Lenin
Das Massaker an der Zarenfamilie – ein antikommunistisches Gräuelmärchen
Sie gehört zu den Totschlagargumenten antikommunistischer Historiker und bürgerlicher Politiker gegen den Marxismus-Leninismus: Die grausame Geschichte von der angeblichen Ermordung der russischen Zarenfamilie während eines blutigen Massakers durch Mitglieder der sowjetrussischen Roten Armee und der sowjetrussischen Staatssicherheitsorganisation Tscheka.1
Von Guido Knopp bis hin zum Geschichtsunterricht in der Schule wird dieses Gräuelmärchen seit Jahrzehnten bis zur heutigen Zeit als unantastbare Tatsache behandelt. Dabei gibt es seriöse Quellen, die die heute verbreitete Version in großen Teilen als zusammengezimmerte Erfindung enttarnen.
Das zaristische Russland war das absolute Armenhaus Europas. Die Hinrichtung des Zaren am 16. Juli 1918 war ein Akt der Revolution, der sich gegen einen der grausamsten, rückständigsten und am meisten verhassten Herrscher der damaligen Zeit richtete. Verhungern war vor allem in den ländlichen Gebieten eine traurige Dauererscheinung, während der Zar in unvorstellbarem Reichtum und in Dekadenz lebte und jeden Widerstand brutal verfolgte. Als Strafen für „Aufrührer“ waren Festungshaft, Verbannungen nach Sibirien oder Hinrichtungen an der Tagesordnung. Die Analphabetenrate war schwindelerregend hoch. Die Hinrichtung des Zaren richtete sich gegen den Hauptverantwortlichen für millionenfaches Leid im damaligen Russischen Reich.
Lenin
Lenin war der anerkannte Führer der ersten erfolgreichen proletarischen Revolution: der russischen Oktoberrevolution. Mehr Infos auf der Themenseite zu Lenin auf www.mlpd.de.
Doch was ist nach der Oktoberrevolution mit der Zarenfamilie wirklich passiert? Zwei Journalisten des staatlichen britischen Rundfunksenders BBC, Antony Summers und Tom Mangold, sind der Sache vor 37 Jahren nachgegangen. Sie haben erstaunliche Ergebnisse zu Tage gefördert, die damals weltweit für ein großes Medienecho gesorgt haben. In ihrem Buch „Der Zarenmord – Das Ende der Romanows“ von 1976 stehen Fakten, die die heutige Lehrmeinung des Antikommunismus, die komplette Zarenfamilie sei von den Bolschewiki ohne Aburteilung in einem großen Blutbad hingemetzelt worden, glatt Lügen strafen. Heute wird dieses Buch totgeschwiegen. Es ist nur noch antiquarisch erhältlich und hat in Deutschland nach 1976 keine weitere Auflage erfahren. Stattdessen finden sich in den Buchgeschäften und im Internet immer neue Sachbücher und Artikel, mit denen die Massaker-Geschichte belegt wird. Ein Gemetzel, das es nach den beiden BBC-Journalisten nie gegeben hat.
Dabei stehen Mangold und Summers bestimmt nicht im Verdacht, Sympathisanten revolutionärer oder fortschrittlicher Ideen zu sein.2 Trotzdem recherchieren sie sachlich gut und bringen den Verantwortlichen für die Massakergeschichte ans Licht: Den fanatischen Antikommunisten und Staatsanwalt der „weißen“ russischen Konterrevolution, Nikolai Sokolow. Dieser war nach der Einnahme Jekaterinburgs durch „weiße“ Truppen und dem vorübergehenden Abzug der Roten Armee aus dem Gebiet von seinem Vorgesetzten General Dieterichs eingesetzt worden, das Verschwinden der Zarenfamilie zu klären. Mit gutem Grund.
