Arbeiterunruhen und Massendemonstrationen in Bosnien-Herzegowina
Seit einigen Tagen gehen Bilder von Straßenschlachten, Demonstrationen und brennenden Regierungsgebäuden in Bosnien-Herzegowina durch die Medien. Gleichzeitig gibt es Massendemonstrationen. Von Bedeutung ist, dass in der Entwicklung ein politischer Gärungsprozess reift, der seinen Ausgangspunkt in der Arbeiterbewegung hat. Es entwickeln sich neue Elemente im proletarischen Klassenbewusstsein und in den Kämpfen.
In einem Fünf-Punkte-Katalog fordern die Demonstranten unter anderem, dass die Politikergehälter dem Durchschnittslohn der Werktätigen angepasst werden, der bei 420 Euro liegt. Und: Mandatsträger, die zurückgetreten sind oder abgewählt werden, sollen kein Geld mehr kriegen. Diese Forderung greift einen Grundgedanken der Pariser Kommune auf. Eine Massenkritik entwickelt sich an Korruption und Privatisierung früherer Schlüsselindustrien.
Ausgangspunkt sind die Industriearbeiter aus Tuzla
Seit Monaten haben hunderte Arbeiter in Tuzla jeden Mittwoch vor der Kantonsregierung gegen die Vernichtung von bis zu 10.000 Arbeitsplätzen, für die Auszahlung ihrer Löhne und gegen Armut protestiert. Am letzten Mittwoch verbreiterte sich der Protest und es schlossen sich weitere Arbeiter, Arbeitslose, Rentner, Studenten und Schüler, später auch ihre Eltern an.
Am Donnerstag kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, als diese vorgeblich die Stürmung des Kantongebäudes verhindern wollte. Tatsächlich griff die Polizei aus heiterem Himmel mit Tränengas und Schlagstöcken die Demonstranten an. Die Demonstrationen in Tuzla wuchsen auf 10.000 Beteiligte an und die Bewegung griff auf über 30 größere Städte und industrielle Gebiete des Landes über. Die Medien zählten bis zu 600.000 Menschen. „Nehmt die Aasgeier fest“, riefen die Demonstranten in der Hauptstadt Sarajevo. An den Protesten beteiligten sich Massen über alle ethnischen Grenzen hinweg: Serben, Kroaten und bosnische Muslime. Neu ist, dass auch Städte wie Banja Luka und Prijedor in der serbischen Republik (Sprksa) erfasst sind. Inzwischen sind die Kantonsregegierungen von Zenica, Tuzla und Sarajevo zurückgetreten. Die Proteste haben eine offene politische Krise ausgelöst.
Organisiert wird der Protest der Arbeiter in Tuzla und im Rest des Landes von verschiedenen Gewerkschaften, linken Studenten und Akademikern. Angeschlossen haben sich in einigen Städten auch Veteranenverbände und Fußball-Fanclubs. Die Arbeiter von Tuzla waren es auch, die am Sonntag die Bevölkerung mit Besen „bewaffneten“, um gemeinsam mit den Müllwerkern die Stadt aufzuräumen.
Aufgrund des Krieges und der Arbeitsmigration Tausender Bosnier werden die Proteste in vielen Ländern verfolgt und unterstützt. Am 8. Februar versammelten sich Bosnier vor der Botschaft des Landes in Berlin-Pankow. Und am 9. Februar probte ein von österreichischen Exjugoslawen gegründeter Chor öffentlich Revolutionslieder vor der bosnischen Botschaft in Wien.
Die Bewegung entwickelt sich vor dem Hintergrund eines fast 20jährigen imperialistischen Diktats seit dem Daytoner Abkommen von 1995. Es wurde unter Führung des BRD- und des US-Imperialismus ausgehandelt. Dazu hat sich die Lage der Massen mit dem Ausbruch der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008 erheblich verschlechtert. Die offizielle Arbeitslosenrate in Bosnien liegt bei 27 Prozent, aber etwa 44 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind ohne Job. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 58 Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung lebt knapp über oder unter der Armutsgrenze. In den Protesten überwinden die Menschen die Kriegswunden und Spaltung und schließen sich gegen „die da oben“ und die „wilden Kapitalisten“ zusammen. „Wahlen verändern gar nichts“, so ein Demonstrant. „Leider sind Proteste das einzige, was hilft und ich fürchte, dass sie noch radikaler werden müssen, damit unsere Politiker zurücktreten.“ Das ist von großer Bedeutung, weil die Massen mit einem bürgerlichen
Nationalismus und zersetzender kleinbürgerlich-nationalistischer Denkweise fertig werden müssen.
Imperialistisches Wirtschaftsdiktat mit militärischen „Friedenstruppen“?
Die Sozialdemokratische Partei in Sarajewo und der bosnische Vertreter des dreiköpfigen Staatspräsidiums und Chef der Muslim-Partei SDA forderten möglichst baldige Neuwahlen zur Befriedung der Massen. Der EU-Beauftragte, der Österreicher Valentin Inzko zieht aus der aktuellen Entwicklung den reaktionären Schluss: „Österreich wird seine Truppen in Bosnien aufstocken. Wenn die Lage eskaliert, werden wir eventuell an EU-Truppen denken müssen.” (www.suedkurier.de) Das zeigt ihre Angst, dass sich die Proteste schon bald gegen den imperialistischen Einfluss der EU-Länder richten könnten und klar wird, wer die eigentlichen Verursacher von Massenarmut und Arbeitslosigkeit sind.
Umso wichtiger, dass sich die Organisation der Proteste festigt und die riesengroße Empörung und Wut eine revolutionäre Perspektive bekommt. Dazu muss der Verrat am Sozialismus durch die Tito-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg verarbeitet werden. Das erfordert Aufbau und Stärkung einer marxistisch-leninistischen Partei in Bosnien-Herzegowina.
Die Partija Rada (Partei der Arbeit aus Jugoslawien), Mitglied der ICOR (Internationale Koordination Revolutionärer Parteien und Organisationen), schreibt auf ihrer Homepage: „In den Menschen ist ein proletarisches Klassenbewusstsein geweckt worden, das Bewusstsein, dass die Unterteilung in Unterdrückte und Unterdrücker, in Proletarier und Kapitalisten, wichtiger ist als in Nationen.“