„Ein Großteil der Bevölkerung wird den Tod so vieler Menschen nicht verzeihen“
Interview mit Genossen der ICOR-Mitgliedsorganisation KSRD – Koordinierungsrat der Arbeiterbewegung der Ukraine, vom 29. Juli 2014 – 1. Teil
Wie ist die aktuelle Entwicklung?
Die Angriffe wurden von der ukrainischen Regierung sehr, sehr verschärft. Gestern gab es harte Kämpfe in Perevalsk und Pervomaijsk. Das sind industrielle Zentren mit großen Fabriken und großer Arbeiterbevölkerung. Außerdem ist Perevalsk ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Perevalsk ist traditionell ein Ort wichtiger Kämpfe des Vordringens des Westens gegen den Osten.
Die ukrainische Armee versucht die beiden Republiken, Donezk und Lugansk, voneinander zu trennen. Deswegen gehen sie gerade dort mit aller Stärke vor. Die ukrainische Propaganda behauptet, dass die Lugansker Republik gegen die Ukraine kämpft und dass die Menschen nur der verlängerte Arm Putins wären.
Wie reagieren die Arbeiter an diesen Orten auf die Angriffe des Kiewer Regimes?
Einerseits lieben sie das Kiewer Regime überhaupt nicht, das zu ihnen mit Waffen kommt, schießt, tötet usw. Sodass eine Versöhnung mit diesem Regime wahrscheinlich nicht möglich sein wird. Andererseits mag die Arbeiterbevölkerung in diesen Städten auch nicht die Mächte, die jetzt dort sind. Mächte, die dort mit Hilfe Russlands installiert worden sind. Weil die russischen eingesetzten Leute versuchten, alle Kräfte zu verdrängen, die im Lauf der Proteste entstanden sind.
Die Bevölkerung ist nicht gegen Russland. Russland ist nicht in das Land einmarschiert. Russland bombardiert die Bevölkerung nicht. Doch die von den Russen installierten Regimes der beiden Republiken Donezk und Lugansk werden von der Bevölkerung als Abenteurer angesehen. Die russischen Mächte, meinen sie, würden wahrscheinlich besser sein, weil es dann bessere soziale Verhältnisse gäbe. Doch diese Leute in den Republiken versuchen, von den Problemen abzulenken. Auf die Frage nach Wasser, Arbeit in den Fabriken, Renten antworten sie, dass später Russland helfen wird. Aber wie ist es jetzt? Deswegen fliehen immer mehr Menschen von hier, die Mehrheit nach Russland. Es sind schon 30.000 bis 40.000 Leute nach Russland geflohen.
Was erwartet die Bevölkerung von der Zukunft? Was meinst du über den möglichen Ausgang des Kriegs?
Was den Ausgang des Krieges betrifft, gibt es verschiedene mögliche Szenarien.
1. Offiziell erhalten die ukrainischen Truppen keine Unterstützung des Westens. Sie erhalten aber Hilfe von Polen, Polizei aus den Niederlanden, es werden auch weitere Polizeieinheiten versprochen.
Was die Kampfkraft der Kommandeure der Donbass-Republiken angeht, sie werden verlieren. Doch wird ein Großteil der Bevölkerung nicht den Tod so vieler Menschen verzeihen. Und ein Teil der Waffen ist nach wie vor in ihren Händen. Deswegen wird der Kampf noch lange andauern. Jetzt versuchen die russischen Kommandeure, den Kampf der lokalen Aufständischen am Ort einzugrenzen. Aber wenn es diese russischen Kommandeure nicht mehr gibt, werden die Menschen nach Kiew zu den Verantwortlichen gehen.
2. Für das russische Regime ist die Vernichtung dieser Republiken nicht nützlich. Nützlich wäre für sie, eine bestimmte Zone der Instabilität jenseits ihrer Grenzen zu hinterlassen. Sie werden ihre Marionetten weiter nähren. Das heißt, die abhängigen Kommandeure werden weiter Waffen in der Hand haben. Sie rechnen auf die wirtschaftliche und politische Schwäche der Ukraine, weil die Wirtschaft der Ukraine den Krieg nicht aushalten wird. Sie ist so schon sehr schwach.
Aber ob sie sich auf dem Territorium des Donbass weiter halten können, ist sehr zweifelhaft. Denn in einem großen Teil des Gebiets beginnt die Bevölkerung, eine Änderung der sozialen Politik, der sozialen Programme zu verlangen. Da heißt es dann, dass die Änderung jetzt nicht möglich ist, weil Krieg herrscht. So sieht es danach aus, dass die jetzige Situation noch sehr lange anhält in den Großstädten Donezk und Lugansk.
Die Variante, auf die die russischen „Patrioten“ hoffen, dass Russland direkt Truppen schickt, ist eher unwahrscheinlich.