(Zu) späte „Entschädigung“ für sowjetische Kriegsgefangene des Hitler-Faschismus

Der Haushaltsausschuss der Großen Koalition stimmte am 20. Mai einer „finanziellen Anerkennungsleistung“ für die noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zu. Eine im Grunde peinliche Geste: Von den damals über fünf Millionen Gefangenen leben heute noch etwa 4.000. Jeder von ihnen soll 2.500 Euro erhalten und damit glauben SPD und CDU/CSU offensichtlich, das deutsche Gewissen beruhigen zu können.

Bei der Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1945 kam Bundespräsident Joachim Gauck nicht umhin, an die Behandlung dieser Kriegsgefangenen als „eines der größten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs“ zu erinnern. Tatsächlich lebten im Mai 1944 von 5,16 Millionen gefangengenommenen sowjetischen Soldaten nur noch 1,8 Millionen – 473.000 wurden von den Faschisten als exekutiert verzeichnet, fast drei Millionen waren umgekommen und zwar zum größten Teil verhungert.1 Dies liege bis heute in einem „Erinnerungsschatten“, formulierte Gauck. Wäre er ehrlich gewesen, hätte er darstellen müssen, dass es sich bei diesem Schatten um die jahrzehntelange Verdunkelung durch die antikommunistischen Bestrebungen handelt.

Ein billiges Ablenkungsmanöver

Der moderne Antikommunismus versucht von diesen Verbrechen des deutschen Imperialismus abzulenken. So gibt es bis heute keinen Bericht zum Thema der sowjetischen Kriegsgefangenen und verschleppten Zwangsarbeiter, der nicht die Behauptung aufstellt, die überlebenden Rückkehrer seien in der Stalin’schen Sowjetunion diskriminiert, verachtet und verfolgt worden. Das geht so weit, dass in einem der zahlreichen Artikel, die dem Entschädigungsbeschluss vorausgingen, die Pfarrerin Elisabeth Wanjura dies als das „Allerschlimmste“ darstellte: „Sie kamen in Filtrationslager jenseits der Grenze der Sowjetunion und wurden von einer Sondergruppe des sowjetischen Geheimdiensts befragt. … Viele von ihnen wurden für 25 Jahre Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt.“2 Die Überprüfung dieser Sowjetbürger war demnach schlimmer als die Ermordung von Millionen ihrer Landsleute?!

Worum ging es tatsächlich? Zahlreiche Gefangene hatten versucht, dem Hungertod zu entkommen, indem sie sich „freiwillig“ zur faschistischen Wehrmacht meldeten – zumeist mit dem Ziel, bei der ersten Gelegenheit wieder zur Roten Armee überzulaufen. Allerdings gab es auch Kollaborateure, die für die Nazis arbeiteten, die eigenen Kameraden verrieten und dadurch am Leben blieben. Dies musste überprüft werden.

2004 wurde in Berlin der Verein „kontakte-kontakty“ gegründet, der seitdem über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen aufklärte und Spenden für die heute noch Lebenden sammelte. Der für den Verein tätige russische Historiker Dmitri Stratievski teilte auf Anfrage mit: „Den Richtlinien zufolge (es gab 1941–1945 insgesamt sieben Bestimmungen, Anm. d. Verf.) sollten nur diejenigen verhaftet und verurteilt werden, die mit den Deutschen kollaboriert hatten, und zwar ehemalige Offiziere der Polizei, ‚Volksmiliz‘ und ‚Volkswache‘, Wlassow-Armee, nationalen Legionen und ähnlichen nazitreuen Einheiten, die sich an Razzien und Kampfeinsätzen beteiligt hatten, Überläufer aus der Roten Armee, ehemalige Bürgermeister und Beamte der Besatzungsverwaltung, Dorfälteste etc. Die gemeinen Angehörigen der Kollaborationseinheiten, die nicht aktiv waren und keine Kriegsverbrechen begangen hatten, unterlagen einer separaten Sonderprüfung, allerdings nach dem gelockerten Modus. … Der Stalin vorgelegten Bescheinigung ,Ergebnisse der Überprüfung und Filterung der Repatriierten, Stand 1. März 1946‘ nach (heute als Archivunterlage für Historiker zugänglich) wurden 14,69 Prozent der befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen direkt vom NKVD mit Strafmaßnahmen belegt …“3

Bereits in seinem 2006 zuerst in England veröffentlichten Buch „Stalins Kriege“ hatte der Historiker Geoffrey Roberts dazu absolute Zahlen angegeben. Ihnen zufolge waren von der Gesamtzahl der Heimkehrer (Soldaten und Zivilisten) 15 Prozent betroffen und zwar durch Rekrutierung in die „Arbeitsbataillone“ sowie – bei der knappen Hälfte von diesen – durch weitere Bestrafung durch den NKWD: „Alle Heimkehrer mussten sich in Transitlagern vom NKWD befragen lassen. Von den schätzungsweise 4 Millionen Heimkehrern waren 2,5 Millionen Zivilisten und 1,5 Millionen ehemalige Kriegsgefangene. Von den 4 Millionen wurden 2,6 Millionen nach Hause entlassen, 800.000 wieder in die Armee eingezogen, 600.000 in Arbeitsbataillone des Verteidigungsministeriums gesteckt, 270.000 eines Fehlverhaltens oder Verbrechens für schuldig befunden und zur Bestrafung dem NKWD übergeben. 89.000 blieben als Personal in den Transitlagern, bis in den frühen Fünfzigerjahren das Verfahren aufgegeben wurde.“4

Das heißt, knapp 7 Prozent wurden eines Verbrechens oder Fehlverhaltens überführt. Von einer pauschalen Bestrafung kann somit keine Rede sein. Die Sowjetunion verfolgte Kriegsverbrechen in den eigenen Reihen und Kollaboration mit dem Faschismus ebenso konsequent wie den Kampf gegen den Faschismus selbst.

Wer dieses Vorgehen als das „Allerschlimmste“ bezeichnet, hat keine Ahnung oder wird von schierem Hass auf die Sowjetunion getrieben. Die offizielle Sterblichkeit sowjetischer Gefangener in deutschen Lagern lag bei 57,5 Prozent. Bei amerikanischen und britischen gefangenen Soldaten nur bei 3,5 Prozent.

Selbstverständlich ist es ein Erfolg, dass nun doch noch eine – wenn auch geringe – Entschädigung an die wenigen noch Lebenden gezahlt wird. Zur tatsächlichen Schuldanerkenntnis des deutschen Imperialismus müsste allerdings auch eine Entschuldigung für die antikommunistischen Verleumdungen gehören, doch damit ist kaum zu rechnen.

 

 

1 siehe in: Alexander Blank – „Die deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR“, Köln 1979, S. 7

2 „Stuttgarter Zeitung“, 5. Mai 2015, S. 23

3 E-Mail vom 18. September 2009

4 siehe in: Geoffrey Roberts – „Stalins Kriege. Vom Zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg“, Berlin 2008, S. 374/375)