Ukraine: „Ein nicht kleiner Teil lehnt jede imperialistische Einmischung ab“

Interview mit zwei Genossen der ICOR-Organisation „Koordinierungsrat der Arbeiterbewegung“ (KSRD) aus der Ukraine

Die deutsche Regierung arbeitet mit der ukrainischen „Übergangsregierung“ zusammen, also auch mit Faschisten von „Svoboda“ und dem „Rechten Sektor“. Wie wird das unter den Massen in der Ukraine wahrgenommen?

Andreij: Es gibt unter den Massen der Ukraine eine starke prowestliche Stimmung, eine unkritische Haltung gegenüber der EU. Aber es gibt auch nicht unerhebliche Teile, die gegen die aktuelle prowestliche Regierung und gegen die EU eingestellt sind.

Man muss „Svoboda“ und den „Rechten Sektor“, die am Sturz der Janukowitsch-Regierung beteiligt waren, als provokative Kräfte bezeichnen. Svoboda ist gegen die alte Regierung aufgetreten. Aber der „Rechte Sektor“ ist eine Struktur, die von außen in diese Bewegung getragen wurde. Diese Organisation besteht aus nicht mehr als 200 Menschen und es gibt Vermutungen, dass sie in die Schüsse auf dem Maidan-Platz im Februar verwickelt sind. Man weiß auf jeden Fall, dass sowohl Polizisten als auch Demonstranten aus den gleichen Waffen erschossen wurden. Wir wissen, dass ausländische Mächte viel Einfluss auf diese Leute vom „Rechten Sektor“ haben. Es ist schwer einzuschätzen, aber objektiv haben deren Aktionen der russischen Seite in die Hand gespielt.

Sie sind an der Regierung beteiligt, aber man kann nicht davon sprechen, dass jetzt eine besonders „rechte“ oder gar faschistische Regierung installiert wurde. Es handelt sich um einen Übergang der Regierung von einem Teil der Oligarchie zu einem anderen Teil dieser führenden Gruppe des Finanz- und Industriekapitals.

 

Die deutschen bürgerlichen Medien vermitteln den Eindruck, die ukrainische Bevölkerung stünde hinter der aktuellen Regierung und der EU. Erlebt ihr das auch so?

Andreij: Es war der Maidan und diese Bewegung, die das Janukowitsch-Regime gestürzt haben. Die Bevölkerung stand zu großen Teilen hinter dieser Bewegung, weil sie gegen dieses Regime waren. Auf dem Höhepunkt waren 50.000 Menschen auf dem Maidan. Aber die neue Regierung betrügt die Bevölkerung in Bezug auf deren Interessen und Wünsche.

 

Wie muss man die aktuelle Entwicklung in der Ostukraine beurteilen?

Andreij: Ein Teil der Menschen in der Ostukraine ist für die Einheit des Landes. Das heißt aber keineswegs automatisch, dass sie für die EU sind. Der andere Teil der Bevölkerung ist für Russland.

Anatolij: Wenn es bei euch so dargestellt wird, dass alle, die gegen Russland sind, für die EU wären, ist das falsch. Ein nicht kleiner Teil der Leute in allen Teilen der Ukraine lehnt Einmischungen von beiden imperialistischen Seiten ab. Sie wollen, dass die Ukraine nicht geteilt wird, sondern ein einheitliches Land bleibt. Das bedeutet aber nicht, dass sie deswegen für „den Westen“ sind.

 

Wie schätzt ihr die Kriegsgefahr ein?

Anatolij: Bei solchen Entwicklungen gibt es immer eine Kriegsgefahr. Wenn die Ukraine sich nicht dagegen wehrt, wird Russland sich weitere Teile des Landes im Osten aneignen. Ich denke, dass es dazu auch bereits Absprachen mit dem „Westen“ und der ukrainischen Übergangsregierung gibt.

Andreij: So gab es ja auch keinerlei Widerstand von Seiten des neuen ukrainischen Regimes gegen die Okkupation der Krim durch Russland. So bekommt man den Eindruck, dass so etwas auch in den östlichen Landesteilen möglich ist. Ähnlich ist es auch schon 2008 in Ostossetien gelaufen, das Russland von Georgien abgespalten hat. Der „Westen“ hat auch damals nur sehr schwache, zeitlich begrenzte Sanktionen angedroht.

 

Ihr geht also davon aus, dass sich die Imperialisten einigen können?

Andreij: Wir wissen nicht, welche Absprachen im Hintergrund bereits gelaufen sind. Putin nimmt Einfluss auf die verschiedensten Regierungen in Europa. Denkbar ist eine Teilung der Ukraine. Aber auch, dass die gesamte Ukraine wieder unter den Einfluss Russlands kommen wird.

Anatolij: Der „Westen“ hat der Ukraine keinerlei Hilfe gegen die Okkupation der Krim durch Russland geleistet.

Andreij: Es gibt die Möglichkeit aufstandsähnlicher Unruhen von Kräften, die uniformiert sind, aber keine Hoheitszeichen der russischen Armee tragen. Es wird so dargestellt, dass es ein Aufstand des Volkes sei. So gingen die kurzzeitig ausgerufenen sogenannten „Volksrepubliken“ wie in Donezk offiziell nicht von Russland aus, sondern von der ukrainischen Bevölkerung. Einen formalen Kriegsgrund könnte es also nicht geben, auch wenn das Ganze in Wirklichkeit ohne russische Unterstützung so nicht stattfinden könnte.

