Es geht um Solidarität mit Menschen, die kämpfen!

Zweiter Teil des Interviews mit Nilüfer Koç, Ko-Vorsitzende des Kurdischen Nationalkongresses, einem Zusammenschluss von 45 kurdischen Organisationen vom 25. August 2014. Nilüfer Koç befindet sich gegenwärtig in Erbil (Irakisch-Kurdistan).

In der letzten Ausgabe der „Roten Fahne“ haben wir den ersten Teil des Interviews mit Nilüfer Koç abgedruckt. Sie berichtete darin unter anderem, wie die bewaffneten Kräfte der Kurden aus Nordsyrien (Rojava) und der Türkei den Kampf gegen die islamisch-faschistische ISIS/IS aufgenommen haben. Dies und nicht die Luftangriffe der USA war entscheidend, um die ISIS-Angriffe auf die Menschen in Sindschar zu stoppen. „Dieser Krieg ist ein Krieg gegen die Völker, gegen die Frauen hier in der Region“, so Nilüfer Koç. Ein Krieg gegen einen neuen „arabischen oder kurdischen oder syrischen Frühling“. Hier der zweite Teil des Interviews.

Welche Forderungen stellt der Kurdische Nationalkongress besonders an die europäischen Regierungen? Von Seiten der MLPD treten wir für ein Verbot aller faschistischen Organisationen, also auch von ISIS/„IS“ ein. Das PKK-Verbot muss dagegen aufgehoben werden.

Wir haben es momentan in Irakisch-Kurdistan mit 1,5 Millionen Binnenlandsflüchtlingen zu tun. Das gesamte Land Kurdistan ist überfordert mit den Flüchtlingen. Humanitäre Hilfe ist zwar willkommen, aber wir müssen das Problem radikal angehen, das heißt, die UN und die Staatengemeinschaft müssen die Staaten verfolgen, die die ISIS unterstützen. Das heißt, rechtliche, diplomatische Maßnahmen müssen ergriffen werden gegen solche Staaten. Wir sind auch der Ansicht, dass man die ISIS und die Staaten dahinter vor das Gericht nach Den Haag bringt, weil die ISIS Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausübt. Speziell an Frauen, aber auch gegen die gesamten Völker hier. Hier gibt es einen Verstoß gegen das internationale Recht der Genfer Kriegskonvention und das muss auch auf internationaler Ebene thematisiert werden.

Wir müssen dagegen eintreten, dass die europäische Politik eine selektive Haltung gegenüber Kurden einnimmt, insbesondere weiterhin eine diskriminierende Haltung gegenüber der PKK. Hier sieht die Welt anders aus, die PKK wird hier in Irakisch-Kurdistan als Garantie für die Sicherheit gesehen. Es ist eine selektive Politik, als Bestandteil der „Teile-und-Herrsche“-Politik die Kurden zu spalten und zu sagen, diese Partei ziehen wir der andern vor. Das ist eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Kurden mit der Absicht, sie zu schwächen, zu verhindern, dass die Kurden gemeinsam eine Friedensstrategie entwickeln können. Deswegen ist das auch eine internationalistische Angelegenheit, diese selektive Politik zu verhindern, diese „Spalte-und-Herrsche“-Politik. Ich denke, da ist es mehr angesagt, den Dialog aufzunehmen und diese ganzen Anti-Haltungen von den Listen, Verbote, die müssten sofort rückgängig gemacht werden. Ich denke, Fakt ist, dass die PKK in der Lage war, die ISIS zu überwinden und jeder, der daran interessiert ist, diesen Terrorismus zu bekämpfen, muss eine andere Haltung der PKK gegenüber aufweisen, das ist meine Forderung an die diplomatische Politik jetzt.

Welches Lösungskonzept verfolgt der Kurdische Nationalkongress?

Wir werden nicht nur uns selbst als Kurden schützen, sondern es liegt auch in unserem Verantwortungsbewusstsein, alle anderen Völker dazu zu motivieren, dass sie sich selber verteidigen können, das heißt, Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Es kann nicht darum gehen, dass wir die gesamte kurdische Gesellschaft jetzt militarisieren. Deswegen ist es wichtig, dass jetzt alle anderen Völker, die hier leben, in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen, aber in organisierter Form. Und deshalb finden wir auch die Strategie richtig, die die PKK allen als Vorschlag unterbreitet hat, sich selbst zu organisieren. Nicht nur die Kurden, sondern auch die christlichen Minderheiten hier, die Schiiten usw. Wir haben es mit sehr vielen Religionsgemeinschaften zu tun, mit sehr vielen ethnischen Gruppen, die teils zahlenmäßig zwar sehr klein sind, aber seit Jahrtausenden hier mit uns zusammen leben, und die haben das Recht zu existieren. Und für das Recht der Existenzen muss eine Verteidigungsstrategie entwickelt werden und diese muss auch koordiniert werden. Verteidigung darf nicht immer im militärischen Sinne begriffen werden. Eine Verteidigungspolitik sieht auch die Aufklärung vor. So können Präventivmaßnahmen ergriffen werden. Die politische Führung muss die Gesellschaften über Hintergründe dieses Krieges aufklären. Nur so kann die ISIS verstanden und bekämpft werden.

