21 Prozent des BIP. Heute trägt diese weniger als 10 Prozent zum BIP bei, ihr Anteil an den Beschäftigten ist auf etwa 15 Prozent gesunken. Die industrielle Produktion verdoppelte sich seitdem und trägt heute etwa 30 Prozent zum BIP bei, mit etwa 25 Prozent der Beschäftigten. Den Kern des Dienstleistungssektors mit fast 60 Prozent des BIP5 bildet der Finanzsektor, gefolgt vom Tourismus, aber auch von vielen Bereichen, die der Produktion vor- bzw. nachgelagert sind.

Mit der teilweisen Umwandlung der Landwirtschaft in Agrarindustrie setzte eine Landflucht ein. Heute leben über 75 Prozent der Bevölkerung in den Städten. Istanbul verdreifachte seine Bevölkerungszahl auf fast 15 Millionen Einwohner.

In Industrie, Handel, Agrar- und Bankwesen bildeten sich rasant internationale, aber auch türkische Monopole heraus. Das größte dieser Monopole ist heute die Koç Holding. Dieses Monopol hat den Sprung unter die 500 größten Monopole der Welt geschafft. Weitere 12 gehören zu den 2.000 größten Monopolen der Welt, darunter Telekommunikations- und Bau-Konzerne, Turkish Airlines sowie die fünf Großbanken, die selbst zu Monopol-Banken mit internationalen Verbindungen geworden sind. Das gesamte Bank-, Industrie-, Agrar- und Handelskapital ist zu einem Teil des internationalen Finanzkapitals verschmolzen.

Mit der Herrschaft der Monopole wird der Kapitalexport für die Entwicklung zu einem imperialistischen Land kennzeichnend. Die Türkei konnte zwischen 1990 und 2012 ihren Warenexport um das Fünfzehnfache erhöhen. Bis 2014 stieg der Bestand der ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei auf 168,6 Milliarden US-Dollar, im Vergleich zu 18,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000.6 Weltweit gesehen hängen sie hinter den großen alten imperialistischen Ländern und dem sozialimperialistischen China hinterher. Der Anteil der Türkei am Kapitalexport in der Welt stieg von 0,05 Prozent auf gerade einmal 0,15 Prozent7. Das weist auf die immensen Schwierigkeiten der neuimperialistischen Länder hin, bei der Neuaufteilung der Welt mitzumischen, und erklärt ihre besondere Aggressivität dabei. Dem entspricht die Politik der türkischen Regierung mehr denn je: Die brutale Unterdrückung des kurdischen Volks, die Kumpanei mit dem faschistischen „Islamischen Staat“ (IS), die Expansionsgelüste gegenüber Syrien mit dem Ziel, das Assad-Regime zu stürzen, oder die blutige Unterdrückung von Protesten und Streiks.

Einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung leistet das Buch von Stefan Engel „Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“, unter anderem auch mit einem Abschnitt zum unterschiedlicher Charakter der revolutionären Bewegung in verschiedenen Ländern.8

 

1 BRICS – Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika; 2 MIST – Mexiko, Indonesien, Südkorea, Türkei; 3 Lenin, Werke, Bd. 22, „Der Imperialismus …“, S. 292; 4 Lenin, Werke, Bd. 22, „Der Imperialismus …“, S. 270; 5 Alle Zahlen: de.statista.com; 6 www.unctad.org/fdistatistics; 7 UNCTAD World Investment Report; 8 Stefan Engel, „Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“, S. 323 f.