Wie aus Deutschland ein Niedriglohnland gemacht wurde

Bundeskanzlerin Merkel klopft sich auf die eigene Schulter: „Seit dem Ende der Regierungszeit von Rot-Grün hat sich die Arbeitslosenquote nahezu halbiert.“ Und wenn sie wieder gewählt wird, dann wird alles noch viel besser: „Vollbeschäftigung“ verspricht ihr Wahlprogramm. Und wie? Mit „Fleiß, neuen Ideen und technischem Fortschritt“ sei das angeblich zu schaffen.

Dem will die SPD nicht nachstehen. Bekanntlich hat ihr Kandidat Steinbrück das „Wir“ und sein soziales Gewissen entdeckt. So verspricht er ebenfalls „Vollbeschäftigung“ und will dazuhin noch einen Mindestlohn von sage und schreibe 8,50 Euro einführen. Das ist übrigens auch die Mindestlohnforderung der Grünen. Wie jemand damit seinen Lebensunterhalt bestreiten oder gar eine Familie ernähren soll, bleibt ihr Rätsel.

Wie alle bürgerlichen Politiker rechnet Steinbrück dabei fest mit der Vergesslichkeit der Massen. Es war nämlich die Schröder/Fischer-Regierung, die eine Debatte um Mindestlöhne überhaupt erst nötig gemacht hat. Ihre „Agenda 2010“ – besser bekannt und entsprechend verhasst unter dem Namen des Ex-VW-Managers Hartz – hat aus Deutschland ein Niedriglohnland gemacht – schneller und rabiater als in den allermeisten anderen europäischen Ländern.

Im reichen Deutschland gibt es mittlerweile den zweitgrößten Niedriglohnsektor in Europa. Nur in Litauen erhalten, gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen, mehr Menschen einen Niedriglohn. Fast jeder Vierte (24,1 Prozent) muss bei uns vom Niedriglohn leben. In keinem anderen Land werden so viele Frauen (32,4 Prozent) mit Niedriglöhnen abgespeist wie bei uns („Deutsche Mittelstands-Nachrichten“ vom 27. 7. 13).

Zwar sanken in Deutschland die offiziellen Arbeitslosenzahlen von 4,86 Millionen im Jahr 2005 auf 2,89 Millionen im Jahr 2012. Doch was verbirgt sich dahinter? Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten stieg bis 2012 auf 12,77 Millionen, davon hatten 6,81 Millionen nur einen Mini- oder Midijob und fielen so aus der Statistik. Auch die, die arbeiten, tun dies mittlerweile für so erbärmliche Löhne, dass sie als „Aufstocker“ Hartz-IV-Leistungen beantragen müssen. Im Oktober 2012 gab es bei den 4,4 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern bereits 30,4 Prozent „Aufstocker“, darunter eine wachsende Zahl trotz Vollzeitjob.
Vollkommen ohne Zutun von Schröder über Fischer bis Merkel und Rößler hat sich die dramatisch veränderte Altersstruktur in Deutschland auf die Arbeitslosenstatistik positiv ausgewirkt. Seit Jahren werden weniger Kinder geboren und kommen als Jugendliche ins erwerbsfähige Alter, als ältere Menschen in Rente gehen.
2012 gingen 829.450 Menschen in Rente, darunter eine wachsende Zahl (178.683) von jüngeren, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente antreten mussten, weil die Ausbeutungsverhältnisse und Gesundheitsbelastungen immer krasser werden. Im gleichen Jahr begannen aber nur noch 551.271 Jugendliche eine betriebliche Ausbildung. Mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs fängt mittlerweile ein Studium an. Im Jahr 2000 gab es bereits 1,79 Millionen Studierende in Deutschland, im Jahr 2011 waren es bereits 2,38 Millionen – und in diesem Jahr dürften es mit dem Doppelabitur noch mal erheblich mehr werden. Die tauchen in keiner Arbeitslosenstatistik auf, auch wenn sie das Studium abbrechen, sich mit irgendwelchen Praktika durchschlagen, nur wenig Aussicht auf dauerhafte Arbeitsverhältnisse haben.

Einige Jahre lang gingen zudem mehr gut ausgebildete junge Leute ins Ausland (darunter nicht wenige Jugendliche aus Migrantenfamilien). Auch wenn dieser Trend sich unter dem Eindruck der Weltwirtschafts- und Finanzkrise zurzeit wieder umkehrt – alle diese Faktoren haben genauso wie die zeitweilige wirtschaftliche Belebung dazu beigetragen, dass die offizielle Arbeitslosigkeit in Deutschland noch niedriger ist als in anderen europäischen Ländern.

Aber auch hier dreht sich der Wind. Von den bürgerlichen Statistiken kaum erfasst, werden in vielen Betrieben Leih- und Zeitarbeiter sang- und klanglos auf die Straße gesetzt. Einige Großkonzerne kündigen massenhafte Arbeitsplatzvernichtung an, Pleiten wie die der Baumarktkette Praktiker sorgen für einen neuen Schub bei der Arbeitslosigkeit.

Die Linkspartei fordert immerhin einen Mindestlohn von zehn Euro und eine Arbeitszeitverkürzung als Mittel gegen die Arbeitslosigkeit. Dem Übel an die Wurzel geht auch sie nicht. Das kann nur eine sozialistische Revolution, die dem System der Ausbeutung der Lohnarbeit den Garaus macht, das seit Bestehen des Kapitalismus auf eine „Reservearmee“ von Arbeitslosen setzt, um den Druck auf die zu steigern, die (noch) Arbeit haben.

Im Sozialismus könnte angesichts des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf alle Arbeitsfähigen so verteilt werden, dass sie nach wenigen Stunden sich anderen – kulturellen oder wissenschaftlichen Tätigkeiten zuwenden könnten.

Die MLPD organisiert den Kampf um Reformen, für einen Mindestlohn von 10 Euro, für ein dauerhaftes existenzsicherndes Arbeitslosengeld für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich usw. deshalb als Schule des Kampfs für eine solche sozialistische Alternative.

Anna Bartholomé