In Rojava lag der Erfolg darin, dass die politische Führung der Kantone eine transparente Politik und Aufklärungsarbeit geleistet hat. Zum anderen haben die Menschen in der Solidarität die Stärke gefunden. In Rojava haben die Kurden, Assyrer und Araber zusammengehalten. Die ISIS hat hier keinen Nährboden finden können.

Unser Vorschlag ist, dass wir eine nationale Konferenz einberufen in Irakisch-Kurdistan mit allen Völkern und Religionsgemeinschaften. Für uns ist mit „national“ nicht ethnisch-kurdisch gemeint. Sondern eine Nation bedeutet für uns, mit allen, die hier leben, seit Jahrtausenden das Leben mit uns teilen, zusammen eine Strategie der Verteidigung und des Friedens zu entwickeln. Wir brauchen Frieden hier in dieser Region und durch die ISIS soll die Völkerfreundschaft verhindert werden. Die ISIS ist ein Instrument der klassischen „Teile-und-Herrsche“-Politik. Es wird geteilt, gespalten, Völker werden gegeneinander aufgehetzt. Wir müssen das verhindern und nur so können wir Stabilität in die Region bringen und da spielt Kurdistan, sowohl in Syrien als auch im Irak, gerade jetzt eine zentrale Rolle. Das heißt, jede Strategie, die wir hier entwickeln, wird den gesamten Mittleren Osten beeinflussen, positiv oder negativ, es kommt darauf an, wie die Kurden diese Thematik behandeln werden.

Die ICOR, das ist die „International Coordination of Revolutionary Parties and Organizations“. Sie hat gegenwärtig 45 Mitglieder in aller Welt und ein Grundgedanke ist, dass es nie wieder passieren darf, dass eine antiimperialistische oder revolutionäre Bewegung erstickt wird, weil sie zu wenig Solidarität hat. Die ICOR hat schon die letzten Jahre viel Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf entwickelt. Welche Solidarität von revolutionären Parteien und Organisationen auf der Welt braucht euer Kampf?

Zunächst ist der Kampf, den wir hier als Kurden führen, sowohl in Rojava als auch in Irakisch-Kurdistan, ein Kampf, um zu verhindern, dass Völkerfeindschaft entwickelt wird. Da wir ein Kurdistan sind, wollen wir unser eigenes Modell, unseren eigenen Mantel nähen mit unserem Konzept der demokratischen Autonomie. Unser Kampf ist zugleich auch ein Kampf gegen die Expansionsbestrebungen des Neoliberalismus, daher ist es ein gemeinsamer Kampf. Die ISIS ist ein Instrument, mit der die Machthabenden einen neuen Mittleren Osten entsprechend ihren Interessen installieren wollen. Es wird versucht, über die ISIS mit ihrer psychologischen Kriegsführung die Politik der Vertreibung sesshafter Völker aus ihren Gebieten und Schaffung eines „sunnitisch-arabischen Gürtels“ durchzusetzen.

Wir müssen verhindern, dass das Bild der ISIS als unschlagbare und unüberwindbare Macht zu sehr aufgebaut wird. Dies ist nämlich eine weitere Absicht der Machthabenden. Das Beispiel Rojava hat gezeigt, dass die ISIS schlagbar ist. Dabei war Rojava anhand der militärischen Ausrüstung sehr schwach. Rojava hat gewonnen, da die Menschen auf den Geschmack der Freiheit gekommen sind. ISIS hat gegen diese Freiheit gekämpft, aber verloren. Die Demokraten und Linken sollten mehr über Rojavas Erfahrung und Experiment der Völker sprechen, als über den inszenierten Terror. Ich denke daher, eine offizielle Anerkennung der demokratischen Autonomie Rojava wäre eine große Unterstützung für den Kampf der Menschen dort. Es wäre wichtig, wenn die ICOR ganz offiziell Rojava unterstützt und es anerkennt. Das zum Ersten.

Zweitens denke ich anhand der Krise in Irakisch-Kurdistan, es ist zwar jetzt ruhig, aber es gibt keine Garantie, dass es nicht morgen wieder losgeht mit der ISIS hier. Deswegen ist es wichtig, dass die ICOR z. B. auch in ihrem politischen Handeln sehr flexibel ist. Das heißt, dass zum Beispiel eine sofortige Sitzung einberufen und kurdische Vertreter eingeladen werden, um dort gemeinsam zu diskutieren, was gemacht werden kann. Die EU hat auch alle ihre Politiker aus dem Urlaub gerissen und zu einer Sondersitzung hinsichtlich Irak einberufen.

Ich denke drittens, alle Mitgliedsparteien, die unter dem Dach der ICOR organisiert sind, sollten in ihren Ländern mehr Öffentlichkeitsarbeit leisten und ein Auge auf Rojava als erfolgreich konkretisierte Umsetzung der Forderungen der Menschen des arabischen Frühlings werfen. Dabei sollten sie vor allem betonen, es geht hier um Solidarität mit Menschen, die kämpfen! Das wird auch den Kampf anderswo stärken, die Massen, die Bevölkerung, die auf der Suche nach einer gerechteren, einer besseren Welt sind. Ich denke, unser Kampf hier kann auch eine Unterstützung für den Kampf anderswo sein. Und dieser Kampf ist auch eine Stärkung für uns zugleich. Denn Rojava ist ein Versuch der Freiheit für unterdrückte Völker und Frauen!

Herzlichen Dank für das Interview und viel Erfolg!

Das Gespräch führte Peter Weispfenning