Bemerkenswertes Buch über Stalin aus Italien
Der 1941 geborene Philosophieprofessor Domenico Losurdo, der heute an der Universität Urbino lehrt, war seit den 1960er Jahren bis zu ihrer Auflösung 1991 Mitglied der KPI, schloss sich danach zunächst der Partei der „Kommunistischen Neugründung” an und ist heute parteilos. 2008 veröffentlichte er in Rom das jetzt in deutscher Ausgabe erschienene Buch „Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende“.
Bemerkenswert an diesem Werk ist zweierlei:
• Losurdo nimmt die gegen Stalin gerichtete Geheimrede Chruschtschows vom XX. Parteitag gründlich auseinander und kommt zu dem Ergebnis: „Die zunächst von Trotzki und später von Chruschtschow gelieferte karikaturistische Darstellung Stalins genießt im Ganzen keinen guten Ruf mehr. Aus den Forschungen bedeutender Historiker, die nicht der Nachsicht mit dem ‚Personenkult‘ verdächtigt werden können, geht heute das Bild Stalins als eines Politikers hervor, der aufsteigt und sich an der Spitze der UdSSR durchsetzt, weil er ‚all seine Mitstreiter um ein Vielfaches überragte‘, was die Einsicht in das Funktionieren des sowjetischen Systems betraf, ein Führer von ‚außergewöhnlichem politischen Talent‘ und ‚enorm begabt‘; ein Staatsmann, der die russische Nation vor der Dezimierung und Versklavung rettete, zu der das Dritte Reich sie bestimmt hatte, und das nicht nur dank seiner umsichtigen militärischen Strategie, sondern auch dank seiner ‚meisterhaften‘ Kriegsreden, manchmal wirkliche ‚Bravourstücke‘, die es in tragischen und entscheidenden Augenblicken fertig brachten, den nationalen Widerstand anzuspornen; eine Persönlichkeit, der es auch auf theoretischer Ebene nicht an Begabung fehlte, wie es u. a. der ‚Scharfsinn‘, mit der er die nationale Frage in der Abhandlung von 1913 behandelt, und die ‚positive Wirkung‘ seines ‚Beitrags‘ über die Linguistik bewiesen.“ (S. 352–353)
• Dies alles bringt Losurdo zu Papier, ohne auch nur mit einem Wort auf die Kritik an der revisionistischen Entartung der früheren Kommunistische Partei Italiens (KPI) einzugehen. Sie war nach dem II. Weltkrieg die mitgliederstärkste kommunistische Partei der europäischen kapitalistischen Länder. Ausdruck der Angst der Herrschenden vor ihrer Kampfkraft war ein Mordanschlag auf ihren Vorsitzenden Palmiro Togliatti im Jahr 1948, den dieser nur knapp überlebte. Stalin schrieb damals an das Zentralkomitee der KPI: „Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) ist empört über das verbrecherische Attentat von verabscheuungswürdigen Elementen auf das Leben des Führers der Arbeiterklasse und aller Werktätigen Italiens, unseres lieben Genossen Togliatti.“ (Stalin, Werke, Bd. 15, S. 135) Anlässlich der Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstags betonte Togliatti am 26. März 1953: „Ich hatte das Glück … in der Schule der Oktoberrevolution unter der direkten Leitung Stalins zu leben. Ohne das hätte ich nicht die Aufgabe erfüllen können, die ich erfüllt habe.“ (Marcella u. Maurizio Ferrara – „Palmiro Togliatti“, Berlin 1956, S. 278)
Derselbe Togliatti war jedoch skrupellos genug, drei Jahre später die Verleumdungen, die Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU gegen Stalin von sich gab, aufzugreifen und die damit einhergehende Revision des Marxismus-Leninismus zu übernehmen. Er führte anschließend die KPI in den Sumpf des Opportunismus, der Jahre nach seinem Tod schließlich in ihrer Selbstauflösung endete. Zuvor hatte 1979 das theoretische Organ der MLPD die Politik der KPI als „abschreckendes Beispiel“ dargestellt, „weil dieser Opportunismus von anderen revisionistischen Parteien kaum noch übertroffen werden kann und darauf hinweist, wie sich Opportunisten weiterentwickeln müssen.“ (REVOLUTIONÄRER WEG 19/1979, S. 286)
Indem er mit keiner einzigen Silbe auf den modernen Revisionismus eingeht, der die heutigen ungeheuerlichen Angriffe auf Stalin erst ermöglichte, umgeht Losurdo die Kernfrage, dass nämlich mit der Verdammung Stalins und der damit einhergehenden Revision des Marxismus-Leninismus 1956 die Wiederherstellung des Kapitalismus in der Sowjetunion einsetzte. Weltweit führte das in den 1960er Jahren zur Neugründung revolutionärer Parteien und Organisationen, die sich vom revisionistischen Verrat absetzten, unter anderem der MLPD bzw. ihrer Vorläuferorganisationen in Deutschland. Weil Losurdo dies ignoriert, ist sein Buch auch kompatibel für die heutigen Reste der modernen Revisionisten und wurde folgerichtig in der DKP-Zeitung „UZ“ von deren einstigem Chefideologen Robert Steigerwald lobend besprochen.
Nichtsdestoweniger lohnt die Lektüre, weil Losurdo trotz aller inhaltlicher Verwirrung zahlreiche Stimmen und Fakten aufführt, die auch für eine Beurteilung Stalins vom revolutionären Standpunkt aus wertvoll sind.