Leserforum: Die Dinosaurier und die Dialektik
Sehr geehrter Herr Engel,
in dem Interview, das Sie der „Roten Fahne“ Nr. 12/2014 gegeben haben, … sprachen Sie davon, dass die genaue Ursache für das Aussterben der Dinosaurier vor circa 65 Millionen Jahren immer noch unklar sei, aber ihm auf jeden Fall eine Naturkatastrophe zugrunde liegt, ob nun Asteroideneinschlag oder Vulkanausbruch. (…)
Ein solches Geschehnis wie ein Asteroideneinschlag oder ein gigantischer Vulkanausbruch kann sicherlich für einige Jahre oder Jahrzehnte die Lebensbedingungen beträchtlich verschlechtern und isolierte oder geschrumpfte Populationen vernichten.
Aber einzelne Arten oder sogar Gattungen können in dieser kurzen Zeitspanne kaum ausgelöscht werden. Wohlgemerkt, wir sprechen von den Epochen des Erdzeitalters, die einander ablösen. Der Übergang bemisst sich mindestens nach Jahrtausenden, wenn nicht sogar nach Jahrzehntausenden oder nach Hunderttausenden Jahren. Weiter sei darauf hingewiesen, dass nicht alle Reptilien ausgestorben sind, obwohl sie alle auf ähnliche Bedingungen wie die Saurier zum Überleben angewiesen sind. (…)
Die Annahme einer Vernichtung der Dinosaurier durch eine kosmische Katastrophe widerspricht der Darwinschen Evolutionstheorie. Nach dieser entwickelt sich das Leben in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Umwelt (…) vom niederen zum höheren, vom Einzeller im Urmeer bis zum Homo Sapiens. Marx und Engels kennzeichneten diese Theorie als Anwendung der dialektischen Methode auf die Natur.
Eine Naturkatastrophe ist ein zufälliges, weder vorhersehbares noch beeinflussbares oder gar abwendbares Ereignis. Aber sie kann die Entwicklungsgesetze der Natur nicht aufheben und ihre Wirkung entfaltet sich nur in deren Rahmen. Auf obigen Fall angewendet: Der Asteroideneinschlag respektive Vulkanausbruch vermag nur zu vernichten, was bereits am Aussterben ist. (…) Das höhere Leben wurde zu dieser Zeit schon von den Vögeln und den Säugetieren repräsentiert, die sich aber gegen die Dinosaurier noch nicht durchsetzen konnten, aber nur auf freie Bahn warteten, um es in vielleicht allzumenschlichen Begriffen auszudrücken.
Wie jede Lebensform, wie jede Tiergattung haben die Dinosaurier ihre Zeit gehabt. Sie haben sich von vergleichsweise primitiven Reptilien zu hochkomplexen Tieren entwickelt, die jeden Lebensraum zu nutzen verstanden. Was die Natur nur in ihnen hervorbringen konnte, hat sie hervorgebracht. Am Ende der Kreidezeit war dieses Potenzial ausgeschöpft, es begann der Herbst dieser Gattung – ihr allmähliches Verwelken –, dem rasch der Winter – das schnelle Aussterben – folgte. (…)
Die Theorie vom Aussterben der Dinosaurier durch eine Katastrophe wird vom SPIEGEL und ähnlichen Medien mit Bildungsanspruch unter die Leute gebracht. Sie ist im Grunde nicht neu. Schon vor zweihundert Jahren vertrat der bedeutende französische Gelehrte Cuvier eine ähnliche Theorie, nach der das Leben in bestimmten Zeitabläufen immer fast komplett vernichtet wurde. Er tat das, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit mit dem religiösen Idealismus der Bibel zu versöhnen, die ja eine große, alles Leben auslöschende Katastrophe erwähnt: die Sintflut.
Und in der Tat: die kosmische oder Naturkatastrophe als Ereignis der Lebensvernichtung und -begründung ist unvereinbar mit einer gesetzmäßigen Entwicklung der Natur. In der Katastrophe waltet eine unerkennbare Kraft, von der die Menschen nur hoffen können, dass sie sie leidlich verschont, und die, wenn sie benannt werden muss, wohl am ehesten das Attribut „Gott, Allah“ usw. verdient.
