Ludwig Erhards Erbin
Buchkritik zu Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus
„Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft“ lautet der Untertitel der erweiterten Neuherausgabe des 2011 erstmals erschienen Buchs, das zurzeit mit großem Medienrummel unter die Leute gebracht wird. Kaum eine große bürgerliche Zeitung, die nicht ganzseitige Interviews mit der Autorin bringt, kaum eine Talkshow, die auf eine Einladung verzichtet.
Immerhin galt Sahra Wagenknecht eine ganze Weile als linkes Aushängeschild der Linkspartei. Sprecherin von deren Kommunistischer Plattform war sie, bis sie zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wurde. Nun präsentiert sie sich als gründlich weichgespülte Reformistin.
Durchaus fakten- und wortreich schildert sie die katastrophalen Folgen der Eurokrise, führt die immensen Summen zur Bankenrettung auf und beklagt, wie sich internationale Großkonzerne und Banken „Märkte und Politik unterwerfen“, wobei „Freiheit und Menschenwürde auf der Strecke bleiben“. „Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden“, schreibt sie im Vorwort und fordert eine „Debatte darüber, wie wir eine Zukunft jenseits des Kapitalismus gestalten können.“
Soweit so gut – dem werden viele zustimmen können. Was sie dann aber anbietet, darüber wird sich auch mancher Anhänger der Linkspartei die Augen reiben.
Rezepte zur Kapitalismusrettung
Sie fordert nichts als ein Zurück zu einem angeblich „besser regulierten Kapitalismus“, wie ihn „faire Marktwirtschaftler“ schon lange gefordert hätten. Dazu will sie vor allem eine Verstaatlichung von Banken und Versicherungen, die fortan auf ein „gemeinnütziges Geschäftsmodell verpflichtet werden (müssen). Dazu gehört die Abwicklung bzw. Veräußerung aller Zockerabteilungen und ein grundsätzliches Verbot von Spekulationsgeschäften.“ (S. 286)
Spekulation aber gehört heute zum Kapitalismus wie das Amen in die Kirche – in Zeiten der Neuorganisation der internationalen Produktion und der überbordendenden Überakkumulation des Kapitals ist sie zu einer Gesetzmäßigkeit geworden. Wer soll das verbieten?
Ungerührt fährt Sahra Wagenknecht fort: „Der Finanzsektor muss radikal schrumpfen, um seine eigentliche Aufgabe als Diener der Realwirtschaft wieder wahrnehmen zu können.“
Mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus entstand aus der Verschmelzung von Banken und Industriekapital ein internationales Finanzkapital, das heute mit den etwa 500 größten internationalen Übermonopolen seine Alleinherrschaft über die Welt errichtet hat.
Das schreckt Frau Wagenknecht nicht weiter – sie will auch Übermonopole verstaatlichen, schrumpfen lassen und „aufs Gemeinwohl verpflichten“.
Als Garanten solcher Schrumpfkuren hat die Autorin sich den Staatsapparat auserkoren, der dazu natürlich vollkommen klassenneutral sein muss. Zwar hatten schon Marx und Engels (auf die sich Sahra Wagenknecht hier und da immer noch beruft) festgestellt, dass jeder Staat „ausnahmslos der Staat der herrschenden Klasse ist und in allen Fällen wesentlich Maschine zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse bleibt.“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 21, S. 171) Zwar haben wir es heute damit zu tun, dass das Monopolkapital sich den Staat vollkommen untergeordnet hat und seine Organe mit den Organen des Staatsapparats unauflöslich verschmolzen sind. Zwar betätigen sich die Regierungen der kapitalistischen Staaten als willfährige Dienstleister des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern auch bei der Unterdrückung jeder Bewegung, die diesen Machtanspruch revolutionär infrage stellt.
Ganz ohne Klassenkampf oder gar Revolution
All das ist kein Problem für Sahra Wagenknecht. Ihr „kreativer Sozialismus“, kommt ganz ohne Klassenkampf und Revolution zustande.
