„Wir müssen auf jeden Fall gemeinsam weitermachen“
Interview mit dem ehemaligen Staatsanwalt und Richter a. D. Dieter Reicherter
In der letzten Ausgabe der „Roten Fahne“ berichteten wir über die Erlebnisse von Dieter Reicherter in der Auseinandersetzung um das Milliarden-Investitionsprojekt „Stuttgart 21“. Er war als Unbeteiligter in den brutalen Polizeieinsatz des „Schwarzen Donnerstag“ am 30. 9. 2010 geraten und engagiert sich seither intensiv für die Aufklärung der damaligen Vorgänge. Am 27. Juni wurde in seiner Abwesenheit sein Haus durchsucht. Der Anlass: Reicherter hatte den „Rahmenbefehl 2“ des Landespolizeipräsidiums zur Erstellung eines „Gesamtgefährdungslagebilds“ zu „S 21“, d. h. zur Bespitzelung des Widerstands, veröffentlicht. Wir fragten den ehemaligen Staatsanwalt und Richter, wie er seine Erfahrungen verarbeitet hat.
Was hat sich durch die Erlebnisse am 30. 9. an Ihrer Einstellung zum Staat geändert?
Ich hätte mir nie vorstellen können, dass der Staat gegen friedliche Bürger so vorgeht, und vor allem, wie hinterher alles verdreht und vertuscht wird. Mein Grundvertrauen in den Staat ist weg, es bleibt ein Misstrauen in den Staat und seine Organe. Ich dachte, der Staat einschließlich Verfassungsschutz hält sich an seine eigenen Gesetze, aber das ist keine Selbstverständlichkeit.
Welche Erfahrungen haben Sie nach dem 30. 9. mit Staatsanwaltschaft und Polizei gemacht?
Die Staatsanwaltschaft ermittelt einseitig. Anzeigen von Geschädigten des 30. 9. wurden nicht verfolgt. Meine Anzeige gegen Mappus wegen der Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss wurde eingestellt, die Beschwerde verworfen. Ebenso die Anzeige der Juristen gegen die Bahn wegen Betrugs bei den Kosten von „S 21“. Dagegen werden die Gegner verfolgt, wenn sich nur irgendein kleinster Zipfel eines Vorwurfs ergibt. Die Gerichte können auch die geringfügigsten Verfahren nicht einstellen, weil die Staatsanwaltschaft nicht zustimmt. Die Polizei hat sich bei meinem Antrag auf Akteneinsicht wegen des Wasserwerferbeschusses kooperativ verhalten und mir Videosequenzen aus dem Wasserwerfer gezeigt mit erschreckenden Szenen. Aber da habe ich eine Sonderbehandlung erfahren, anderen Geschädigten wurde dies nicht gewährt.
Worin sehen Sie die Ursache für die Überwachung und Bespitzelung der „S21“-Gegner? Warum ignoriert die grün-rote Regierung die Forderungen des Bürgertribunals?
Das kann ich nur so verstehen: Der Rahmenbefehl (zur Bespitzelung) kam kurz nach dem Volksentscheid. Aus Sicht der Polizei und auch von Kretschmann musste alles, was nach dem Volksentscheid noch gegen „S 21“ war, bekämpft werden. Nur ein „radikaler Kern“ sei noch übrig, der sich möglicherweise radikalisiert und überwacht werden muss. Es wird ja schon als Beleidigung der Herrschenden gesehen, wenn man weiter „S 21“ kritisiert. Die Forderungen des Bürgertribunals passen Kretschmann nicht in den Kram, für ihn ist der 30. 9. politisch abgeschlossen, egal ob etwas aufgeklärt ist. Im Polizeiapparat hat sich nichts geändert.
Ihr Haus wurde in Ihrer Abwesenheit durchsucht. Was war der Grund und wie kommen Sie damit zurecht?
Der Grund war, die undichte Stelle zu finden, von der ich die Info über den Bespitzelungsbefehl hatte. Aber das war eher ein Vorwand. Die Staatsanwaltschaft wollte meine vertraulichen Unterlagen und Informationen ausspionieren. Dazu hatte sie meine Computer beschlagnahmt. Auch private Unterlagen meiner kurz zuvor verstorbenen Mutter wurden durchsucht. Ich mache mir Gedanken, was da während der zweistündigen Durchsuchung, wo keine Vertrauensperson anwesend war, passiert ist. Ich weiß nicht, ob sich die im Rahmenbefehl angeordnete Bespitzelung auch gegen mich richtet. Über private Dinge kann ich daher weder zu Hause noch im Auto sprechen. Das Ganze wird nur durch die breite Medienöffentlichkeit aufgewogen.
Bei der kurzen Rede letzte Woche auf der Montagsdemo sagten Sie, dass Sie sich nicht einschüchtern lassen und weiter kämpfen wollen. Was denken Sie, wie der weitere Widerstand aussehen muss?
Der Widerstand muss weiter sachlich und gewaltfrei weitergehen, die Interessen, die hinter „S 21“ stehen, aufgedeckt werden. Sicher kommen wir mit Argumenten bei den Verantwortlichen und Politikern nicht weiter. Auch Wahlen ändern nichts mehr. Wir dürfen uns nicht verzetteln und müssen auf jeden Fall gemeinsam weitermachen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!