Dazu Summers und Mangold: „Es lag klar im Interesse der ,Weißen‘, zu behaupten, daß die gesamte Familie im Haus Ipatjew getötet worden war. Als Propaganda diente das dem doppelten Zweck, die Bolschewiki als verderbte Mörder von hilflosen Frauen und Kindern zu entlarven und gleichzeitig die Romanows in den Rang von Märtyrern zu erheben.“3
Was dann folgte, war ein Akt grober Geschichtsfälschung, in dem Gerüchte und unter Folter erzwungene Geständnisse einfach zu Tatsachen erklärt wurden. So wurde von Sokolow das ehemalige Mitglied der Außenwache des besagten Hauses, Pawel Medwedew, präsentiert, der erklärte, er selber habe den Mord an der Zarenfamilie im Keller des Ipatjew-Hauses mit angesehen. Allerdings konnte nicht viel mehr von diesem Zeugen erfahren werden, denn der Bericht war, wie Summers und Mangold aufgrund von entsprechenden Bemerkungen der damaligen „Verhörspezialisten“ annehmen, unter so massiven Folterungen entstanden, dass Medwedew dabei verstarb.
In diesem Stil brachte Sokolow seine „Untersuchung“ schließlich zu Ende: Aus Einschusslöchern im Kellerraum und dort gefundenen Blutspuren fabulierte er in einem Untersuchungsbericht für die britische Regierung ohne jede weitere Hintergrundinformation Folgendes zusammen: „,Diese Wand war bespritzt mit dem Blut einer der Großfürstinnen‘, und ,nahe bei der beschädigten Wand ist das Blut der Zarin zu sehen‘“.4
Nachdem an der sogenannten „Vier-Brüder“-Mine bei Jekaterinburg noch Schmuckstücke der Zarenfamilie und Knochenteile, die flugs den Romanows zugeschrieben wurden, gefunden wurden, erklärte Sokolow der Welt sein unumstößliches Ergebnis.
Doch hat er dabei peinlichst darauf geachtet, dass alles, was nach seiner These der Hinrichtung der ganzen Familie nicht ins Bild passte, auch keinen Weg in seinen Bericht fand. Und da gab es einiges: Zum Beispiel der Bericht des Dieners des Zaren, Terentji Tschemodurow, den er dem renommierten Reporter der „New York Times“, Carl Akkerman, noch in Jekaterinburg gab. Dieser besagt, dass der Zar am 15. Juli 1918 aus dem Haus in Jekaterinburg gebracht und vor ein Standgericht des regionalen Sowjets gestellt worden war. Dort sei ihm der Prozess gemacht worden, in dessen Folge er zum Tode verurteilt wurde.5
Noch weitere solide Quellen bestätigen diesen Bericht von einem Standgerichtsprozess gegen den ehemaligen Zaren und seine anschließende Hinrichtung. Es ist auch die Version, die die sowjetische Parteizeitung „Prawda“ selbst damals mitteilte.6
Das erklärt das Schicksal des Zaren, aber noch nicht das seiner Frau und der Kinder. Nach den Recherchen der BBC-Journalisten sollten sie gegen in Deutschland inhaftierte Kommunisten ausgetauscht werden. Der Gedanke ist nicht abwegig. Die deutsche Führung unter Kaiser Wilhelm II. wollte den russischen Vetter und dessen Frau – immerhin eine deutsche Prinzessin von Geburt – offensichtlich retten. So wurde der deutsche Botschafter in Russland, Mirbach, in Bewegung gesetzt, um zu verhandeln.
Dazu wurden die ehemalige Zarin und die Töchter laut dem Diener Tschemodurow in Soldatenuniformen verkleidet. Ihre Habseligkeiten wurden an der „Vier-Brüder“-Mine versteckt, wo Sokolow sie auch fand. Dann begann eine Fahrt in abgedunkelten Eisenbahnwaggons nach Perm. Auch für diesen Bericht gibt es unterschiedliche Zeugen, so diverse ehemalige Rotarmisten und den stellvertretenden britischen Konsul Arthur Thomas.