 

Wie gelingt es euch, in dieser Auseinandersetzung den KSRD zu stärken?

Andreij: Es wäre gewagt zu sagen, man könnte den KSRD jetzt stärken. Es ist zum Beispiel unmöglich, mit roten Fahnen auf den Maidan zu gehen, weil es dann unweigerlich zu Zusammenstößen mit den dortigen Kräften kommen würde. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die roten Fahnen als Symbol der revisionistischen Partei, der KP Ukraine, gesehen werden. Und die KP unterstützt Russland.

Anatolij: Genossen des KSRD haben auf der Krim versucht, gegen das Referendum aufzutreten und wurden gewalttätig attackiert.

Bis zum Referendum war es so, dass die Bevölkerung fast vollständig für den Anschluss an Russland war – man kann sagen wie benebelt. Aber schon kurz danach haben sie gemerkt, dass sie jetzt in einem anderen Staat gelandet sind. Es herrscht zwar kein Kriegsrecht, aber es sind jetzt russische Gesetze, mit denen sie zu tun haben. Sie haben neue Pässe bekommen, in denen manchmal Städte standen, in denen sie gar nicht wohnen. Es gibt viele, die auf der Krim wohnen, aber in der Ukraine arbeiten oder andersherum und jetzt Probleme haben.

Busfahrer, die seit vier Monaten keinen Lohn erhalten hatten, zogen – wie in der Vergangenheit üblich – vor das Verwaltungsgebäude. Sie hatten es jetzt aber plötzlich mit Vertretern der russischen Macht zu tun. Diese erklärten ihnen, es gelten jetzt die russischen Gesetze auf der Krim. Deshalb sei es nicht erlaubt, dass mehr als fünf Personen zusammenstehen. Sie wurden aufgefordert, wieder an die Arbeit zu gehen, es wurde nicht akzeptiert, dass der öffentliche Nahverkehr zum Stillstand kam. Weil sie bewaffneten Kräften gegenüberstanden, konnten sie auch nichts machen.

Die Krim-Tataren wollen weiter Bürger der Ukraine sein, obwohl sie auch von Russland unterstützt werden. Russland tut überhaupt derzeit einiges, um die Menschen für sich zu gewinnen. So wurden zum Beispiel die Löhne für drei Monate ausbezahlt. Aber die Menschen werden auch vor die Wahl gestellt: Entweder ihr nehmt die russische Staatsbürgerschaft an oder ihr müsst die Krim verlassen.

 

Welche Alternative seht ihr für die Arbeiterklasse und Massen jenseits des russischen und des westlichen Imperialismus?

Anatolij: Es ist notwendig, sich zu vereinen, sich zusammenzuschließen, um die Regierungsmacht zu stürzen, egal ob sie vom „Westen“ oder vom „Osten“ unterstützt wird.

Andreij: Die Aufklärungsarbeit ist ganz wichtig. Die Menschen müssen davon wegkommen, zu glauben, sie müssten entweder für die eine imperialistische oder die andere imperialistische Seite sein. Diese Stimmung „entweder oder“ ist noch sehr stark verbreitet. Wichtig ist, sich stattdessen auf die eigenen Interessen zu besinnen.

 

Wie macht ihr diese antiimperialistische Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit sowie antirevisionistische Arbeit?

Andreij: Es gibt einen Prozess, dass die Menschen für diese Argumentation aufgeschlossen sind. Es gibt aber auch reale Probleme. Zum Beispiel sind die Papierpreise um das Zweieinhalbfache gestiegen. So reicht das Geld nicht immer, um unsere Zeitung dem Bedarf entsprechend zu produzieren.

 

Möchtet ihr den Arbeitern in Deutschland noch etwas sagen?

Anatolij: Ja, glaubt nicht den Lügen und Versprechungen der Herrschenden. Glaubt ihnen nicht, wenn sie sagen, sie würden eure Interessen in Afghanistan verteidigen.

 

Ihr müsst wissen, dass es auch in Deutschland eine wachsende Stimmung gegen die EU gibt …

Andreij: Es ist wichtig für die Massen zu wissen, dass die EU kein Paradies ist. Das müssen wir auch verbreiten. Die Leute hören zum Beispiel, wie hoch die Löhne in Deutschland sind. Sie wissen aber nicht, dass auch die Lebenshaltungskosten, Mieten usw. auf einem ganz anderen Niveau sind als bei uns. Darüber müssen wir aufklären. Wir halten es zum Beispiel für sehr zukunftsweisend, dass die Autobelegschaften der verschiedenen Länder sich gegenseitig unterstützen und informieren. Dass man weiß, wie das Leben in den anderen Ländern ist, aber sich auch gegenseitig unterstützt. Wir müssen verhindern, dass es eine Feindschaft zwischen den Völkern gibt, weil die einen die anderen für reich halten oder ähnliches. Natürlich müssen wir auch einen Krieg verhindern. Ausbaden müssten einen solchen Krieg vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Herrschenden machen sich dabei nicht die Finger schmutzig.

Vielen Dank für das Interview!