„Wir hoffen, dass sich aus diesen gemeinsamen Protesten kurdischer und türkischer Kräfte der gemeinsame Widerstand verstärken wird“

Interview mit Songül Turhal von „Ceni“, Kurdisches Frauenbüro für Frieden

Wie beurteilt ihr aus der Sicht der kurdischen Frauen die Proteste und Kämpfe in der Türkei? Welche Forderungen erachtet ihr für wichtig?

Auslöser für die andauernden Proteste war der Widerstand einer Gruppe von UmweltaktivistInnen im Gezi-Park in der Nähe des Istanbuler Taksim-Platzes, unter denen sich auch der Parlamentsabgeordnete der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Sirri Süreyya Önder, befand. Am 29. Mai stellten sie sich den Baumaschinen entgegen und verhinderten das Fällen der Bäume des Parks. Dieser Park ist die einzige öffentliche, unbezahlt zugängliche Grünfläche in der Mitte von Istanbul. Kapitalistischen Umstrukturierungsplänen zufolge sollte hier nun ein riesiges Einkaufszentrum errichtet werden. Dieses Projekt war 2011 vom Istanbuler Stadtrat– unter anderem mit den Stimmen der CHP (Republikanische Volkspartei – Anm. d. Red.) – genehmigt worden, ohne dass die Bevölkerung und ihre Bedürfnisse einbezogen worden waren.

Der direkte Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen die Zerstörung ihres Lebensumfelds, der trotz brutaler Polizeiangriffe und massivem Einsatz von Tränengas nicht zurückgeschlagen werden konnte und sich weiter auf andere Städte in der Türkei und Nordkurdistan ausbreitete, ist ein wichtiger Ausdruck des Protestes gegen die antidemokratische, neoliberale Politik der AKP-Regierung. Obwohl durch die Regierung zunächst die Situation eskalierte, sah sie sich nach drei Tagen des wachsenden Widerstands gezwungen, die Polizeikräfte vom Taksim-Platz zurückzuziehen.

Auch wenn mittlerweile die faschistische MHP und nationalistische Kreise der CHP heuchlerisch versuchen, die demokratischen Proteste für ihre nationalistische Propaganda zu vereinnahmen, so sind zum ersten Mal die antidemokratische, autoritäre Haltung der AKP-Regierung und ihre Menschenrechtsverletzungen auch international kritisiert worden. Wir hoffen, dass sich aus diesen gemeinsamen Protesten kurdischer und türkischer demokratischer Kräfte heraus die Empathie füreinander und der gemeinsame Widerstand gegen jede Form des Unrechts und für einen nachhaltigen Friedensprozess verstärken werden.

Hat sich seit dem Friedensprozess das Verhältnis zwischen der kurdischen und türkischen Bevölkerung verbessert?

Der eigentliche Widerspruch hat nie im Verhältnis zwischen der kurdischen und türkischen Bevölkerung bestanden. Es gibt eine lange Tradition des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zwischen den Völkern und Kulturen im Mittleren Osten. Das Problem ist die chauvinistische, nationalistische Ausrichtung des türkischen Staates, der die Existenz der kurdischen Bevölkerung, ihrer Kultur und Identität systematisch verleugnet hat. Genau so wurden und werden alle anderen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Gruppen, die nicht türkisch-sunnitisch-islamisch sind bzw. sich nicht als solche ausgeben, immer noch diskriminiert.

Die offizielle Bekanntgabe des Dialogs der türkischen Regierung mit dem Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Abdullah Öcalan, und die Newroz-Botschaft von Öcalan waren insofern wichtig, als dass der türkische Staat nun eine Reihe seiner rassistischen Tabus brechen musste. Als ein wichtiger Bestandteil des noch sehr instabilen Friedensprozesses können die Arbeiten der Kommission der „Weisen“ bewertet werden. Auch wenn es Unzulänglichkeiten bei der Zusammensetzung dieses Gremiums gibt, so haben die Kommissionsmitglieder in allen Regionen der Türkei und Nordkurdistans mit verschiedenen Teilen der Bevölkerung in Dialog treten können. Hierbei ist deutlich geworden, dass die kurdische Bevölkerung vollständig hinter einem Friedens- und Demokratisierungsprozess in der Türkei steht und in diesem Rahmen ihre legitimen Rechte in Anspruch nehmen möchte. Auch die assyrische und armenische Bevölkerung unterstützen diesen Prozess. Demgegenüber ist die türkische Bevölkerung in zwei Lager polarisiert.
Das hat sich auch an Übergriffen von Faschisten auf Mitglieder des „Rates der Weisen“ in einigen türkischen Städten gezeigt. Sie beharren auf der rassistischen Theorie von der Überlegenheit des Türkentums. Andererseits haben sich auch die Stimmen demokratischer Kräfte gemehrt, die die Notwendigkeit sehen, die Verleugnung und Diskriminierung gegenüber der kurdischen Bevölkerung endlich zu beenden und Kriegsverbrechen des Staates aufzuarbeiten. Sie sehen die Notwendigkeit eines demokratischen Neuanfangs und eines neuen pluralistischen Selbstverständnisses, das in einer neuen, demokratischen Verfassung in der Türkei verankert werden muss.

Vielen Dank für das Interview!