In Perm selber wurden die Zarin und ihre Töchter geheim und getarnt untergebracht, aber auch hier finden sich wieder Augenzeugen, die sie gesehen und identifiziert haben. So unter anderem die Krankenschwester Natalja Wassiljwna Mutnych, deren Bruder zur Wachmannschaft gehörte. Sie sagte aus: „Ich bat ihn, mich mitzunehmen und sie mir zu zeigen. Mein Bruder willigte ein, und wir brachen auf. Es war im September, im Haus der Pension von Beresin gingen wir in den Keller, und ich sah das Zimmer, wo ich bei schlechtem Kerzenlicht die frühere Zarin Alexandra Feodorowna und ihre vier Töchter ausmachen konnte, … ich erkannte sie nur zu gut.“7
Die letzten Spuren der weiblichen Romanows verlieren sich auf den Eisenbahngleisen hinter Perm. Was schlussendlich aus ihnen wurde, ist nicht bekannt. Fakt ist aber, dass der Deal mit dem deutschen Kaiserreich, das wie die russische Monarchie durch eine Revolution der Massen gestürzt wurde, nicht zustande kam.
Fakt ist aber auch, dass die Ergebnisse, welche Summers und Mangold präsentieren, so sehr gegen die Gruselgeschichte der modernen Antikommunisten sprechen, dass diese zunehmend unglaubwürdiger klingt. Auch wenn sie heute mit dem Fund angeblicher Knochen der Zarenfamilie bei der „Vier-Brüder-“Mine in Jekaterinburg garniert wird, wird sie nicht richtiger. Die Geschichte der Auffindung dieser Knochen durch zwei russische Hobby-Detektive im Jahr 1979, die die Schädel der Zarenfamilie aus Angst vor Entdeckung jahrelang unter dem Bett versteckt gehalten haben wollen, klingt reichlich abenteuerlich. Die Labore, die via DNA-Analyse diese Knochen eindeutig den Romanows zugeordnet haben wollen, sind bis auf eines entweder in Russland selbst angesiedelt oder arbeiten für das amerikanische Pentagon. Nicht unbedingt der beste Leumund für unabhängige Untersuchungen.
Bleibt nun noch die Klärung der Frage, ob – abgesehen vom ungewissen Ende des weiblichen Teils der Romanows – die Hinrichtung des Zaren nötig gewesen war. Das junge Sowjetrussland befand sich 1918 in einem gnadenlosen Bürgerkrieg mit der „weißen“ Konterrevolution, die von diversen ausländischen Staaten unterstützt wurde. Fast alle Städte des Landes waren umkämpft. Damit vor allem Sabotageakte, Terroranschläge und die Drangsalierung der Zivilbevölkerung durch Untergrundkämpfer aufhörten, rief die Regierung unter Lenins Vorsitz die „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“, kurz „Tscheka“, ins Leben. Der Kampfgefährte und Vertraute Lenins, Feliks Dzierzynski, wurde ihr erster Vorsitzender und führte die Tscheka im Kampf gegen die Konterrevolution.8
Dazu gehörten in dieser Zeit auch Standgerichtsurteile und Hinrichtungen. Ohne diese harte Linie hätte sich die junge Sowjetmacht nicht halten können. Lenin selbst sah das zwar als nötig an, war aber kein Freund dieser Praktiken. So beschreibt selbst der ehemalige deutsche Kommunist Wolfgang Leonhard, später glühender Antikommunist, dass Lenin bereits 1920, sprich: noch vor dem Ende des Bürgerkriegs, das Vorgehen der Tscheka kritisiert und schließlich die Abschaffung der Todesstrafe gefordert habe.9 Dem entsprach Dzierzynski auch. Im Januar 1920 ordnete er die Abschaffung des Tods durch Erschießen nach Urteilen der Tscheka und ihrer örtlichen Organe an.10
Erst Jahrzehnte später, als die damalige Sowjetunion erneut durch Konterrevolutionäre bedroht wurde, wurde die Todesstrafe wieder eingeführt. In einem Kampf um Leben und Tod des ersten Staats, in dem sich die Arbeiter von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung befreit hatten, gab es keine andere Wahl. Seine Meinung zur Todesstrafe hat Josef Stalin gegenüber Henri Barbusse im Jahr 1934 deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir sind ganz natürlich Anhänger der Abschaffung der Todesstrafe. … Wir würden sie längst abgeschafft haben, wenn es nicht die Welt um uns herum gäbe, die anderen, die imperialistischen Großmächte, sie sind es, die uns zwingen, sie aufrecht zu erhalten, um unsere Existenz zu sichern.“11