Der eingängige Titel „Freiheit statt Kapitalismus“ verzichtet deshalb auch wohlweislich auf die Frage, wessen Freiheit denn gemeint ist. Sie bleibt beim Nachweis stehen, dass der Kapitalismus Demokratie und Freiheitsrechte für die breiten Massen immer mehr abwürgt. Aber der Sozialismus – wenn er echt sein soll – wird nicht für alle und jeden Freiheit bringen. Er wird die Freiheit des internationalen Finanzkapitals und seiner Nutznießer radikal kappen, die Erde, ihre Rohstoffe und die Menschen auszuplündern. Er wird die Freiheit von imperialistischen Regimes, Kriege anzuzetteln, beenden. Solche Freiheitsberaubung schreibt sich die internationale Revolution auf die Fahne, von deren Erfolg die Befreiung der überwältigenden Mehrheit der Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung abhängt.
Aber so böse Worte wie Klassenkampf oder Revolution tauchen in dem immerhin 406 Seiten langen Buch überhaupt nicht auf. Sahra Wagenknecht will allein durch „vernünftige Argumente“ überzeugen. Ganz besonders die nichtmonopolisierte Bourgeoisie liegt ihr am Herzen. Sie verspricht, ihr „kreatives, leistungsbewusstes Unternehmertum“ schützen zu wollen und beruhigt, dass sie bis zu einer Million Euro auf jeden Fall steuerfrei erben können …
Dazu macht die angehende Doktorin der Volkswirtschaft jetzt auch Lesereisen nach Sylt, denn sie diskutiert auch „gerne mit Reichen und Schönen“ („Süddeutsche Zeitung“ vom 3. 9. 2012).
Ruf nach der guten alten Zeit
Als stärksten Bündnispartner hat sie dabei Ludwig Erhard entdeckt. Der Zigarre rauchende Dicke war einmal unter dem Schlagwort des „Wohlstands für alle“ Symbolfigur des sogenannten „Wirtschaftswunders“ in Westdeutschland geworden. Dahin will Sahra Wagenknecht zurück. „Erhard reloaded“, wie das neudeutsch bei ihr heißt. „Es geht darum, den Wohlstand der ganzen Gesellschaft auf eine neue breitere und bessere Grundlage zu stellen. Es geht darum, Ludwig Erhards Versprechen endlich umzusetzen.“ (S. 387)
Tatsächlich gab es zu Erhards Zeiten als CDU-Wirtschaftsminister von 1949 bis 1963 einen lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung. Grundlage war die weltweite Nachfrage als Folge der Kriegszerstörungen, Hochmechanisierung und Automation, aber auch die Förderung Westdeutschlands durch die USA als „Frontstaat“ gegenüber der damals noch sozialistischen Sowjetunion und der DDR.
Erhard und Co. konnten eine Reihe von Reformen von oben gewähren, Löhne und Lebenshaltung der breiten Massen verbesserten sich. Aber diese Wohltaten waren nicht christlicher Nächstenliebe geschuldet. Erhard war selber glühender Antikommunist, den Sozialismus hielt er für eine „Missgeburt“, das KPD-Verbot war für ihn selbstverständlich, Streiks erklärte er für so überflüssig „wie einen Kropf“.
Die von ihm erfundene „soziale Marktwirtschaft“ sollte gerade dazu dienen, eine revolutionäre Entwicklung zu blockieren. Unter seiner Kanzlerschaft ab 1964 wurden unter anderem die Notstandgesetze angestoßen, die schließlich 1968 von einer großen Koalition von SPD und CDU/CSU gegen heftigsten Widerstand durchgeboxt wurden. Er glaubte also nicht an die ewige Stabilität seines kapitalistischen Wirtschaftswunderlandes! Nachzulesen ist das in seinem berühmten Buch „Wohlstand für alle“.
Aber solche „Schönheitsfehler“ kann Wagenknecht bei Ludwig Erhard nicht entdecken.
So könnte ihr Buch auch unter dem Motto stehen „früher war alles besser“. Das behaupten Altvordere zwar schon immer – zur Lösung von Zukunftsaufgaben hat das noch nie getaugt.