Eine Umweltkatastrophe, die von Menschen gemacht wird und die letztlich keine natürlichen, sondern soziale Ursachen hat, lässt sich meines Erachtens kaum mit dem Aussterben der Dinosaurier vergleichen. Ich finde, dass Sie da ungewollt einige Zugeständnisse an die Vertreter eines „intelligent design“, an Kreationisten und ähnliche Feinde der Darwinschen Evolutionstheorie gemacht haben. (…)
Mit freundliche Grüßen, N. B.
Antwort von Stefan Engel
Sehr geehrter Herr B.,
(…) Ihre Kritik berührt eine Grundfrage der materialistischen Dialektik: das Wechselverhältnis von inneren Gesetzmäßigkeiten und äußeren Bedingungen sowie zwischen gesetzmäßigen Entwicklungen und zufälligen Erscheinungen.
Ihre Kernthese ist: Naturkatastrophen – gleichgültig welcher Ursache und Art – können nicht die Ursache der Lebensvernichtung einer ganzen Gattung wie zum Beispiel der Dinosaurier sein. (…)
Dieser Standpunkt widerspricht den nachweisbaren Realitäten und Gesetzmäßigkeiten der Geschichte des Lebens in der Biosphäre – und damit auch den Gesetzen der materialistischen Dialektik:
Unzweifelhaft gab es in der Geschichte des Lebens nicht nur Prozesse der allmählichen Entwicklung und des allmählichen Absterbens aufgrund der inneren Gesetzmäßigkeiten der Evolution, sondern auch einschneidende Entwicklungen, die von außen durch Zufälligkeiten herbeigeführt wurden: So gab es mindestens fünf gigantische Naturkatastrophen mit einem gewaltigen Massensterben der Natur in erdgeschichtlich vergleichsweise kürzester Zeit, bei denen jeweils mindestens 40 Prozent aller Gattungen ausstarben.
Die evolutionäre Entwicklung ist an äußere Bedingungen geknüpft, die ihre materielle Grundlage bilden. Missachten Sie in Ihrem Brief nicht die grundlegende Dialektik von gesetzmäßiger Entwicklung und materiellen äußeren Bedingungen?
Bei dem in meinem Interview angesprochenen Massensterben an der Kreide-Tertiär-Grenze vor 65 Millionen Jahren handelte es sich um ein solches Ereignis. Ihm fielen 75 Prozent der Meeresbewohner und 18 Prozent der am Land lebenden Wirbeltiere zum Opfer – darunter auch ein Großteil der Dinosaurier. Hier wurde die natürliche Evolution – unabhängig von ihren konkreten inneren Gesetzmäßigkeiten – durch das äußere Ereignis einer Naturkatastrophe jäh gestoppt – nämlich dem Einschlag eines gigantischen Meteoriten auf der Erdkruste.
Zweifellos haben Sie Recht, dass diese äußere Naturkatastrophe vermittelst der inneren Gesetzmäßigkeiten der Evolution eine je unterschiedliche konkrete Wirkung entfaltet:
Zum einen haben diese Naturkatastrophen die Umweltbedingungen für das Leben auf diesem Planeten so weitgehend verändert, dass die grundlegenden Bedingungen für den Fortgang der Evolution vieler Lebewesen verschwanden.
Zum anderen haben bei diesen Naturkatastrophen aber auch die Arten überlebt, die mit diesen einschneidenden Veränderungen der Natur am besten zurechtkamen. Die Naturkatastrophe hat so auch neue Evolutionsprozesse in Gang gesetzt: Andere Gattungen konnten die durch das Verschwinden der bisher dominierenden Dinosaurier entstandene „Lücke“ in der Natur für ihre Entwicklung nutzen.
(…) Im Unterschied zu den historischen Naturkatastrophen, die natürliche Ursachen hatten, ist die heute drohende Umweltkatastrophe wesentlich von Menschenhand gemacht – und kann und muss daher auch noch von Menschenhand verhindert werden.
Mit solidarischen Grüßen
Stefan Engel