Bandstädte, „Sozgorod“ und die „Grüne Stadt“
Das Ringen um die Lösung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land in der Sowjetunion
Im Zeitraum des ersten Fünfjahresplans zwischen 1928 und 1932 wurde die Industrialisierung der damals sozialistischen Sowjetunion maßgeblich vorangetrieben, während des zweiten Fünfjahresplans wurde sie noch beschleunigt. Das brachte einerseits ein Wachstum der Städte mit sich: Zwischen 1926 und 1933 wuchs der Anteil der städtischen Bevölkerung in der Sowjetunion von 17,9 Prozent auf 24 Prozent, während der Anteil der ländlichen Bevölkerung von 82,1 Prozent auf 76 Prozent sank. Gleichzeitig wuchs die Gesamtbevölkerung der Sowjetunion von 147 Millionen auf 165 Millionen Menschen.1 Das stellte die Staatsführung vor gewaltige Herausforderungen bei der Stadtplanung und im Wohnungsbau. Zwei wichtige Aufgaben stellten sich: Wie konnte genügend Wohnraum geschaffen werden und wie mussten sowohl bestehende Städte im Rahmen der Industrialisierung der Sowjetunion als auch die Lebensverhältnisse im Sozialismus verändert werden?
Zwei Auffassungen standen sich dabei in der Sowjetunion besonders zu Beginn der 1930er Jahre gegenüber: Die „Urbanisten“ waren der Auffassung, die bestehenden Städte müssten im Sinne der Entwicklung der sozialistischen Lebensverhältnisse umgestaltet werden und wachsen. Im Gegensatz zu ihnen lehnten die „Desurbanisten“ das weitere Wachstum der Städte durch Ansiedlung neuer Betriebe und Wohnsiedlungen ab. Neue Industriekomplexe und neue Wohnsiedlungen sollten einen Beitrag zur Lösung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land leisten und letztlich die Einheit von Mensch und Natur höherentwickeln. Das war nach ihrer Meinung mit dem Konzept der bloßen Erneuerung bestehender Städte im Sinne der Umgestaltung der Lebensverhältnisse und mit Neugründungen nach bewährtem Muster nicht zu leisten.
Der Ökonom L. Sabsowitsch schlug in den Jahren 1928–1930 das Konzept der „Sozgorod“ (= „Sozialistische Stadt“) vor, das von Ansiedlungen bei großen Industriebetrieben oder großen Landwirtschaftsbetrieben ausging. Ihre Bevölkerung sollte zwischen 40.000 und 80.000 Einwohner haben, keinesfalls aber 100.000 Einwohner überschreiten. Die Wohneinheiten sollten Ideen der sozialistischen Lebensweise verwirklichen, die mit der Errichtung von „Kommunehäusern“ mit Gemeinschaftseinrichtungen wie Großküchen, Großwäschereien, Kinderkrippen, Lesesälen, Klubs, Theatern oder Kinos gewährleistet werden sollten. Statt einer bloßen Ansammlung von Arbeitersiedlungen planten beispielsweise die Gebrüder Wesnin den Bau der Stadt Kusnezk als „Sozgorod“ für rund 35.000 Einwohner mit einem gesellschaftlichen Zentrum. Es sollte die wichtigsten Kulturstätten und Versorgungseinheiten beherbergen. Zwei Wohnkombinate sollten jeweils ein Wohnviertel mit ausgedehnter Grünanlage in der Mitte bilden, in denen sich Schulen und Kindertagesstätten befanden. Vier etwa gleichgroße Stadtviertel gleichen Typs sollte die Stadt umfassen. Für Stalingrad entwarfen die Wesnins ein großes „Sozgorod“ für 64.000 Menschen. Vier Wohnkombinate mit je 3.200 Einwohnern entstanden. Beim Charkower Traktorenwerk entstand das „Neue Charkow“ als „Sozgorod“ für 50.000 Bewohner. Die Gemeinschaftseinrichtungen waren hier lediglich auf den täglichen Bedarf ausgerichtet.2
In seiner Ablehnung großer Städte war sich der Soziologe M. Ochitowitsch mit den Vertretern der Idee des „Sozgorod“ einig. Er betrachtete Stadt und Land als Widerspruch, den er mit Siedlungen aus standardisierten, leicht auf- und abzubauenden Wohnungseinheiten überwinden wollte. Zu den Dienstleistungseinrichtungen sollten möglichst kurze Wege nötig sein. So sollten „Grüne Städte“ entstehen. Die Transportwege für Arbeitskräfte, Roh- und Brennstoffe wie auch für den Abtransport sollten als Dreieckssystem geplant werden und von den Wohngebieten durch Parkstreifen mit 50 bis 150 Meter Breite getrennt werden. In diesen Grünanlagen sollten sich gesellschaftliche Einrichtungen befinden. Das Innere der Dreiecke sollte der kollektiven Landwirtschaft vorbehalten bleiben. Wäre es nach den Verfechtern der „Grünen Stadt“ gegangen, wäre Moskau zu einem großen Park für Erholung und Kultur umgewandelt worden. Das historische Stadtzentrum sollte erhalten bleiben, die Wohnkombinate und Industriebetriebe allmählich vor die bisherigen Stadtgrenzen verlagert werden und mit dem zentralen Park mit gut ausgebautem Nahverkehr verbunden werden.
Für Magnitogorsk plante Ochitowitsch dann zusammen mit einigen Architekten eine sogenannte „Bandstadt“. Damit wurde der Versuch unternommen, Industriebetriebe, Erzlager, Zulieferbetriebe, Wohngebiete und Landwirtschaft zu einem einheitlichen System zu verschmelzen. Acht Hauptsiedlungs-Bänder mit einer durchschnittlichen Länge von je 25 Kilometern sollten entstehen. Die wichtigsten Chausseen sollten alle zum Metallurgie-Kombinat führen, jeder Bezirk sollte ausreichend über Versorgungseinrichtungen und Dienstleistungszentren verfügen. Jedes Band hätte ein Kulturzentrum mit Klub, Kultur- und Erholungszentrum erhalten. Außerdem sollte es einen zentralen Kulturpark und einen großen Verwaltungs- und gesellschaftlichen Mittelpunkt geben. Dieser Plan wurde allerdings nicht verwirklicht.3
Der II. Weltkrieg bzw. die Vorbereitung darauf und die beschleunigte Industrialisierung machten eine starke Konzentration der Kräfte in der Sowjetunion notwendig. Es muss noch weiter untersucht werden, inwieweit dies und andere Faktoren die Umgestaltung der sowjetischen Städte ins Stocken brachten.