„Die schützende Hand“
Wolfgang Schorlaus neuer Krimi über den faschistischen NSU und die Rolle staatlicher Organe
„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantastischer als die Sachlichkeit.“ (Egon Erwin Kisch in „Der rasende Reporter“)
Nach diesem Credo Kischs scheint Wolfgang Schorlau seinen neuesten Kriminalroman geschrieben zu haben – über ein Verbrechen, das noch lange nicht aufgeklärt ist, in Echtzeit sozusagen. Ein Verbrechen, begangen von der faschistischen Terrorgruppe NSU – gedeckt und vertuscht durch Teile der staatlichen Organe.
Schorlau beschreibt die steuerfinanzierte Gründung des „Thüringischen Heimatschutzes“, Netzwerk des NSU, die wohlwollende Begleitung seiner Tätigkeit durch Teile der staatlichen Behörden wie des Geheimdienstes „Verfassungsschutz“ mittels kompletten Verzichts auf strafrechtliche Verfolgung, rechtzeitiger Warnung vor polizeilichen Maßnahmen und schließlich organisierter Überführung des Netzwerks in den Untergrund. Weiter die Deckung des Rückzugs der Attentäter nach verschiedenen Mordanschlägen. Der „mutmaßliche“ Suizid von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ist das zentrale Thema des Buches. Schritt für Schritt erschüttert Schorlau die offizielle, staatliche Version der Ereignisse.
Seine Recherchen verpackt Schorlau in den Ermittlungsauftrag eines anfangs anonymen Auftraggebers für seinen Privatdetektiv Georg Dengler. Wolfgang Schorlau treibt, wie viele andere auch, die Frage um: Gibt es einen „Masterplan“ hinter den Ereignissen, und wenn ja, wie sieht der aus?
Hier schlägt dann die Stunde der Fiktion, denn die ökonomischen und politischen Interessen, die Triebkräfte, die eine solche Entwicklung forcieren, liegen im Dunkel. Plausibel wäre, dass der „Thüringische Heimatschutz“ ursprünglich als faschistische Reserve gegen die Unwägbarkeiten des Anschlusses der DDR in den 1990er Jahren aufgebaut wurde, wie es der Autor andeutet (S. 234). Diente die Entwicklung des Netzwerks NSU der Vorbereitung einer „Strategie der Spannung“, wie sie im Italien der 1970er Jahre praktiziert wurde? Dort wurden von Teilen der Geheimdienste und der verdeckten NATO-Einheit „Gladio“ Staatsverbrechen inszeniert, um sie den Linken in die Schuhe zu schieben, diese dadurch zu diskreditieren, ihren Einfluss auf Massenbewegungen und Arbeiterkämpfe einzudämmen und demgegenüber die Faschisierung des Staatsapparats zu rechtfertigen. Waren die Morde des NSU ein zynischer, menschenverachtender Probelauf zur Vorbereitung auf eine solche Situation?
Wenn man so nah an der Wirklichkeit schreibt wie Schorlau, kann es passieren, dass die Wirklichkeit den Roman überholt: 2011 machte der Einsatzleiter der Berufsfeuerwehr Fotos vom Inneren des Campingbusses, in dem Mundlos und Böhnhardt zu Tode kamen, die Kamera wurde von der Polizei beschlagnahmt, bei ihrer Rückgabe war die Speicherkarte leer (S. 270/71). Vier Jahre später, keine drei Wochen nach Erscheinen des Romans, tauchen die Fotos wieder auf, samt bisher nicht bekannten Akten. Nach einer „diskreten“ Durchsuchung der Diensträume der Polizei von Gotha. Was man sich unter einer „diskreten“ Durchsuchung vorzustellen hat, wird genauso wenig berichtet wie, was auf den Fotos zu sehen ist.
Egon Erwin Kisch hätte an diesem Roman seine reine Freude gehabt.
Stuttgart (Korrespondenz)
Buchlesung mit Wolfgang Schorlau:
14. Januar, 19.30 Uhr, Arbeiterbildungszentrum Süd, Stuttgart-Untertürkheim, Bruckwiesenweg 10