„Portugal war auf der Straße“

Ein Zehntel der Bevölkerung von Portugal war bei den Großdemonstrationen am 15. September

Porto (Korrespondenz): „BASTA! – „Schluss“, das hatte man schon öfter in in den letzten Monaten in Portugal auf Demonstrationen vernehmen können. Seit den Riesen-Demos am 15. September kommt noch ein Wörtchen hinzu: „FORA!“ –und das heißt: „RAUS!“ „RAUS!“, das gilt für die Troika aus IWF, EU und Europäischer Zentralbank mitsamt der ganzen portugiesischen Koalitionsregierung von Passos Coelho (PSD) und Paulo Portas (CDS) und ihrem  Memorandum.
Das Memorandum ist ein Pakt, den das allein herrschende Finanzkapital der ultrarechten portugiesischen Regierung  im Juni 2011 diktiert hat – ähnlich wie in Griechenland. Die Palette der diktierten Maßnahmen reicht von der brutalen Erhöhung der Massensteuern bis hin zur Privatisierung aller wichtigen staatlichen Betriebe und profitbringenden Einrichtungen.
Jeder Schritt ist von der Troika bestimmt und wird von der Regierung bis ins Kleinste geregelt. Inzwischen hat die Ruinierung der bisherigen Lebensweise der Massen ernste Formen angenommen. Davon sind besonders die Jüngeren betroffen. Die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen lag zu Beginn des Jahres schon bei über 36 Prozent. Sie sind ohne Zukunft.
Einen unter Jugendlichen bekannten Song „Ich will meinen ersten Kuss“, hatte ein Mädchen auf der Demo auf ein Plakat geschrieben. Dabei war „Kuss“ durchgestrichen und durch „Arbeitsvertrag“ ersetzt.
Nur ein Teil der Lehrer ist fest beschäftigt. Die anderen müssen sich jedes Jahr neu für eine Stelle bewerben. Dieses Jahr kandidierten 51.000 Lehrer. 43.000 wurden nicht angenommen. 15.000 von ihnen   konnten sich arbeitslos melden. Ob Jugendlicher oder Lehrer – die Regierung empfiehlt allen als Lösung die Auswanderung. Dies ist die Stuation, in der die Leute zu Recht sagen: „Zum Teufel mit der Troika – wir wollen unser Leben!“ Das war die Hauptlosung der Volksbewegung.
Im März dieses Jahres gab es einen wichtigen Kampferfolg. Die Regierung hatte eine zwangsweise Verlängerung der Arbeitswoche um unbezahlte 2,5 Stunden im öffentlichen Dienst beschlossen und den Unternehmern empfohlen, das ebenfalls einzuführen. Mit einem Generalstreik wurde das verhindert. Erstmals hatte sich die kleinbürgerlich geprägte Bewegung der „Indignados“ („Empörte“) mit diesem Kampf der Arbeiter  solidarisiert. Daraufhin war ihr Demonstrationszug von Sondereinheiten der Polizei zusammengeschlagen worden. Das sorgte landesweit für Empörung und brachte einander näher.
Als nun diese „Indignados“ für den 15. September in ganz Portugal zum Protest gegen Troika und Regierung aufriefen, gingen sie selber und die Medien von einer zu erwartenden Teilnehmerzahl von 50.000 bis 80.000 Menschen aus. Zur Überraschung aller Seiten waren es dann in Lissabon 500.000, in Porto 100.000, insgesamt im Land über eine Million Teilnehmer. Portugal war auf der Straße – das kann man so sagen. Eine Million ist ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Auch die Polizei schien sichtlich überrascht. Trotz in Entfernung bereitgestellter Einsatzkräfte hielt sie diese zurück und beschränkte sich auf den Einsatz von Drohnen, die über den Köpfen der Demonstranten herumschwirrten.
Das Wichtigste an dieser Massenbewegung ist jedoch nicht ihre ungewöhnliche Größe. Die Beteiligung ging weit über den bisherigen Indignados-Rahmen hinaus. Diese Manifestation hatte Züge einer breiten Volksbewegung und wurde von unten organisiert. Die Beteiligung ging durch alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten. Sie war nicht mehr wie noch bei den Demonstrationen der Indignados hauptsächlich kleinbürgerlich-intellektuell geprägt. Es sieht so aus, als ob ein Umschwung im Gange ist. Das kommt auch bei den Schildern zum Ausdruck. Es war so gut wie kein gedrucktes oder sonstwie kommerziell gefertigtes Transparent oder Plakat dabei wie sonst bei den CGTP- oder PCP-Demos. Alles persönliche Einzelinitiativen, zum Teil von größeren Gruppen. Einfachste Pappen so von Gemüsekartons, mit Filzer beschrieben. Eine Frau hatte hinter ihre Anti-Troika-Parole dazugeschrieben: „Ich habe auf der Straße Geld gesammelt, um dieses Plakat malen zu können“.
Andere zum Memorandum: „Die haben einen Agressionspakt – wir haben den Kampf!“ Einer sagt: „Troika-estou aqui!“ („Hier bin ich, Troika!“) Das sind ganz neue Töne. „Privatizem as gaivotas!“ („Sollen sie doch die Möven privatisieren!“) Das spielt auf ein tief verankertes Volkslied an, in dem die Möven die nicht zu unterdrückende Freiheit symbolisieren. Ein ganz portugiesischer Traum. Auch aus Spanien waren welche da mit „Iberia unida!“ („Einig Iberien!“) „O povo unido jamais sera vencido!“ („Das einige Volk wird niemals besiegt werden!“)
Alle fordern sie mehr oder weniger scharf den Rücktritt der Regierung, und zwar als „limpeza a fundo“, d.h. „Saubermachen von Grund auf“. Der Unmut, lange aufgestaut, bricht sich Bahn. Am offenen Mikrofon kann er sich äußern und organisierend wirken. Am Schluss fingen welche an, „Grandola“ zu singen. Abertausende fielen ein. Da bekommt man Gänsehaut …